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Indigenenrechte im Freiflug Die Regierung Rousseff wird immer weniger ihren Verpflichtungen gerecht

Bernd Lobgesang

In Brasilien stellen die Indigenen nur eine kleine Minderheit innerhalb der brasilianischen Bevölkerung dar. Insgesamt sind es nicht einmal eine Million unter 201 Millionen Brasilianern. Trotzdem sind sie eine wichtige Gruppe, da die Ureinwohner die Geschichte, Sprache und Kultur dieses Landes entscheidend mitgeprägt haben.

Viele Millionen Brasilianer sind zudem Indianermischlinge, Caboclos, und auch der eine oder andere Großstadtbewohner findet es heute ganz attraktiv, wenn er einen indianischen Vorfahren in seinem Stammbaum nachweisen kann.
Den „echten“ Indigenen, also denjenigen, die sich als solche bei der letzten Volkszählung bezeichnet haben, geht es allerdings in der Regel nicht sonderlich gut. Und am schlechtesten geht es ihnen bemerkenswerterweise nicht in einer Region, in der auch andere Menschen Hunger leiden, sondern in dem fruchtbaren Mato Grosso do Sul im Südwesten Brasiliens. Dort lebt das über viele kleine und Kleinstreservate sowie städtische Slums verstreute Volk der Guarani-Kaiowá. Ein im Juli dieses Jahres veröffentlichter Bericht des Indianermissionsrates CIMI, der unter dem Titel „Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien 2013“ erschien, zeichnet ein extrem düsteres Bild von ihrer Lage:  Nach Angaben des Berichts entfielen von den landesweit 56 Selbstmorden unter Indigenen allein 50 auf sie. 33 der 53 Morde an Indianern und 16 der 29 Mordversuche in Brasilien fanden zudem in diesem Bundesland statt, das keineswegs in Bezug auf seine Fläche und Bevölkerungszahl zu den großen Brasiliens zählt. Wie ist das zu erklären? Der CIMI nennt drei Gründe, die dafür ausschlaggebend sind: Der erste Grund besteht darin, dass diese fruchtbare Region sehr ländlich geprägt ist und von Großgrundbesitzern beherrscht wird, die auf riesigen Plantagen Soja, Mais und Zuckerrohr anpflanzen oder im großen Maßstab Viehzucht betreiben. Großgrundbesitzer aber sind in ganz Lateinamerika in der Regel die natürlichen Feinde der Indianer, da sie ihnen ihr angestammtes Land streitig machen. Und nirgendwo in Brasilien ist es ihnen besser gelungen als in Mato Grosso do Sul. Und das ist der zweite Grund für die miserable Lage der Ureinwohner, das fehlende Eigentum an Land. Im Reservat Dourados z.B. leben auf nur 3,6 ha 13.000 Guarani-Kaiowá. Damit soll es sich um die größte Bevölkerungsdichte bei traditionellen Völkern auf der ganzen Welt handeln.
Das reine Elend
In den anderen Regionen von Mato Grosso do Sul sieht es allerdings auch nicht sehr viel besser aus. Die qualvolle Enge führt zu Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Gewalt unter den Indianern, da sie nicht die für ihre Kultur wichtigen Riten ausüben und nicht in angemessener Form ihre traditionellen Feste feiern können. Der Gartenbau und die kollektiv oder im Familienbetrieb geführte Landwirtschaft scheidet wegen der nur handtuchgroßen Landflächen weitgehend als Erwerbszweig aus. Da Arbeitsplätze im Gewerbe und in der Industrie rar sind und die Guarani-Kaiowá meist nur über eine schlechte Ausbildung verfügen, bleibt ihnen deshalb oft nichts anderes übrig, als bei ihren „Feinden“, den Großgrundbesitzern, als billige Knechte zu arbeiten. Der dritte Grund für das Elend der Guarani-Kaiowá ist der Unwille der Behörden, etwas an dieser Lage zu verändern. Diese traurige Tatsache bezieht sich sowohl auf die staatlichen Verwaltungsstellen vor Ort als auch auf die Regierung in Brasília. Wie sollte es aber auch anders sein, wenn viele Staatsangestellte und Politiker in Mato Grosso do Sul entweder selbst Fazendeiros sind oder den Großgrundbesitzern ihre Position verdanken? Die Regierung in Brasília unternimmt ebenfalls nur wenig, da Präsidentin Dilma Rousseff noch mehr als ihr Vorgänger Lula da Silva in der Wirtschaftspolitik auf einen Pakt mit den Großgrundbesitzern setzt und deshalb wegen ein paar Indianern nichts anbrennen lassen will. Allen nationalen und internationalen Protesten zum Trotz schreitet deshalb die Demarkierung von Indianerland, die schon vor Jahren versprochen wurde, kaum voran. In Zukunft wird wahrscheinlich in dieser Hinsicht noch weniger zu erwarten sein, denn der neu gewählte Kongress ist noch konservativer und indianerfeindlicher als der alte. „Es fehlt das Interesse und der politische Wille, die indigene Frage als wichtig für die Verteidigung der Menschenrechte anzusehen“, kritisiert deshalb zu Recht Bischof Erwin Kräutler in einem Interview mit der amtlichen Nachrichtenagentur „Agência Brasil“ die Indianerpolitik des brasilianischen Staates. Der gebürtige Österreicher, der Bischof von Altamira im Amazonasgebiet und Träger des Alternativen Nobelpreises ist, meint zudem, die Lage der Indigenen habe sich besonders seit 2003 verschlechtert. Da hilft es dann auch nicht viel, wenn die brasilianische Polizei die berüchtigte Sicherheitsfirma Gaspem schließt, die wahrscheinlich für den Tod von mindestens zwei indianischen Führern und Angriffe auf Hunderte von Guarani-Kaiowá verantwortlich sein soll, denn viele andere Sicherheitsfirmen treiben weiterhin ihr Unwesen und tragen die Verantwortung für viele schwere Menschenrechtsverletzungen.
Wie prekär die alltägliche Sicherheitslage der Guarani-Kaiowá ist, lässt sich durch viele Zwischenfälle belegen. Einer davon soll als Beispiel dienen: In den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts vertrieb ein Fazendeiro mit Waffengewalt die Guarani-Kaiowá aus der Gemeinde Pyelito Kuê. Im März dieses Jahres kehrten die Indianer auf ihr Land zurück und besetzten es. Seitdem kommt es ständig zu Übergriffen und Attacken, die ganz offensichtlich im Auftrag des Fazendeiros ausgeübt werden. Einige Ureinwohner filmten vor kurzem nun einen dieser Überfälle: Man sieht, wie eine Gruppe von Söldnern mitten am Tag in das Indianerdorf eindringt und Schüsse auf wehrlose Bewohner abgibt. Von der Polizei dagegen ist weit und breit nichts zu sehen. Und selbst wenn sie anwesend wäre, gäbe es keine Garantie, dass sie auf der Seite der Indigenen stehen würden.
Kaapor greifen zur Selbsthilfe
Leider sieht es in dieser Beziehung auch in anderen Landesteilen nicht sehr viel besser aus. Eine besonders traurige Rolle spielt dabei immer wieder das Bundesland Maranhão, das in Jahrzehnten von der Familie Sarney systematisch heruntergewirtschaftet wurde und zu den ärmsten  und heruntergekommensten Regionen des Landes zählt. Die Kaapor hatten jetzt die Nase endgültig voll von der staatlichen Vernachlässigung und griffen deshalb zur Selbsthilfe. Sie erklärten den Holzfällern, die immer wieder in ihr Reservat eindringen und illegal Bäume fällen, den Krieg und nahmen einige von ihnen fest. Kazike Itahu erklärte gegenüber der Tageszeitung „Folha de São Paulo“, etwa 150 Kaapor hätten eine kleine Truppe zusammengestellt und im August 16 Holzfäller auf dem Gebiet des Reservats während einer gesetzeswidrigen Rodung überrascht und sie gefangen genommen. „Wir wissen nicht, ob sie überlebt haben“, meinte der 32-jährige Kazike, der selbst nicht an der Aktion teilnahm. Fest steht jedenfalls, dass die Kaapor die Holzfäller heftig verprügelten und sie dann mit Arm- und Beinbrüchen im Urwald zurückließen. Demnächst wollen die Kaapor die beiden  Wege zerstören, auf denen Holzfäller immer wieder in ihr Reservat eindringen. Der für indianische Angelegenheiten zuständige Justizminister Eduardo Cardozo ordnete eine Untersuchung der Vorfälle an. Das sollte er auch tun, denn Zwischenfälle dieser Art können sich rasch wie ein Buschfeuer ausbreiten und noch mehr Opfer verlangen.
Der illegale Holzeinschlag, der eng mit der seit einigen Monaten wieder zunehmenden Vernichtung des Amazonasregenwaldes zusammenhängt, führt in vielen Regionen Nordbrasiliens zu teilweise heftig ausgetragenen Konflikten und Zusammenstößen. Nationale Grenzen haben dabei im immer noch dichten Meer der Baumriesen kaum eine Bedeutung. Vor wenigen Wochen verbreitete der staatliche Indianerschutzdienst FUNAI die Nachricht, dass die politisch sehr aktiven Ashaninka zu einem bisher unbekannten Indianervolk am Rio Envira im äußersten Westen Amazoniens Kontakt aufnahmen, das zuvor von Drogenschmugglern und Holzfällern aus ihrer angestammten Region in Peru vertrieben wurde und über die grüne Grenze nach Brasilien flüchtete. Und dann geschah das, was sich immer wieder mit boshafter Regelmäßigkeit wiederholt: Die etwa 50 Personen umfassende Gruppe von Ureinwohnern, die anscheinend bisher in großer Isolation gelebt hatte, erkrankte an Grippe und Diphtherie. Ob es zu Todesfällen kam, ist unbekannt.
Schwerer Rückschlag
Die Brasilianische Bischofskonferenz verfolgt seit Jahrzehnten, wie sich die Lage der 235 Indianervölker Brasiliens entwickelt, und versucht in ihrem Interesse Druck auf die brasilianische Regierung und die Justizorgane auszuüben. Eine vor kurzem bekanntgegebene Entscheidung des Obersten Gerichtshofes sorgte nun bei der CNBB für helle Empörung: Das Gericht hob die Ausweisung von zwei für die Indigenen vorgesehenen Territorien auf. Es handelt sich dabei um die Gebiete Guyraroká in Mato Grosso do Sul und Porquinhos in Maranhão. Zur Begründung gaben die Richter an, dass sich die Indianer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung im Jahr 1988 nicht in den genannten Gebieten aufgehalten hätten. Die Argumentation der Indianer, sie seien von der Regierung Getúlio Vargas in den dreißiger Jahren aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden und bei einem späteren Rückkehrversuch hätten sie Fazendeiros mit der Waffe in der Hand verjagt,  ließ der Oberste Gerichtshof nicht gelten. Genauso wenig akzeptierte es das Argument, dass aufgrund der rechtlichen und politischen Verhältnisse eine erneute Inbesitznahme der betroffenen Regionen vor 1988 unmöglich gewesen sei. Die CIMI-Anwälte sind dagegen völlig anderer Ansicht. Nach ihrer Rechtsauffassung sind derartige Entscheidungen, wie sie der Oberste Gerichtshof fällte, null und nichtig, wenn die Indigenen mit Gewalt aus ihrer Ursprungsregion vertrieben wurden und wenn man ihnen zudem durch massive Gewaltanwendung die Rückkehr verwehrte. Der Generalsekretär des CNBB, Leonardo Steiner, befürchtet weitere negative  Entscheidungen der Justiz. Im schlimmsten Fall könnten auch andere Gebietsanweisungen zurückgenommen oder sogar bereits bestehende Reservatsgrenzen zu Ungunsten der Indianer verschoben werden. Damit würde die sowieso schon seit Jahren immer schleppender vorangehende Demarkation von Indianerreservaten noch langsamer werden. Das lässt gerade bei den Guarani-Kaiowá wenig Hoffnung für die Zukunft aufkommen. Gerade sie müssten rasch das ihnen geraubte Land zurückerhalten, damit für sie die jahrzehntelange Zeit des Dahinvegetierens endlich ein Ende findet. Die Großgrundbesitzer können auf jeden Fall jetzt schon die Sektkorken knallen lassen.

Ausgabe 150/2014