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Rio de Janeiro: WM-2014 gegen indigenes Kulturzentrum? Aldeia Maracanã ruft SOS

Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

Der Kontrast könnte nicht drastischer sein. Auf der einen Seite das Maracanã-Fußballstadion, das gerade für umgerechnet rund 300 Millionen Euro in eines der modernsten Stadien der Welt umgebaut wird. Auf der anderen Seite, lediglich durch einen mit Stacheldraht bewehrten Bauzaun getrennt, ein verfallender, doch immer noch herrlicher Palast des 19. Jahrhunderts: Rio de Janeiros altes Indianermuseum. Seit 2006 halten es Repräsentanten von mehreren Indianervölkern aus ganz Brasilien besetzt, um es vor dem Abriss zu bewahren.

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Die Geschichte von Rio de Janeiros erstem „Museu do Índio“ beginnt mit Herzog August von Sachsen-Coburg und Gotha. Am 15. Dezember 1864 heiratete er mit 21 Jahren in Rio de Janeiro Prinzessin Leopoldina von Brasilien, Tochter von Kaiser Dom Pedro II. Der auch als „Duque de Saxe“ bekannte August war nicht nur Admiral der brasilianischen Flotte und Ehrenpräsident der Historisch-Geographischen-Gesellschaft, sondern auch interessiert an den einheimischen Völkern und Kulturen. Deshalb schenkte er bereits im ersten Jahr nach seiner Vermählung einen herrschaftlichen Palast im Stadtteil Maracanã dem brasilianischen Imperium als „Ort des Studiums der indigenen Kulturen Brasiliens“. Maracanã war damals hoheitlicher Bezirk mit dem Kaiserschloss „Quinta da Boa Vista“ an seiner Seite. Die wenig später ausgerufene Republik Brasiliens allerdings respektierte die hehren Absichten des nach dem frühen Tod seiner Frau Leopoldina wieder nach Europa zurückgekehrten Herzogs nur am Rande.
So diente das Gebäude ab 1910 zunächst als Hauptquartier des SPI, der ersten so genannten Indianerschutzbehörde. Erst 1952/53 schließlich sollte der Palast an der Avenida Maracanã Nr. 252 seine eigentliche Bestimmung bekommen. Politiker und Indianerforscher Darcy Ribeiro errichtete in ihm Brasiliens erstes „Museu do Índio“. Kosten spielten keine Rollo. Star-Architekt Ary Toledo kreierte innerhalb des historischen Gebäudes eines der modernsten Museen seiner Zeit mit internationalem Einfluss. Nichtsdestoweniger durfte es nur 25 Jahre seinem Bestimmungszweck dienen. Schon 1978 zog das „Museo do Índio“ in den Stadtteil Botafogo um, und der „Palast des Herzogs von Sachsen“ wurde wie so viele andere historische Gebäude Rio de Janeiros schlicht sich selbst überlassen und rottete im Schatten des Maracanã-Stadions vor sich hin. Die Regierung stellte das alte „Museu do Índio“ zwar 1997 unter Denkmalschutz, doch freilich ohne auch nur einen Centavo für dessen Erhalt, geschweige denn für dessen Renovierung auszugeben.
Im Jahr 2006 schließlich schien das Ende des Gebäudes fast besiegelt. Rio de Janeiros Regierung erwog, es zugunsten von Parkplätzen für die bevorstehenden panamerikanischen Spiele 2007 - quasi als Vorspiel für WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 - abreißen lassen. „Lasst uns für den Abriss des alten Indianermuseums kämpfen. Das Gelände ist ideal für den Bau eines guten Parkplatzes für die Fußballfans“, polterte Rio de Janeiros Vize-Gouverneur Paulo Conde. Doch eine Gruppe von 35 Indigenen aus allen Teilen Brasiliens besetzten am 20. Oktober 2006 kurzerhand das Gebäude und machten den Abrissplänen vorerst einen Strich durch die Rechnung.
Es war eine spontane Aktion, die ihren Ausgangspunkt an der Universität von Rio de Janeiro (UERJ) hatte. Repräsentanten der Guajajara und Krahó aus Maranhão, der Fulni-ô aus Pernambuco, der Pataxó aus Bahia, der Tukano, Tikuna und Mayoruna aus dem Bundesland Amazonas, der Xavante aus Mato Grosso, der Guarani-Mbya aus Rio de Janeiro und mehrerer anderer Völker waren dort zum ersten Treffen der Bewegung der Tamoios (1º Encontro Movimento dos Tamoios: Pelo Resgate dos Direitos dos Povos Originários do Brasil) geladen, um für die Rechte der indigenen Völker Brasiliens einzutreten.
Die Situation der „Hausbesetzer“ war von Anfang an nicht einfach. Stadt, Land und Staat ignorierte sie. Und seit einem mutmaßlichen Brandanschlag im Jahr 2009 war der einstige Palast gänzlich unbewohnbar und droht tagtäglich zusammenzubrechen. Doch die Indigenen wie Afonso Apurinã aus Acre sind standhaft und haben sich mit Hilfe von privaten Spenden Unterkünfte auf dem Gelände des alten Indianermuseums gebaut und ihr Dorf „Aldeia Maracanã“ errichtet. Mit selbst angefertigtem Kunsthandwerk finanzieren sie sich ihr Überleben in Rio de Janeiro, einer der heute teuersten Städte der Welt.
Erklärtes Ziel der Indigenen ist es, das Gebäude als ein von der Indianerbehörde FUNAI unabhängiges kulturelles Zentrum der einheimischen Völker Brasiliens zu nutzen. Doch zuvor gilt es so lange auszuharren, bis das Bundesland Rio de Janeiro und die Regierung in Brasília ihrer Verantwortung gerecht werden, das Gebäude renovieren und seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgeben.
Obwohl eine Denkmalschutzkommission Rio de Janeiros zuletzt im Dezember 2011 zum Schluss kam, dass eine Renovierung des Gebäudes dringend erfolgen sollte, um seine gänzliche Zerstörung zu verhindern, geschah bis heute nichts. Im Gegenteil, die Indianer der Aldeia Maracanã rechnen mit dem Schlimmsten, der Zwangsräumung. „Die Behörden lassen uns im Unklaren. Wir sind sehr besorgt“, beklagt Carlos Tukano, Häuptling der Aldeia Maracanã.
Doch im Vorfeld der großen UN-Konferenz „Rio plus 20“ war eine negative Schlagzeilen provozierende Aktion von Seiten der Behörden kaum zu erwarten. Laut staatlicher Nachrichtenagentur Agência Brasil gibt es deshalb derzeit auch keine WM-2014-Pläne für eine Demolierung des alten Indianermuseums. Die Stadt Rio de Janeiro sei zwar gerade dabei, das Gebäude vom offiziellen Eigentümer, der Staatsregierung, zu erwerben, doch das Gelände sei nicht Teil der gegenwärtigen Reformpläne des Maracanã-Stadions.
Nichtsdestoweniger, die Aldeia Maracanã ist bereits heute ein indigenes Kulturzentrum und facettenreicher Kontrapunkt zum anderen, offiziellen „Museu do Índio“ in Botafogo. Die Indianer Maracanãs geben nicht nur Unterricht in ihren traditionellen Sprachen, sondern laden auch die Bevölkerung Rio de Janeiros zu regelmäßigen Kulturveranstaltungen ein. Das Indianerdorf am Fußballstadion funktioniert zudem als zentraler Treffpunkt von Indigenen aus allen Teilen des Landes und schlicht auch als Indianerherberge. Genauso wie für „Weiße“ aus São Paulo oder Recife, genauso wie für Engländer oder Bayern ist Rio de Janeiro selbstverständlich ebenso ein begehrtes Reiseziel für Kayapó, Xavante oder Yanomami, und seit 2006 ist die Aldeia Maracanã ihre erste Adresse am Zuckerhut.

Ausgabe 146/2012