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Die Herausforderungen des Wandels

Durch die Volkszählung, die das Brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE 2000 durchführte, kam heraus, dass im Vergleich zu 1990 eine große Zahl der brasilianischen Indianer nun in den Städten sesshaft ist. Diese Landflucht und die stets zunehmende Attraktivität der Städte für die indianische Bevölkerung sind ein umstrittenes Thema.

Es ist nicht nur der Indianer, der immer mehr mit der Außenwelt in Kontakt tritt, auch die unbekannte Welt wird in den Stämmen und den Familien durch das Fernsehen immer präsenter. Die Einflüsse von außen führen zu einer immensen Veränderung des kulturellen Lebens und der sozialen Struktur der Indianer und bringen letztendlich auch ihre Religion in Konflikte, die nicht mehr zu erklären vermag, wie es zu solch rasanten Veränderungen der Umwelt kommen konnte. Es scheint gar so, als ob das indianische Volk sich jetzt nach seiner offiziellen Anerkennung und nachdem es 500 Jahre eine Eingliederung strikt abgelehnt hat, aufgibt. Und dies nach der Verabschiedung des Artikels 231 der brasilianischen Verfassung. Darin werden die Bräuche, Sprachen, Religionen und Traditionen der Indianer anerkannnt, ihnen das traditionelle Recht auf die einst bewohnten Territorien zugesprochen, alle ihre Güter geschützt und respektiert.  Einflüsse, die zu diesem Wandel beigetragen haben, waren die Einführung des Geldes, Machtspiele, Stromversorgung, Errichtung von Schulen, das Telefon, schnellere Verkehrsmittel, Projekte und die wachsende Wirtschaft. Diese Umschwünge lassen sich nicht mehr auf ein oder zwei Stämme begrenzen, vielmehr sind bereits fast alle Stämme direkt von den Auswirkungen betroffen. Es sind Jugendliche und junge Menschen, die diese drastischen Veränderungen am meisten zu spüren bekommen. Zwischen den Ältesten und der neuen Generation öffnet sich eine weite Kluft. Dies geht so weit, dass sich selbst Eltern unsicher sind, wie sie mit ihren eigenen Kindern umgehen sollen. Selbst die Organisationen der „Indígenas“, die zur Verteidigung der Rechte des indianischen Volkes ins Leben gerufen wurden, sind gegen die einzelnen Bedrohungen der Indianer und die der Korruption nicht mehr immun. Politik und Religion führen in diesem Zusammenhang oft nur zu mehr Verwirrung und Unsicherheit.
Nachfolgend schildert Pe. Renato Trevisan seine Eindrücke von seinem  Besuch der Asurini-Indianer von Koatinemo, deren Leben er seit fünfzehn Jahren begleitet und welche er jetzt nach fünfjähriger Abwesenheit erneut besuchte. {mospagebreak}

Eine Woche beim Volk der Asurini

Im März 1982 reisten die ersten Schwestern des Ordens „Irmãzinhas de Jesus“ („Kleine Schwestern Jesu“) zu dem Volk der Asurini am Rio Xingu. Viel Zeit ist seit damals vergangen und Vieles hat sich seitdem verändert.
1971 bestand das Volk der Asurini aus ungefähr 100 Angehörigen. 1974 waren es nur noch 58 und acht Jahre später gar nur noch 53 Jugendliche und Erwachsene sowie drei Kinder, die jünger als fünf waren. In diesem Jahr wurde nur ein einziges Kind geboren. Interessant ist es, dass die Asurini-Bevölkerung 1930 noch aus 150 Indigenen bestand. Aktuell berichtet die FUNAI (Nationale Indianerstiftung) von 152 Asurini. Heute gibt es wieder indianische Familien mit bis zu neun Kindern. Der Durchschnitt liegt bei zwei bis drei Kindern. Die demographische Bedrohung scheint somit definitiv überstanden. Nun muss die Bevölkerung der Asurini nicht mehr das Aussterben ihres Volkes befürchten, wie es vor ein paar Jahrzehnten noch der Fall war.

Die Sprache

Bei meiner Ankunft in Koatinemo fand ich es seltsam, die einheimischen Kinder untereinander Portugiesisch sprechen zu hören. Nur die wenigen Alten sprechen noch in ihrer Muttersprache. Die Erwachsenen sprechen einigermaßen gut Portugiesisch und es scheint, dass die portugiesische Sprache nach und nach die Muttersprache verdrängt.
Gründe für diese fast unbewusste Substitution der Sprache und den Verlust der Muttersprache sind sicherlich zum einen, dass die kleinen Asurini mit dem Portugiesischunterricht in den Dorfschulen aufwachsen (auch wenn die Notwendigkeit hiervon unumstritten bleibt).  Dazu kommen häufige Ausflüge in die nächstgelegene Stadt Altamira, Kontakte mit Händlern und Fischern und nicht zu vergessen die Einführung des Fernsehens auch bei den Stämmen. In fast allen Häusern der Gemeinde in Koatinemo findet man heutzutage einen Fernseher. Jetzt ist jeden Abend Strom zugänglich, d. h. jeden Abend wird das in der Schule erlernte Portugiesisch durch zahlreiche Telenovelas und Serien gefestigt.{mospagebreak}

Kultur

Als ich fragte, wann denn das traditionelle Fest „Turé“ stattfinden würde, dass zwischen Regen- und Dürrezeit gefeiert wird - ein wichtiges Ritual mit traditioneller Flötenmusik - bekam ich zu hören: „Keine Ahnung. Der alte Mure´yra müsste das wissen.“ Wiliam, der für die FUNAI über neun Jahre mit den Asurini gearbeitet hat, erinnert sich nicht an ein einziges „Turé-Fest“.
Wenn der schon alte „Pajé“ (Medizinmann, religiöses Oberhaupt) Mure´yra, der für die Kultur der Asurini von großer Bedeutung ist, einmal stirbt, wird es wahrscheinlich niemanden mehr geben, der die Rituale der Feste weitergeben wird, und irgendwann wird auch das Wissen um die Pajelança, die Heilung mit Naturmedikamenten, aussterben.
Dieser unwiderrufliche kulturelle Verlust ist eine immense Bedrohung. Ist es Ironie des Glücks oder unerwünschte Nebenwirkung der Anthropologie? Ich schlussfolgere daraus, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, dessen demographische Entwicklung gerettet ist, das aber kulturell aussterben wird.
Meine Erinnerungen schweifen zurück zum ersten Treffen mit den Asurini, als diese noch am Ufer des Rio Ipiaçava wohnten, einem Nebenfluss des Rio Xingu, sechs bis sieben Stunden von der Mündung in ihn entfernt. Die Menschen waren kaum bekleidet, der ganze Körper aber dafür bemalt. Dies war schon seit jeher Tradition bei den Asurini, die sich auf diese Weise mit der Gemeinschaft und der Familie identifizierten. In der Kultur der Asurini spielt die Zeichenkunst eine große soziologische und ästhetische Rolle. Nicht nur der menschliche Körper wird bemalt,  sondern auch normale Gebrauchsgegenstände wie Töpfe und Hocker. Durch die kunstfertigen Bemalungen erhalten die Gegenstände eine zweite Haut und sind Teil der Gemeinschaft. Bei meinem erneuten Besuch sah ich mehrere hübsch bemalte Kinder, ebenso einige Erwachsene, allerdings keinen einzigen Jugendlichen. Wenn man sie darauf anspricht, antworten sie gleich zur Verteidigung: „An den Festen bemalen wir uns dann.“ Es sind aber Feste, die ja seit langem nicht mehr stattfinden. Sie malen sich aber manchmal exotische Motive auf den Oberarm und zeigen damit, dass sie sich lieber wie die Jugendlichen aus Altamira mit etwas identifizieren, was gerade auch bei denen in Mode ist. {mospagebreak}

Die Ambivalenz der wirtschaftlichen Aspekte

Was einen Fremden sofort bei den Asurini beeindrucken muss, ist ihre Hingabe an die Arbeit. Soweit mir bekannt ist, gibt es am ganzen Rio Xingu kein Volk, das so viel arbeitet wie die Asurini.
Weitere indigene Völker sind zum Beispiel die Arawaté, Parakanã, Arara, Kayapó, Curuaia und Xipaia. Wenn man bei den Asurini ankommt, kann man den Rhythmus der Messerhiebe hören, die das Mahagoniholz Stück für Stück schneiden und hobeln, und in etwa drei Tagen entsteht aus dem Holz ein Bänkchen oder ein Hocker. Diese Arbeiten führen nur die Männer aus. Die Frauen verkaufen die Kunstwerke an vorbeikommende Besucher. Durch die Kreativität und die geometrische Perfektion der Struktur kann man wahrhaft von Meisterwerken sprechen. Alles, was sie für ihre Arbeit brauchen, kommt aus der Natur. Sie  nutzen dabei alle Materialien, vom Lehm bis zum Harz, die den Malereien Glanz verleihen.
Die wahren Meister der Körpermalerei sind aber die Frauen. Männer bemalen sich nur Arme und Beine. Gearbeitet wird in Koatinemo immerfort. Während meines Aufenthaltes waren mindestens vier Familien mit der Herstellung von Maniokmehl beschäftigt. Jagd und Fischerei stehen im Gegensatz dazu nur den Männern zu. Als ich die Männer vom Fischen und der Jagd zurückkommen sah und sie der Gemeinde vom Fluss und Wald Fisch, Wildschwein, Fleisch und sogar Vögel mitbrachten, kam mir unwillkürlich ein Gedanke: Wird man da nicht automatisch an die Randgruppen unserer Gesellschaft erinnert? An die Bewohner der Favelas, an diejenigen, deren Häuser überflutet wurden, an die Opfer der Umweltkatastrophen, an den täglichen Überlebenskampf von Millionen von Menschen, an all dies, während es hier so viel Essen gibt, dass sogar oft etwas übrigbleibt.

Soziale Aspekte

Nach einem kurzen Blick in verschiedene Häuser der Asurini bekommt man den Eindruck, dass das Volk eine gewisse wirtschaftliche Macht und Absicherung genießt. Man trifft auf Konsumgüter wie Kleidung, Accessoires, Arbeitswerkzeug, Motoren für Kanus, Waffen usw. Die Asurini verfügen heute über Telefon, Strom, Leitungswasser, schnelle Verkehrsmittel nach Altamira, Apotheken, Schulen. Durch den Verkauf der Handarbeit, staatliche Familienzuschüsse für Mütter, Renten und auch besonders durch den Waldschutz besteht eine wirtschaftliche Grundlage, welche die Grundbedürfnisse der Bevölkerung sichert.
Man findet Produkte aus der Landwirtschaft, von der Jagd und der Fischerei. Doch bevor das Volk diesen Reichtum genießen kann, wird es schon von Neuem von ernsten Problemen und Bedrohungen heimgesucht. Und die ersten Opfer sind wieder einmal die Jugendlichen.{mospagebreak}

Sozialer Wandel

Jugendliche verstricken sich immer mehr in Alkohol- und Drogensucht. Alles hat mit den korrupten Fischern aus Altamira begonnen, die für die Erlaubnis, in Naturschutzgebieten fischen zu dürfen, Geld, Alkohol und Zigaretten anbieten. Indianer, die schon seit langem in Altamira wohnen, verlieren ihr Interesse am Leben ihres eigenen Volkes. Dies betrifft sowohl die kulturellen und religiösen Werte und Traditionen. Alle Bereiche sind betroffen, u.a. Feste und Rituale.
Genau aus diesen Gründen entwickelte sich eine immer größere Kluft zwischen der alten, konservativen Generation, die an der Sprache der Asurini festhält und allem Städtischen misstraut, und der neuen Generation, inzwischen die Mehrheit, die den Abend mit einem Fußballspiel ausklingen lässt und beim Einschlafen Michael Jackson hört. Kaum zu glauben, dass vor 20 Jahren hier nicht einmal Nachbarskinder miteinander gespielt haben. Heute ist die Schule unumstritten von großer Bedeutung und Notwendigkeit für die Asurini. Dasselbe kann man von der aktuellen Gesundheitsversorgung sagen. Es gibt bereits zwei ausgebildete Gesundheitsbeauftragte der Indígenas (Agente de Saúde Indígena), da immer noch einige Fälle von Denguefieber, Malaria und Tuberkulose vorkommen, und so gewinnen die häusliche Hygiene und die Säuberung rund um die Häuser der Asurini an Bedeutung.
Auf meiner Rückreise dachte ich darüber nach, was man wohl für dieses Volk machen könnte, dessen Bevölkerung zugenommen hat, dessen einzigartige Präsenz im Tal des Rio Xingu und in dieser Welt  aber zu verschwinden droht.

Renato Trevisan, Altamira. Übersetztung: Antje Frey Nascimento

Nr. 143-2011