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Altamira nach dem Bauboom

Patricia Fachin, São Leopoldo
Übersetzung: Daniel Martineschen, Thilo F. Papacek

Nach dem Ende des größten Teils der Bauarbeiten am Kraftwerk Belo Monte nehmen Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und Zwangsprostitution in Altamira zu.

Des öfteren berichteten wir in den vergangenen Jahren über den Staudammbau Belo Monte in der Nähe der Stadt Altamira am Rio Xingu in Ostamazonien. Die Arbeiten an diesem Megaprojekt sind inzwischen weitgehend beendet. Nachfolgend Einblicke in die gegenwärtige Situation und die negativen Folgen für die dort lebenden Menschen und die Natur durch diese von Anfang an höchst umstrittene Maßnahme zur Erzeugung von Strom für andere Landesteile Brasiliens.


Der Bau des Wasserkraftwerks Belo Monte in Altamira, Bundesstaat Pará, hat enorme Migrationsbewegungen verursacht. Etwa 15.680 Arbeiterinnen und Arbeiter sind in die Region gekommen, von denen nun, nach Ende des Großteils der Baumaßnahmen, viele arbeitslos sind. In diesem E-Mail-Interview spricht Assis Oliveira, Dozent an der Universidade Federal do Pará (UFPA), über die Ergebnisse seiner Recherche zu den Folgen dieser Migration: Zunahme der sexuellen Gewalt und des Drogenhandels in Altamira, Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Schwarzarbeit. Das Interview wurde freundlicherweise von der Internetzeitschrift des Instituts für Humanwissenschaften der Universität Vale do Rio Sinos bereitgestellt.
IF: Wie ist die soziale, wirtschaftliche und ökologische Lage in Altamira heute, nach dem Bau von Belo Monte? Wie hat sich die Stadt durch diesen Bau verändert?

Assis Oliveira: Um die Lebensbedingungen in dieser Stadt in ihren verschiedenen Dimensionen zu betrachten, muss man die unvollständigen Hinterlassenschaften von Belo Monte untersuchen. Dabei geht es vor allem um die unzureichend erfüllten Maßnahmen, die in der Baugenehmigung für das Kraftwerk festgelegt wurden, aber auch um grundsätzliche Probleme wie fehlende Sanitäranlagen und Krankenhäuser. Manche Maßnahmen, die als Bedingung in der Baugenehmigung von der Betreibergesellschaft Norte Energia verlangt wurden, sind unsachgemäß durchgeführt worden, was weitere Gewalt verursachte – dabei geht es um Maßnahmen für die indigene Bevölkerung oder die Umsiedlung der unmittelbar betroffenen Bevölkerung.
Zudem haben sich zwei Migrationsbewegungen verflochten, was zu Problemen führte: Einerseits die Umsiedlung der Familien aus den Gebieten, die von der Mitte 2014 begonnenen Räumung des Staubeckens betroffen waren, zum anderen die Migration der Bevölkerung, die direkt an den Bauarbeiten beteiligt war. Den Daten des Baukonsortiums Belo Monte (CCBM) zufolge sind zwischen Oktober 2015 und April 2016 15.680 Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen worden.
Diese zwei Migrationsprozesse haben einen tiefen und problematischen Einfluss auf die sozialen Beziehungen, die Einkommensmöglichkeiten und die Zirkulationsprozesse in der Region. Ganz besonders betroffen davon war die soziale Gewalt.

IF: Nach Angaben der Datenbank des Gesundheitssystems Brasiliens Datasus fanden im Jahr 2000 acht Morde in Altamira statt, im Jahr 2015 hat sich diese Anzahl auf 135 gesteigert. Ebenso hat im Bericht zur Jugendanfälligkeit für Gewalt im Jahr 2015 Altamira als drittschlechteste unter allen Städten Brasiliens mit über 100.000 Einwohnern abgeschnitten. Was sind die Ursachen für diesen Anstieg der Gewalt?

Assis Oliveira: Es gibt eine Anzahl offizieller Daten, die eine wachsende Tendenz zu sozialer Gewalt innerhalb der Stadt in den letzten sechs Jahren zeigen. Mit sozialer Gewalt meine ich nicht nur Mord – die extremste Gewaltform –, sondern viele andere Formen, wie die Gewalt gegen Frauen, sexuelle Gewalt, Diebstahl, Raub, Drogenhandel. Meines Erachtens müssen diese Daten mithilfe von einigen anderen Elementen, die die strukturelle Ursachen oder Folgen dieser Gewaltformen beschreiben, erklärt werden.
Ich sehe zwei Hauptursachen: Erstens fehlte jede Vorbereitung der Region und der öffentlichen Politik beim Belo Monte-Bau und zweitens gab es kein Konzept für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit unter den gegebenen sozio-ökologischen Bedingungen
Beginnen wir mit der zweiten Ursache. Für mich wiegt die Tatsache schwer, dass die öffentliche Sicherheit nicht unter den sozio-ökologischen Bedingungen bei der Erteilung der Baugenehmigung berücksichtigt wurde. Später wurde nachjustiert und die Betreibergesellschaft Norte Energia sollte über einen 2011 mit der Regierung von Pará geschlossenen Kooperationsvertrag 110 Millionen Reais zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit in Altamira beitragen. Doch fast die Hälfte dieses Geldes, 45 Millionen Reais, wurde für einen einzigen Artikel ausgegeben, nämlich für einen neuen Polizeihubschrauber. Die vorbeugenden und investigativen Tätigkeiten der Polizei wurden dagegen vernachlässigt. Es wurde kaum in die Gemeindepolizei investiert oder Geld für bessere Polizeiabhörgeräte, die für eine effektivere Arbeit der Polizei wichtig sind, ausgegeben.
Ein anderer Punkt zur öffentlichen Sicherheit, der auch die Polizei betrifft, ist, dass an vielen Morden – insbesondere bei denen, die mit Drogenhandel zu tun haben – organisierte Milizen beteiligt waren. Diese Milizen zählen wahrscheinlich etliche Polizisten zu ihren Mitgliedern. Diese Verbrechen sollten schneller und besser untersucht und bestraft werden.
Wenn man die Entwicklung der öffentlichen Politik und der Lage der lokalen Bevölkerung über die Phasen des Kraftwerkbaus betrachtet, merkt man, dass die soziale Ungleichheit und die Umsiedlung der vom Bau betroffenen Bevölkerung die sozialen Gewalt beschleunigt haben. Diese Ungleichheit wurde während des Baus aber dadurch verschleiert, dass große Mengen von Geld in der Stadt flossen, was sich in erhöhten Lebenshaltungskosten und in einer Zunahme der Gewalt widerspiegelte. Dies war die Folge davon, dass das Einkommen stark konzentriert wurde, ohne dass es irgendwelche Maßnahmen gab, um die sozialen Folgen zu bremsen oder zu verringern.
Als dann die sogenannte „Demobilisierung der Humanressourcen“ begann – als also innerhalb weniger Monate über 15.000 Menschen vom Baukonsortium entlassen wurden –, sanken mit einem Schlag die Steuereinnahme und der Geldverkehr. Dadurch verschwanden viele weitere Arbeitsplätze. Deshalb verschlechterten sich die Lebensbedingungen in Altamira ständig. Dazu kommt noch die wirtschaftliche und politische Krise in Brasilien. Hauptursache war aber das Fehlen eines sozio-ökonomischen und sozio-ökologischen Nachhaltigkeitskonzepts für Altamira. Noch heute diskutiert man über die Durchführung von Maßnahmen, die als Bedingungen für die Baugenehmigung galten: Zum Beispiel sollte Norte Energia seit der ersten Bauphase eine neue Sanitäranlage für Altamira bereitstellen, was immer noch nicht zufriedenstellend verwirklicht wurde. Bis jetzt kämpft die Gemeinde Altamira darum, dass sie einen Teil aus dem Gewinn des Kraftwerkbetriebs erhält und dass Norte Energia mehr Geld für einen Fonds bereitstellt, mit dem ein Programm zur nachhaltigen Entwicklung der Region finanziert werden soll, der sogenannte PDRS/Xingu-Fonds. Beides ist in der Baugenehmigung zugesichert worden.

IF: Wie reagiert die Bevölkerung von Altamira auf die erhöhte Mordrate und die verschärfte Gewalt?

Assis Oliveira: Die Bevölkerung von Altamira – insbesondere die sozialen Organisationen und Bewegungen – beobachtete immer sehr aufmerksam die sozialen Folgen der Gewalt in der Stadt. Was die Gewalt der letzten Jahre betrifft, gab es mehreren Aktionen der Zivilgesellschaft – etwa öffentliche Sitzungen, Demonstrationen, Briefaktionen. Diese Aktionen hatten zum Ziel, nicht nur auf die Gewalt hinzuweisen, sondern sie verlangten auch, dass die Politik darauf angemessen reagiert. Insbesondere verlangten die Aktionen der Zivilgesellschaft, dass der Umweltplan für das Wasserkraftwerk Belo Monte grundlegend verändert wird und dass die Sozialprojekte angepasst werden, die das Programm zur nachhaltigen Entwicklung der Region Xingu finanziert.
Als Dozent und Aktivist habe ich mich vor allem bei den Plänen zur Bekämpfung der sexuellen Gewalt und für Kinder- und Jugendrechte engagiert. Der Stadtausschuss zur Bekämpfung der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die Analysen, die abteilungsübergreifenden Pläne und die Mobilisierung der Zivilgesellschaft – all das hat sicherlich dazu beigetragen, wie über dieses Entwicklungsmodell geredet wird, das auf dem Bau von Großbauprojekten basiert. Es zeigt sich, dass dieses Entwicklungsmodell, das vom Staat und Unternehmen propagiert wird, soziale Gewalt reproduziert und verursacht. Diese Debatte darüber haben wir entscheidend beeinflusst, und das nicht nur auf regionaler, sondern auch auf nationaler Ebene.

IF: Viele sehen neben der vom Belo Monte-Bau verursachten Bevölkerungszunahme, in der Zunahme des Drogenhandels und –konsums, eine wichtige Ursache für die Zunahme der Mordrate. Welche Rolle spielen die Drogen und der Drogenhandel bei den Mordfällen und bei der urbanen Gewalt?

Assis Oliveira: Sicherlich hat sich der Drogenkonsum mit der schnellen Bevölkerungszunahme in der Stadt Altamira erheblich erhöht. Dadurch kam es auch zu einem Kampf der Drogenbanden um die Herrschaft über Stadtviertel und Märkte. Insbesondere nach der Umsiedlung der Bevölkerung aus den vom Bau des Kraftwerks betroffenen Gebieten wurden auch viele der mit Drogen handelnden Menschen umgesiedelt. Dadurch wurde die räumliche Ordnung des Drogenhandels in der Stadt verändert und seine Neuordnung ging mit vielen Morden und Gewalt einher.
Aber ich möchte etwas anderes hervorheben, was ich in meiner letzten Forschung zu sexueller Gewalt in Altamira festgestellt habe: Die Zwangsprostitution ist immer mehr mit dem Drogenhandel verbunden und an beiden Aktivitäten sind korrupte Behörden beteiligt, die die kriminellen Organisationen schützen.

IF: Wie hat sich denn die Regierung zu den Mordfällen in der Stadt geäußert?

Assis Oliveira: Was die Mordfälle betrifft, muss man die Regierung auf bundesstaatlichem Niveau analysieren, die die verschiedenen Polizeiabteilungen verwaltet. Seit Langem sage ich, dass man mehr in vorbeugende Maßnahmen investieren sollte und dass die Arbeit der Polizei sich eher auf die Gemeinden konzentrieren sollte. Die Polizei sollte stärker mit den Gemeinden kooperieren, anstatt nur Präsenz zu zeigen. Es sollte mehr polizeiliche Aufklärungsarbeit geben, anstatt nur mit Repression auf die Gewaltsituationen zu antworten. Man muss aber beide Seiten dieses Prozesses bedenken: Die eine ist die juristische Seite. Es sollte also sichergestellt werden, dass es schneller zu Strafverfahren kommt und dass allgemein die Straflosigkeit bekämpft wird. Die andere Seite ist die grundsätzliche öffentliche Politik: Die allgemeinen Bedingungen von Bildung, Gesundheit, Stadtbeleuchtung, des Arbeitsmarkts und der Freizeit sollten verbessert werden. Diese Bedingungen haben auch einen strukturellen Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen und damit einen direkten Einfluss darauf, wie anfällig eine Gesellschaft für soziale Gewalt ist.

IF: Die Stadt Altamira hat während des Baus des Kraftwerks Belo Monte einen Boom auf dem Arbeitsmarkt erlebt. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Krise und der Erhöhung der Arbeitslosenquote, wie sieht die Beschäftigungssituation in der Stadt aus?

Assis Oliveira: Die Situation ist sehr schwierig. Nicht nur die Arbeitslosenquote ist gestiegen, es gibt auch mehr illegale Beschäftigungsverhältnisse. Im Bereich der Schwarzarbeit haben die Lohnabhängigen nur sehr schlechten Zugang zu Arbeitsrechten. Das versetzt die Arbeiter in eine gefährliche Situation. Im zweiten Halbjahr 2015 und während des gesamten Jahres 2016 war die große Anzahl an zu vermietenden oder zu verkaufenden Häusern wirklich erschreckend hoch. Viele Läden waren geschlossen und viele Arbeitslose waren auf den Straßen zu sehen. Selbst für uns, die wir an die enormen sozialen Folgen des Baus von Belo Monte gewöhnt waren, war das außergewöhnlich. All das hatte natürlich auch Einfluss auf die Steuereinnahme des Staates, was wiederum die Fähigkeit des Staats beeinträchtigt, effektiv auf diese Lage zu reagieren.
Assis Oliveira arbeitet als Dozent an der Universidade Federal do Pará – UFPA. Er ist zudem Gründungsmitglied der universitären bürgerlichen Rechtsberatung „Aldeia Kayapó” – Najupak.

 

Ausgabe 155/2017