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Sepé Tiaraju

In der ersten Jahreshälfte 2007 hat sich die Situation der 235 Indianervölker nicht grundlegend verändert. Weder kam es zu spektakulären Entscheidungen der Regierung für oder gegen die Ureinwohner noch zu landesweiten Protesten dieser über das ganze Land verteilten Minderheit.

{mosimage}Am „Tag des Indianers“, dem nationalen Feiertag der Indigenen (19.April), konnten sie allerdings noch einmal viele der Probleme, de- nen die meisten von ihnen ausgesetzt sind, einer breiteren Öffentlichkeit durch Kulturveranstaltungen, Demonstrationen, Presseerklärungen und andere Aktivitäten vorstellen. Es sind vor allem die leidige Landfrage, die in vielen Regionen immer noch schlechte gesundheitliche Versorgung, die fehlenden Bildungschancen und die mannigfachen Gefährdungen durch staatliche oder private Erschließungsprojekte. Stärker in den Vordergrund als früher rückten allerdings die negativen Folgen der staatlichen Energiepolitik: Immer mehr Land wird in Zuckerrohr- und Sojaplantagen umge- wandelt, um Biodiesel und Ethanol zu erzeugen. Diese beiden Monokulturen und auch der Anbau von Eukalyptus zur Papier- produktion verschmutzen durch ihren massiven Einsatz von Agrargiften Wasser und Boden und vernichten ganze Fisch- populationen. Die Großgrundbesitzer dringen mit ihren oft für den Export arbeitenden Fazendas auch auf das Land der Indianervölker vor oder heuern Indigene als billige Arbeits- kräfte an, die sie schamlos ausbeuten. Der Staat unterstützt durch Kredite und Gesetze diese Politik, welche keine Rücksicht auf die Umwelt nimmt und in erster Linie profi torientiert sind. Darauf machten im „Indianischen April“ und insbesondere natürlich am „Tag des Indianers“ mehr als 1.000 Vertreter von 100 indigenen Völkern aufmerksam. In einer Zeltstadt vor dem Regierungsgebäude in Brasília versammelten sie sich und forderten die Regierung auf, sie gleichberechtigt an der Ausführung von Regierungsprojekten zu beteiligen. Außerdem verlangten sie eine beschleunigte Anerkennung des indiani- schen Landbesitzes. Die Regierung reagierte freundlich und zeigte sich ko- operationsbereit. Marcio Meira, Präsident der staat- lichen Indianerbehörde FUNAI, traf mit Indianer- vertretern zusammen und versicherte ihnen, er wolle persönlich dafür sorgen, dass ihre Rechte künftig stärker respektiert werden. Außerdem regte er eine verstärkte Entwicklungshilfe in den bereits anerkannten Indianergebieten an. Er will sie, so sagte er, in ihren Gebieten so oft wie möglich besuchen. Außerdem stellte er auch noch den schon so lange ersehnten Nationalen Rat für Indianerpolitik in Aussicht. Ins selbe Horn stieß auch Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva, als er am „Tag des Indianers“ fast 1 Million ha Land an verschiedene Indianervölker in Amazonien verteilte und den Indigenen die weitere Hilfe seiner Regierung zusicherte. In Anwesenheit von 20 indigenen Führungspersönlichkeiten aus Amazoniens sagte er: „Stellt Fragen an die Regierung, damit wir wissen, was getan werden muss.“ Dieser Appell entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, denn nach mehr als vier Jahren an der Spitze des brasilianischen Staates und einer Unmenge von Protesten sollte Lula eigentlich wissen, wo überall der Schuh drückt.

Prekäre Gesundheitslage

Wie bereits erwähnt, lässt die gesundheitliche Versorgung der Indianer immer noch zu wünschen übrig. Problematisch ist sie nicht nur in Amazonien, wo die großen Entfernungen oft eine rasche Hilfe erschweren, sondern auch in den viel zu kleinen Reservaten in den anderen Regionen Brasiliens. Dort gibt es zu wenige Arbeitsmöglichkeiten für die Indigenen, der Bo¬den ist oft unfurchtbar oder degeneriert. Die Indigenen sind gezwungen, außerhalb der Dörfer, z.B. auf den Plantagen zu arbeiten. Alkoholismus und Unterernährung sind die sozialen Folgen. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, wenn Krankheiten ausbrechen und gerade unter den Schwächsten der Schwachen, den Kindern, immer wieder Opfer fordern. Zu Beginn des Jahres kam es zu schweren Malariaerkran¬kungen bei dem Volk der Ori Wari im Bundesland Rondônia im südlichen Amazonien, in deren Verlauf drei Kinder starben und weitere 42 ins Krankenhaus eingeliefert werden muss¬ten. Prekär ist auch die Lage bei den Apinajé im Bundesland Tocantins in Ostamazonien. Durchfall, Atemwegsinfektionen und Unterernährung töteten dort zwei Kinder. Da die Apinajé im vorigen Jahr bereits aus ähnlichen Gründen 14 Kinder ver¬loren, schaltete die Nationale Gesundheitsstiftung (FUNASA) die Bundesstaatsanwaltschaft ein und kündigte die Verteilung von Warenkörben an, um die Unter- und Fehlernährung bei Kindern, Schwangeren und Alten einzudämmen.
Ein ähnliches Notstandsgebiet ist Mato Grosso do Sul, das landesweit die höchste Selbstmordquote unter den Indianern aufweist. Landknappheit, schlechte Arbeitsverhältnisse auf den Ländereien der Großgrundbesitzer und staatliche Ver¬nachlässigung führen hier zu Kulturverlust, Alkoholismus, massivem sozialen Elend und gerade unter Jugendlichen zu einer extrem hohen Suizidrate. Im Februar strich zu allem Übel auch noch der neue PMDB-Gouverneur André Puccinelli die Warenkörbe für notleidende Familien. Im ganzen Bundesland sind davon 110.000 Familien betroffen, unter den Indigenen sind es 8.000 Familien. Am 8. Februar kam es deshalb in der Landeshauptstadt Campo Grande zu einer Großdemons¬tration gegen diese sozialen Einschnitte. Auch Vertreter aus Kurusu Ambá waren dabei. Das ist der Name einer Ortschaft, die von den Guarani besetzt worden war und die sie Anfang des Jahres wieder verloren hatten. 70 von einer Privatmiliz vertriebene Familien lagern seitdem am Straßenrand und hungern. In einem Schreiben an Gouverneur Puccinelli be¬zieht sich Egon Heck, Koordinator des Indianermissionsrates (CIMI) von Mato Grosso do Sul, genau auf diese Situation: „Wir brauchen auch strukturelle Lösungen gegen den Hunger. Das Bundesland Mato Grosso do Sul ist verantwortlich, denn es erteilte Großgrundbesitzern Besitztitel für Gebiete, in de¬nen Indigene leben.“


Demarkationen im Rückstand


Neben der Gesundheitslage spielt die Landfrage immer eine große Rolle. Oft kommt er zu Verzögerungen bei der Aner¬kennung und Demarkation des indianischen Landbesitzes. Zu den in dieser Hinsicht besonders unrühmlichen Bundesländern gehört Santa Catarina. Bürgermeister und andere Politiker kündigten im April die Bewaffnung der Bauern an, die sich auf dem Land der Indianer angesiedelt haben, und drohten mit Blutvergießen, sollten die Landbesetzer zum Abzug gezwungen werden. Diese Warnungen hielten jedoch Justizminister Tarso Genro nicht davon ab, am 19. April („Tag des Indianers“!) die Errichtung von vier Reservaten in Santa Catarina zu unter¬schreiben. Der CIMI begrüßte diese Entscheidung, forderte aber auch die Regierung dazu auf, die Kleinbauern, die im guten Glauben indianisches Land besetzt haben, gerecht zu entschädigen. Er spricht damit ein großes Problem an: Oft geraten Indigene und Kleinbauern aneinander und streiten sich um dasselbe Land. Soll ein Gebiet demarkiert werden, spielen interessierte Politiker die Kleinbauern gegen die Ur¬einwohner aus.


Staudämme


Zu den Plagen, welche die indianischen Völker heimsuchen, gehören auch die vielen Infrastrukturmaßnahmen der Regie¬rung, seien es Straßen, Kanäle, Stromleitungen, Industrie¬ansiedlungen oder Staudämme. Ein Staudammbau bedroht z.B. die Krahô, Apinajé, Krikati und Gavião in Ostamazonien. Zusammen mit Quilambolas (Nachkommen geflohener Sklaven) und anderen Flussbewohnern waren ihre Vertreter Ende April im Justizministerium in Brasília und protestierten gegen das Wasserkraftwerk Estreito am Rio Araguaia. Gefordert wird die endgültige Einstellung der Bauarbeiten. Die Indigenen fühlen sich dabei durch die Entscheidung der Bundesjustiz bestärkt, die am 20. April wegen der Mängel bei der Genehmigung von Umweltgutachten den Weiterbau stoppte. Seit der Pla¬nung des Wasserkraftwerkes Estreito wächst der Druck auf die Indianergemeinschaften. Immer mehr Ortsfremde ziehen in die Region, besetzen Land, roden den Wald und zerstören so die Natur.
Estreito ist genauso wie Belo Monte oder andere Staudamm¬projekte höchst umstritten, da für ihren Bau sehr viel Land überflutet werden soll, ohne dass die sozialen und wirtschaft¬lichen Folgen für die Anwohner auch nur einigermaßen aus¬reichend untersucht worden wären. Die in der Verfassung vorgeschriebene Konsultation der Ureinwohner fand natürlich auch nicht statt.


Die Nachkommen Sepé Tiarajus müssen weiterkämpfen


Die in diesem Artikel erwähnten Konflikte sind nur Beispiele für viele andere ähnliche Fälle im ganzen Land. Die Nachkommen des legendären Guarani-Führers Sepé Tiaraju müssen deshalb weiterkämpfen, damit sie im Brasilien von heute einen ange¬messenen Platz finden können. Am 7. Februar dieses Jahres jährte sich sein Todestag zum 251. Male. Rund 250 Kaingang, Guarani und Charrua kamen deshalb in São Gabriel in Rio Grande do Sul zusammen, um an dieses Ereignis zu erinnern. Am Ort seiner Ermordung und im benachbarten Coxilha do Caiboaté, wo am 10. April 1756 1.500 Guarani von portu¬giesischen und spanischen Truppen niedergemetzelt wurden, fanden traditionelle Zeremonien und Rituale statt. Tiaraju setzte sich mit der Waffe in der Hand für die Autonomie der Guarani im Grenzgebiet zwischen dem portugiesischen und spanischen Kolonialreich ein und war ein geborener Stratege. Aber gegen die europäische Übermacht hatte auch er keine Chance. In den Worten, die der Guarani-Führer Evergelino Nascimento auf dem Schlachtfeld in Coxilha do Caiboaté hielt, klingt Resignation mit: „Ich denke, in den Tagen von Sepé war hier überall Wald. Vielleicht stand hier eine Araukarie, wahrscheinlich gab es Wildbret, jede Art von Tieren. Jetzt führt der Weg nur durch eine Fazenda und es ist keine einzige Araukarie zu sehen. Und dafür wurde Sepé niedergemetzelt, weil es seine Kultur, seinen Wald verteidigte.“

Bernd Lobgesang, BN 136/2007