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Große Hoffnungen und große Herausforderungen

Es waren Wahlen, wie Brasilien sie seit Langem nicht mehr erlebt hat - jenes Land, das sich jeder Beurteilung entzieht  aufgrund seiner unerschöpflichen Fähigkeit zu verblüffen. Entgegen der herrschenden und von den Medien sorgsam gepflegten Meinung von einer angeblichen Ernüchterung gegenüber „der Politik“ und „den Politikern“ hat die brasilianische Gesellschaft ihre Kraft unter Beweis gestellt, sich auf einen hoch emotionalen Wahlprozesses einzulassen. Hierbei ging es um zwei deutlich unterschiedliche Wege für die Zukunft Brasiliens. Eine Demonstration größter politischer Vitalität, gerade im Vergleich mit der Apathie und den sich gegenüberstehenden sehr ähnlichen Politikentwürfen, die sich in vielen Wahlkämpfen auf der ganzen Welt beobachten lassen.

Historische Wahlen

 

Am Ende siegte Präsidentin Dilma Rousseff mit einem Vorsprung von lediglich drei Prozent (oder etwas mehr als drei Millionen Stimmen), der das Gleichgewicht der politischen Kräfte in Brasilien belegt, aber als ein großer Sieg des Volkes angesehen werden kann. Um dessen Ausmaß zu erfassen, muss man sich ansehen, welche Parteien sich da eigentlich gegenüberstanden. In einem durch die wirtschaftliche Macht vollkommen korrumpierten Wahlsystem  (was typisch für die großen liberalen modernen Demokratien ist) bedeutet es keine geringe Leistung, den Kandidaten zu besiegen, der auf die geballte Unterstützung des brasilianischen Finanzsystems sowie des weltweit größten Medien-Oligopols in einem Land setzen konnte. Bei Letzterem handelt es sich um eine für Brasilien typische Anomalie. Im Gegenteil, das Ergebnis muss als historisch angesehen werden. Es trägt zur Festigung der zentralen Rolle Brasiliens beim Bau einer gerechteren und demokratischeren Weltordnung bei. Wie viele Länder auf der Welt sind heute schließlich dazu in der Lage, den Märkten bei Wahlen die Stirn zu bieten? Und wie viele Völker konnten sich vor dem Hintergrund der schweren globalen Krise für eine Wirtschaftspolitik entscheiden, die der Arbeiterklasse den Vorrang vor den Banken gibt? Die Menschen werden hierdurch vor der Arbeitslosigkeit und vor Lohn-Dumping bewahrt. Die zerstörerischen Rezepte der Austerität kommen nicht zur Anwendung.
Noch bedeutsamer als der Sieg an sich ist die enorme Energie des mobilisierten Volkes für die Kandidatur Dilmas - vor allem im zweiten Wahlgang. Hier könnte Potenzial bestehen, neue Wege aufzuzeigen für die Überwindung der Widersprüche und Engpässe, welche die progressiven Regierungen seit Lulas Amtsantritt 2003 begleiteten. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Sieg der Arbeiterpartei (PT) nur dank der Unterstützung der sozialen Bewegungen und von Teilen der linken Opposition möglich war. Bei aller Kritik und Enttäuschung über zwölf Jahre PT-Regierung war ihnen sehr bewusst, wie sie sich zu verhalten hatten angesichts der Möglichkeit eines großen zivilisatorischen Rückschrittes, den die Kandidatur von Aécio Neves bedeutete. Noch wichtiger aber: Die Linke, die sich in der zweiten Runde an die Seite des PT stellte, tat dies nicht aus reinem Protest, sondern in Anerkennung und Wertschätzung der Anstrengungen bei der sozialen Inklusion, die als größter Vorzug der Regierungen Lula und Dilma angesehen werden müssen.

Politische Initiative gefordert

In diesem Sinn erscheinen die Wahlen 2014 als ein großer politischer Lernprozess für Brasiliens gesellschaftliche Kräfte, die zuvor systematische Opposition zur Regierung betrieben, weil es ihrer Meinung nach häufig bei bestimmten Themen nicht voranging. Hierbei hatten sie allerdings nicht die Realität im Blick. Erstens gibt es heute in Brasilien keine fortschrittlichere Alternative zu einer PT-Regierung. Zweitens kann und muss sehr wohl diese weitergehende und die Gesellschaft umbauende Alternative erarbeitet werden. Und zwar im Dialog und in Absprache mit den Massenorganisationen und den Intellektuellen, die Teil der Kräfte sind, die die PT-Regierung tragen. Drittens würde eine Niederlage des PT Brasilien keiner gesellschaftlichen Umwandlung näherbringen. Im Gegenteil würde diese zum jetzigen Zeitpunkt auch eine große Niederlage für das Volk bedeuten. Die Folge wäre vermutlich eine gewaltsame Reaktion der konservativen Kräfte in der brasilianischen Gesellschaft, die sich nur vergleichen ließe mit jener, die 1964 dem Sturz von Präsident João Goulart folgte.
Ab 2015 muss sich angesichts eines noch konservativeren und noch fragmentierteren Parlaments mehr denn je erweisen, ob Dilma und der PT dem Volkswillen entsprechen, der im Wahlsieg zum Ausdruck kam. Es sollte nicht übersehen werden, dass die brasilianische Rechte im Wahlkampf ebenfalls eine enorme Fähigkeit zur Mobilisierung unter Beweis gestellt hat. Die Regierung muss wieder die politische Initiative ergreifen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der Zusammenhalt des progressiven Lagers gewahrt bleibt, das die Regierung gewählt hat. Es gilt das schwierige Gleichgewicht herzustellen zwischen der Politik des Parlaments und der Führung des Staates sowie den zunehmenden Forderungen aus der Gesellschaft. Es lässt sich berechtigterweise einwenden, dass es sich um eine relativ einfache, abstrakt zu formulierende Aufgabe handelt, die sich aber praktisch nicht in Politik umsetzen lässt. Jedoch können viele Schritte in die Richtung gemacht werden. Das stetige Rücken des PT in die Mitte des politischen Spektrums, die Bürokratisierung einer Parteispitze, die sich immer weiter von den Problemen des Volkes entfernt, die Unfähigkeit, bei der Agrarreform und bei den Rechten der indigenen Völker voranzukommen, das Zögern, wenn es um die Menschenrechte geht, und die Bündnisse auf regionaler Ebene mit Teilen des am stärksten rückwärtsgewandten brasilianischen Großgrundbesitzes – all dies stellt mit Sicherheit nicht den richtigen Weg dar.
Auf der anderen Seite lehrte die Erfahrung von zwölf Jahren linker Regierungen die Parteien dieses politischen Lagers (vor allem den PT, aber auch den Partido Comunista do Brasil, sowie einige andere Kräfte, die sich in anderen Parteien engagieren), einen sehr viel realistischeren und tiefer gehenden Blick auf die Ausprägungen der brasilianischen Gesellschaft zu haben. Es gilt jetzt ein Programm zu erarbeiten, das zugleich realistisch und auf eine Umgestaltung Brasiliens ausgerichtet ist.

Politische Reformen unabdingbar

Die großen Linien dieses politischen Reformprogramms, das auf die Beteiligung des Volkes setzt, sind bereits bekannt. Demokratisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf dem Weg der Bildung und Ausweitung von Räten, Agrarreform und eine Reform für die Städte, Abschaffung der privaten Medienmonopole. Im Grunde genommen ist es nicht viel mehr als die Umsetzung jenes Sozialpaktes, der in die Verfassung von 1988 geschrieben wurde und noch seiner vollständigen Realisierung harrt.
Das Wiedersehen mit unserer Geschichte ist unvermeidlich. Die Linke an der Regierung – wenn sie sich auch weiterhin so nennen will – darf nicht vergessen, dass ihre Existenzberechtigung in Jahrhunderten des Kampfes des brasilianischen Volkes für Freiheit und Gerechtigkeit besteht. Genauer gesagt, die Kämpfe der jüngsten Zeit gegen den Neoliberalismus und die Militärdiktatur, aus denen alle unsere führenden politischen Köpfe, unsere Gewerkschaften und unsere Parteien hervorgingen. Der jetzige Sieg bei der Präsidentschaftswahl ist so gesehen nur ein weiteres Kapitel dieser langen Geschichte.

Leandro Vidal, Geograf, IBGE - Brasilianisches Institut für Geografie und Statistik

Ausgabe 150/2014