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Raposa Serra do Sol - Ein großer Sieg

Die vielleicht wichtigste Neuigkeit gleich am Anfang: Der Oberste Gerichtshof Brasiliens ordnete Mitte März 2009 an, dass die Grenzen des Indianerreservats Raposa Serra do Sol im Bundesland Roraima nicht verändert werden. 

Das 17.430 km² ha große Gebiet, das in etwa der Hälfte der Fläche Belgiens entspricht und auf dem zwischen 19.000 und 20.000 Makuxi, Wapichana, Ingaricó, Taurepang und Patamona leben, bleibt also als zusammenhängendes Reservat erhalten, so wie es auch die große Mehrheit der dort ansässigen Indianer immer gefordert hat. Wie eindeutig die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes fiel, belegt die Tatsache, dass sie mit einer überwältigenden Mehrheit zustande kam: Zehn Richter sprachen sich für den Status quo aus, nur einer stimmte dagegen. Eigentlich hätte der Oberste Gerichtshof schon im Dezember des vergangenen Jahres endgültig über Raposa Serra do Sol entscheiden sollen, aber zweimal wurde der Termin für das Urteil hinausgezögert.
Was aber bedeutet diese für die Indigenen auf den ersten Blick uneingeschränkt positive Neuigkeit?  Zunächst einmal bestätigt sie die Arbeit der Indianerbehörde FUNAI sowie des Justizministeriums und des Präsidenten, denn diese Institutionen und das Staatsoberhaupt Luiz Inácio Lula da Silva sind maßgeblich für die Demarkation des indianischen Territoriums und seinen Grenzverlauf verantwortlich. Außerdem weist das Urteil des Obersten Gerichtshofes entschieden die immer wieder erhobenen Besorgnisse und Proteste der Streitkräfte zurück, die damit die Vermessung von indianischem Land in der Nähe der brasilianischen Staatsgrenzen verhindern wollen und das mit der dadurch eingeschränkten Souveränität Brasiliens begründen. Viele Militärs behaupten, Indianer derselben Ethnie, die diesseits und jenseits der Grenzen Brasiliens leben, könnten dort neue Staaten gründen und brasilianisches Territorium stehlen. Nach Darstellung der Generäle könnten sie dabei eventuell von fremden Staaten und deren „fünften Kolonnen“ unterstützt werden, womit sie Umweltschützer, Menschenrechtler, nationale und internationale Organisationen wie den Indianermissionsrat CIMI oder Greenpeace meinen.{mospagebreak}
Soweit die positiven Auswirkungen des Gerichtsurteils. Auf der anderen Seite hat eine im Reservat lebende kleine Gruppe von Reisbauern trotz der Niederlage einen Achtungserfolg erzielt. Es war ihr Widerstand gegen das Dekret des Justizministeriums, der erst die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes notwendig machte. Unterstützt von einflussreichen Politikern aus Roraima und anderen Landesteilen, trotzten diese Fazendeiros viele Monate lang Recht und Gesetz und hielten Brasilien mit ihren illegalen Aktionen in Atem. Als die Bundespolizei im März 2008 eine Operation einleitete, um die protestierenden Reisbauern aus dem Reservat zu entfernen und in andere Gebiete umzusiedeln, griffen sie ganz offen zur Gegenwehr. Sie legten Brände, zerstörten Brücken und Brunnen im Reservat, entführten mehrere Indianer und drohten anderen mit dem Tod. Dabei konnten sie sich immer der Unterstützung vieler Politiker Roraimas gewiss sein, die wie sie behaupten, dass die Indianer den wirtschaftlichen Fortschritt des Bundeslandes behindern würden.
Besonders hervor tat sich bei allen diesen kriminellen Aktivitäten der Reisbauer Paulo César Quartiero, der auf einer Fläche von 92 km² Reis und Sojabohnen anbaut und Vieh züchtet. Nach der Bekanntgabe des Urteils des Obersten Gerichtshofes erklärte er, er werde sich an die Entscheidung halten, auch wenn sie die „Zwangsvertreibung von mindestens 600 Männern, Frauen und Kindern bedeutet“. Weniger einsichtig zeigte sich dagegen Nelson Itikawa, der Vorsitzende der Reisbauernorganisation: „Die uns angebotenen alternativen Flächen sind nicht groß genug und haben für den Reisbau ungeeignete Böden. Daher ist das Urteil für uns keine friedliche Lösung. Ich schließe nicht aus, dass manche die Kontrolle verlieren und es zu Gewalt kommt.“  Das lässt nichts Gutes hoffen. Hintergrund für diese ziemlich offene Drohung von neuer Gewalt ist eine Offerte des Staatspräsidenten Lula. Um die bedrohliche Lage zu entspannen, übergab er der Regierung von Roraima im Januar dieses Jahres 50.000 km² Bundesland, damit sie dort die immer noch auf dem Reservat verbliebenen Reisbauern ansiedelt.
Zufrieden dagegen sind der Indianermissionsrat (CIMI), die Menschenrechtsorganisation Survival International, die sich sehr für die Beibehaltung des Reservates einsetzte und eine eigene Kampagne dafür in die Wege leitete, und der CIR, der Indigene Rat von Roraima, der die Mehrheit der Ureinwohner vertritt. Besonders gestärkt wird die Position der Indigenen durch die Erklärungen einzelner Mitglieder des Obersten Gerichtshofes zum Urteil. So sagte Richterin Ellen Gracie: „Wir begleichen damit eine historische Schuld, die Brasilien bei den Indigenen hat.“ Und der Vorsitzende des Gremiums erklärte: „Die Grundlage, die wir in diesem Prozess geschaffen haben, sowie die Bedingungen und Verfahren werden als Richtlinie bei anderen Konflikten dienen können. Wir werden den Streitfragen in ähnlichen Fällen ein Ende bereiten.“ Es wäre schön, wenn er damit Recht behalten würde, denn immerhin sind 22 weitere Verfahren über Indianerland vor dem Obersten Gerichtshof anhängig. {mospagebreak}
Während die Indianer in Raposa Serra do Sol trotz aller Einschränkungen jetzt erst einmal feiern können, warten viele andere Ureinwohner Brasiliens immer noch auf den Abschluss der Demarkierungsarbeiten oder auf die Unterschrift des Staatspräsidenten, wodurch der Akt der Anerkennung des indianischen Landes durch den brasilianischen Staat erst abgeschlossen wird. Aber auch dann kehrt oft keine Ruhe ein. Auf dem Land der meisten Reservate halten sich Eindringlinge wie Goldsucher, Holzfäller, Großgrundbesitzer oder Kleinbauern auf. Entweder lebten sie dort schon, bevor das Reservat errichtet wurde, oder sie sind später dorthin gekommen. Da Brasilien nur im eingeschränkten Maße als Rechtsstaat bezeichnet werden kann, fällt es den 238 indianischen Völkern des Landes, die nur etwa 800.000 Menschen und damit weniger als ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung umfassen, außerordentlich schwer, zu ihrem von der Verfassung verbrieften Recht zu kommen. Schwierig wird es für sie insbesondere dann, wenn einflussreiche Interessengruppen Großprojekte auf oder in der Nähe von indianischem Land verwirklichen wollen. Das ist z.B. bei dem Bau der Staudämme am Rio Madeira und Rio Xingu in Amazonien oder bei der teilweisen Ableitung des Rio São Francisco im Nordosten der Fall. Obwohl von diesen Bauvorhaben mehrere indigene Völker direkt betroffen sind, wurde kein einziges im Vorfeld von den Maßnahmen informiert. Damit wurde nicht nur gegen nationales, sondern auch gegen internationales Recht verstoßen, denn Brasilien hat sich durch die Annahme von UNO-Rechtsbestimmungen genau dazu verpflichtet.
Schon am 1. September des vergangenen Jahres übergaben deshalb mehrere indigene Organisationen einen Bericht über die Nichterfüllung der Konvention 169 an die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Neben den bereits erwähnten Fällen geht es in diesem Dokument auch um den illegalen Bergbau auf dem Land der Cinta Larga in Rondônia und um die elende Lage der Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul, die über keinen oder zu wenig eigenen Boden verfügen. COIAB (Koordination der Indianervölker Amazoniens), APOINME (Indianerorganisation von Minas Gerais und Espirito Santo), CIR (Indigenenrat von Roraima) und das Brasilianische Indigeneninstitut Wará forderten deshalb die ILO auf, Druck auf den brasilianischen Staat auszuüben, damit er die Rechte der Indigenen stärker respektiert und die nationale Gesetzgebung in diesem Sinne verändert. So gibt es bis heute kein Indianerstatut, das den Bestimmungen der Verfassung von 1988 entspricht. Seit nunmehr 14 Jahren liegt eine Neuregelung dem Kongress vor, aber bis jetzt gelten die Bestimmungen aus der Zeit der Militärdiktatur. Dieses alte Indianerstatut gewährt einerseits den Ureinwohnern die Garantie einer Basisversorgung, unterstellt aber andererseits indigene Gruppen, die noch nicht vollständig in die nationale Gesellschaft integriert sind, einer vom Staat verordneten Vormundschaft.  
In den im Dokument der indigenen Organisationen erwähnten Landesteilen herrscht beständige Unruhe, die jederzeit in pure Gewalt umschlagen kann. Alle diese Gebiete liegen weit entfernt von den großen Industriezentren im Landesinneren, also genau in den Regionen, wo Unterbeschäftigung, Selbstjustiz und Vetternwirtschaft zum Alltag gehören. Ein paar Informationen sollen jeweils schlaglichtartig die spezifische Lage beleuchten.
Die Cinta Larga in Rondônia werden seit mehreren Jahren von Diamantensuchern bedrängt, die auf ihrem Land fündig geworden sind. 2004 töteten die Indianer, die selbst teilweise auch in Diamantengeschäfte verwickelt sind, 29 Diamantensucher. Rondônia gehört zu den Bundesländern Amazoniens, die sich in den vergangenen drei Jahrzehnten besonders stark verändert haben. Geteerte Straßen, massive Kolonisationsprojekte, eine rapide Entwaldung und zweifelhafte Großprojekte machen es zu einem Einfalltor des „Fortschritts“ nach Amazonien. Jetzt soll der wichtigste Fluss der Region, der Rio Madeira, durch mehrere Großstaudämme aufgestaut werden, obwohl dadurch die Existenz verschiedener Indianervölker bedroht wird. In unmittelbarer Nähe der Baustelle des Staudamms Santo Antonio leben vier Völker. Der Zustrom fremder Menschenmassen und die damit einhergehende Waldvernichtung, die Prostitution, der Alkoholismus und andere Übel der westlichen Zivilisation werden zu einer völligen Veränderung der natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen führen.
Während viele Indianervölker Rondônias erst seit dreißig Jahren Kontakt zu den Weißen haben, können die Guarani-Kaiowá im Bundesland Mato Grosso do Sul auf eine schon lange Bekanntschaft mit der brasilianischen Gesellschaft zurückblicken. Besser als ihren nördlichen Vettern geht es ihnen darum aber keineswegs. Die weitgehend zum Cerrado gehörende Region hat sich in den letzten Jahrzehnten in eine landwirtschaftlich intensiv genutzte Region entwickelt. Die Guarani-Kaiowá verloren fast ihr ganzes Land. Oft verdingen sie sich als Land- und Erntearbeiter auf den Fazendas und leben auf Kleinstparzellen, die völlig ungeeignet sind für den Fortbestand ihrer indianischen Kultur. Gewalt, Alkoholismus, die landesweit höchste Selbstmordquote unter Kindern und Jugendlichen, Unterernährung und Hunger prägen die Lage dieser Menschen, die oft in notdürftig errichteten Hütten dahinvegetieren oder unter Plastikplanen am Straßenrand kampieren. Immer wieder besetzen die Guarani-Kaiowá Land, das ihnen nach ihrer Meinung zusteht, und immer wieder werden sie von Großgrundbesitzern vertrieben oder müssen nach Gerichtsbeschlüssen das Gelände verlassen.
Immerhin verhinderte im Dezember 2008 ein Gerichtsbeschluss die Vertreibung von 40 Familien im Süden des Bundeslandes. Gerichtsrätin Marli Ferreira verbot für die kommenden 120 Tage die Vertreibung von 130 Guarani-Kaiowá vom Gebiet Laranjeira Ñanderu. Sie begründete ihre Entscheidung mit der drohenden Gefahr für Leib und Leben der Ureinwohner, die wahrscheinlich am Straßenrand ihr Lager aufschlagen würden und in größte Gefahr gerieten, überfahren zu werden. Eigentlich sollten die Indianer Anfang Januar 2009 das besetzte Land verlassen. Jetzt soll die FUNAI, die staatliche Indianerschutzbehörde, innerhalb der Frist von 120 Tagen eine friedliche Lösung herbeiführen. Bereits seit 1971 existieren Studien zur Landvermessung zugunsten der Guarani-Kaiowá in der Region Rio Brilhante, zu der auch Laranjeira Ñanderu gehört. Trotzdem hat sich bis heute nichts getan, da der Widerstand von Großgrundbesitzern und den mit ihnen verbündeten Politikern, Richtern und anderen einflussreichen Honoratioren zu groß ist. Bereits im November 2007 unterzeichneten die FUNAI, die Bundesstaatsanwaltschaft und die Indianer einen Vertrag, der die Identifikation von 36 von den Guarani-Kaiowá geforderten Gebieten im Bundesland Mato Grosso do Sul bis April 1010 vorsieht. Es wäre ein großer Erfolg, wenn dieser Plan tatsächlich innerhalb des vorgegebenen Zeitraumes in die Tat umgesetzt würde. Nach all den Rückschlägen und Enttäuschungen der vergangenen Jahrzehnte wagt man aber nicht, an diesen schönen Traum zu glauben.
In vielerlei Beziehung unterscheiden sich die Großräume Brasiliens gravierend voneinander. Wenn es um Verstöße gegen die Menschenrechte und Morde an Aktivisten geht, die sich für die Belange von Minderheiten einsetzen, schrumpfen diese Gegensätze ganz gehörig zusammen. So ist es in den vergangenen Monaten wieder zu mehreren Morden an Vertretern indianischer Gemeinschaften gekommen. Die beiden folgenschwersten waren wahrscheinlich die Ermordung von Mozeni Araujo de Sá (36) in Pernambuco und von Valmireide Zoromará (42) in Mato Grosso. In beiden Fällen ging es natürlich um Landstreitigkeiten zwischen den Indianern und Großgrundbesitzern, und in beiden Fällen gingen Pistolenmänner mit größter Brutalität vor. Valmireide Zoromará war Sprecherin der Pareci-Indianer in der Gegend von Diamantino in Mato Grosso. Nachdem bereits mehrfach Morddrohungen gegen sie ausgesprochen worden waren, erschoss sie im Januar 2009 der Verwalter einer Fazenda, als sie zusammen mit ihrer Familie in einem Teich fischte. Der Mörder schoss Valmireide in den Rücken und verletzte weitere Pareci. Bereits im August des vergangenen Jahres verstarb Mozeni Araújo de Sá, ein bedeutender Führer der Truká im Bundesland Pernambuco. Seit 1994 engagierte er sich für die Rückgewinnung der 65 km² großen Insel Assunção im Rio São Francisco. 2005 waren bereits zwei Truká auf einer Versammlung ihres Volkes getötet worden. Mozeni war Augenzeuge des Mordes. Er zeigte die Täter, vier Militärpolizisten, mehrfach an, aber nichts geschah. Bei den Gemeindewahlen im Oktober des vergangenen Jahres hatte er gute Chancen, was seine Gegner – Großgrundbesitzer, Pistoleiros, Militärpolizisten, Lokalpolitiker – noch weiter in Rage versetzt haben dürfte. In Begleitung seines dreizehnjährigen Sohnes und anderer Truká wurde er auf offener Straße in Cabrobó kaltblütig niedergestreckt.
Wie man sieht, hat sich in Brasilien nichts verändert – zumindest nichts, was die Straflosigkeit von Verbrechen betrifft. In anderer Hinsicht tut sich allerdings eine ganze Menge. Nicht verschwiegen werden sollen deshalb auch einige positive Entwicklungen. So setzt sich die Regierung Lula vermehrt dafür ein, den Zugang von ethnisch und sozial benachteiligten Gruppen zu Schulen und Universitäten zu erleichtern. Das geschieht z.B. mit Hilfe von neuen Schulbauten und Stipendien. Diese Politik trägt erste Blüten. Innerhalb von nur vier Jahren wuchs die Zahl indigener Schulen von 1.706 auf 2.422, die Zahl der indigenen Schüler verdoppelte sich im gleichen Zeitraum auf fast 174.000. Außerdem gibt es heute sehr viel mehr Lehrer unter den Ureinwohnern, die sowohl in ihrer Muttersprache als auch auf Portugiesisch unterrichten. Ein weiteres positives Zeichen ist die wachsende Anzahl von indianischen Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern (4) und Gemeinderäten (59). In immerhin sechs Munizipien errangen bei den Gemeindewahlen im Oktober 2008 Indianer den Posten des Bürgermeisters. Darunter befindet sich zum ersten Mal die Stadt São Gabriel am oberen Rio Negro, die den höchsten Indianeranteil an der Bevölkerung in ganz Brasilien aufweist. Und nicht zuletzt soll auf die CNPI hingewiesen werden, die Nationale Kommission zur Indianerpolitik, in der neben 13 Repräsentanten von mit indigenen Fragen betroffenen Ministerien 20 indigene Vertreter und zwei Mitglieder indigener Organisationen zusammenkommen. Die CNPI entstand zwar erst mit jahrelanger Verspätung während der zweiten Legislaturperiode der Regierung Lula, etabliert sich aber immer mehr zu einem Gremium, das neben der FUNAI Einfluss auf die nationale Indianerpolitik ausübt.

Bernd Lobgesang

Nr. 139-2009