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Traurige Tropen

Bernd Lobgesang

Die Lage der indigenen Völker verschärft sich erheblich unter der neuen Regierung.
Die gute Nachricht gleich am Anfang: Der Riesenstaudamm São Luíz am Rio Tapajós wird zunächst nicht gebaut. Das, was einst ein Lieblingsprojekt der abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff war, ist zumindest vorläufig zu den Akten gelegt worden. Die Umweltbehörde Ibama verweigerte kurz vor Beginn der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro pressewirksam die Lizenz zur Ausschreibung des Projekts.

Sie versetzte damit dem acht Gigawatt-Projekt den Todesstoß, für dessen Genehmigung sich der staatliche Energiekonzern Eletrobras seit 2009 einsetzte. Nun könnte man im ersten Moment glauben, dass dieser Rückzug aus einem Projekt der angeblich „grünen“ Energiegewinnung als Sieg auf dem Konto der Munduruku-Indianer und ihrer nationalen und internationalen Unterstützer verbucht werden müsste, dass sich vielleicht sogar Moral und Vernunft endlich einmal in der Energiepolitik des Landes durchgesetzt hätten.
Alles weit gefehlt. Die Fakten sind viel schnöderer Natur: Der brasilianische Staat ist momentan ziemlich pleite und hat ganz einfach nicht das nötige Geld, um ein weiteres pharaonisches Projekt gegen den Widerstand der ortsansässigen Bevölkerung aus dem Boden stampfen zu können. Die politisch einflussreiche Baubranche, die ein neun Milliarden Euro schweres Geschäft in Amazonien gewittert hatte, leistete keinen großen Widerstand gegen die nun erfolgte Einstellung des Projekts. Sie ist viel zu sehr in die korrupten Machenschaften um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras verstrickt. Führende Vertreter der Betonmafia sitzen im Gefängnis und kämpfen darum, durch Drohungen und undurchsichtige Deals so schnell wie möglich wieder ihre Freiheit zurückzuerlangen. Die neue Regierung, an deren Spitze der 75-jährige Präsident Michel Temer steht, hüllt sich sogar in ein grünes Mäntelchen und schlägt Töne an, die man ansonsten in Brasília überhaupt nicht gewöhnt ist. „Wir können die Energieversorgung problemlos mit Windenergie, Biomasse oder kleinen Wasserkraftwerken herstellen“, erklärte etwa Umweltminister José Sarney Filho und sprach damit den brasilianischen Gegnern des Mega-Staudammprojekts São Luiz do Tapajós aus der Seele. Die brasilianische Sektion von Greenpeace, Survival International und alle anderen Staudammgegner wären aber sicherlich schlecht beraten, wenn sie diesen Aussagen eines Politikers vertrauen würden. Momentan ist es angebracht, die Stromschnellen des Rio Tapajós, seine dichten Wälder und die Dörfer der Munduruku unangetastet zu lassen. Aber sollte sich der Wind drehen, wird eine Regierung wie die jetzige, die so wenig die Verfassung respektiert und zudem noch gewinnorientiert, unmoralisch und korrupt ist, die erste sein, die ihr ökologisches Gewissen an den Nagel hängt und den Startschuss für den Bau gibt. Daran ändert auch nichts ihre Entscheidung, dass sowohl die Entwicklungsbank BNDES als auch die staatlichen Stromkonzerne die nächsten zwanzig Jahre kein Geld aus dem Budget für Großprojekte erhalten sollen. Es wäre nicht das erste Mal in der brasilianischen Geschichte, dass politische Entscheidungen in Bocksprüngen erfolgen.

Belo Monte – abschreckendes Beispiel

Währenddessen nähert sich der Bau des Staudamms von Belo Monte am Rio Xingu, der von der abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff mit Polizeigewalt und wohlfeilen Versprechungen gegen die Verfassung und gegen den Widerstand eines Teils der Bewohner der Region durchgesetzt wurde, dem Ende. Die sozialen Folgen dieses weltweit drittgrößten Wasserkraftprojektes sind unübersehbar und äußern sich in rasanten Zuwachsraten der Kriminalität, der Prostitution und der Ausweitung von ansteckenden Krankheiten aller Art. Viele Menschen aus anderen Regionen des Landes sind, angelockt von der Hoffnung auf Arbeit, nach Altamira gezogen und haben sich, da sich ihre Träume in der Regel nicht erfüllten, in den dortigen Slums niedergelassen. Die Einheimischen, die wegen der Aufstauung des Rio Xingu ihre Häuser verlassen mussten, erhielten keine angemessene Entschädigung und die Häuser, in die sie einzogen, erwiesen sich schon nach kurzer Zeit als zu klein, baufällig und teilweise sogar als unbewohnbar. Unübersehbar sind auch die sozialen Schäden in den Indianerdörfern, die am Unterlauf des Rio Xingu liegen. Der Fluss führt durch die teilweise Umleitung weniger Wasser als zuvor, sodass die Siedlungen im wahrsten Sinn des Wortes ziemlich auf dem Trockenen sitzen. Der Fischfang ist zurückgegangen und damit hat sich die Versorgung der indianischen Gemeinden quantitativ und qualitativ verschlechtert. Wieder einmal bestätigt sich, dass Brasilien nicht willens ist, die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft auf ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu schützen. Genauso wenig setzte sich die Regierung Dilma konsequent für den Schutz des amazonischen Regenwaldes und damit für die Erhaltung des Lebensraumes ein, der für viele indianische Völker die Grundlage ihrer Existenz bedeutet. In dieser Beziehung scheinen die Unterschiede zwischen einer „linken“ und einer rechten Regierung, wie sie das Land jetzt wieder leidvoll erfährt, nicht sehr groß zu sein.
Es wirkt deshalb schon fast wie ein schlechter Witz, dass Präsidentin Dilma Rousseff wenige Stunden bevor sie ihre Amtsgeschäfte ruhen lassen musste, fünf neue ökologische Schutzgebiete auswies. Sie liegen ausnahmslos in Amazonien und umfassen mit insgesamt 2,69 Millionen Hektar fast die Fläche des Bundeslandes Brandenburg. „Die neuen Schutzgebiete schließen entscheidende Lücken in der Entwaldungsfront im südlichen Amazonas“, bemerkt Roberto Maldonado dazu, der Waldreferent der deutschen Sektion des WWF. „Die Rinderherden und Plantagen haben sich dort in den vergangenen Jahrzehnten immer tiefer in den Regenwald gefressen. Der Wald bekommt nun einen rund 200 Kilometer langen Schutzgürtel, der die Abholzer hoffentlich aufhält, zumindest aber stark bremsen wird.“ Diese quasi in allerletzter Sekunde errichteten neuen Schutzzonen gehören zum ARPA-Programm (Amazon Region Protected Area), dem weltweit größten Regenwaldschutzprogramm der Welt, zu dessen Finanzierung Deutschland maßgeblich beiträgt. Ihre Einrichtung ist deshalb von ganz besonders großer Bedeutung, weil unter der neuen Regierung der Umweltschutz eine noch geringere Rolle als unter ihrer Vorgängerin spielen wird. Prominente Großgrundbesitzer wie Blairo Maggi, der „Sojakönig“ genannte ehemalige Gouverneur von Mato Grosso, bekleiden jetzt wichtige Staatsämter und können noch ungenierter als zuvor ihre privaten Interessen durchsetzen. Maggi zum Beispiel, der in der Vergangenheit große Waldgebiete abholzen ließ, ist der neue Agrarminister und damit einer der mächtigsten Männer Brasiliens.
Die Großgrundbesitzer, die Erzfeinde der indianischen Völker, ließen auch in diesem Jahr oft ihre Muskeln spielen und schreckten vor offener Gewalt nicht zurück, um immer mehr Land an sich zu reißen und ihre Monokulturen auf Kosten von Mensch und Natur auszuweiten. Wie so oft in der jüngeren Vergangenheit zeigte sich diese Gewaltbereitschaft mit besonderer Härte im Bundesland Mato Grosso do Sul. Allerdings sind die Fazendeiros nicht immer als die direkt Verantwortlichen für diese Taten zu erkennen, denn nicht selten schicken sie Pistolenmänner vor oder schalten die Justiz und die Polizei ein, um ihr angeblich geraubtes Land zurückzuerhalten. Die dort lebenden Guarani-Kaiowá, die in den vergangenen Jahrzehnten fast ihr gesamtes Territorium an Großgrundbesitzer verloren, eroberten einen kleinen Teil durch eine ganze Reihe von Landbesetzungen zurück. Sie werden regelmäßig Opfer von Überfällen, Vertreibungen und im schlimmsten Fall auch von Morden.
Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit belegen das: Am 15. Juni drang eine Gruppe bewaffneter Männer in die Guarani-Gemeinde Tey‘ i Jusu ein und tötete einen jungen Mann und verletzte mindestens weitere vier Personen, darunter auch ein Kind.

Gewalt hält an

Anfang Juli machten Bulldozer die Häuser des Dorfes Apy Ka‘ y platt. Die von dieser Maßnahme betroffenen Guarani-Familien hatten zuvor schon zehn Jahre lang am Rand einer Schnellstraße kampieren müssen. Während dieser Zeit kamen acht Indianer, die von Fahrzeugen erfasst wurden, ums Leben. Jetzt hausen die Ureinwohner, die sich zuvor hilfesuchend an Survival International gewandt hatten, wieder unter ähnlich miserablen Verhältnissen am Straßenrand. Hundert schwer bewaffnete Polizisten überwachten die Zerstörungsaktion, die durch einen Großgrundbesitzer ausgelöst wurde. Er hatte erfolgreich vor Gericht um die Rückgabe seines Landes geklagt. „Wir akzeptieren das nicht. Ich bleibe hier, das ist mein Recht. Wir haben unsere Rechte. Es sind nicht nur die weißen Menschen, die Rechte haben, die Guarani Kaiowá und die indigenen Völker haben ebenfalls Rechte. So viele von uns sind gestorben, so viele Menschen, die von den bewaffneten Männern getötet wurden. (...) Wir haben Tekoha (angestammtes Land) und ich werde auf mein Tekoha zurückkehren“, sagte die Guarani-Anführerin Damiana Cavanha in einem Video, das während der Zerstörungsaktion gedreht und im ganzen Land verbreitet wurde. Es löste zwar einiges Entsetzen in der Öffentlichkeit aus, trug aber nicht dazu bei, dass sich die Lage der Guarani-Kaiowá auch nur im Geringsten entspannte. Die Landknappheit zerstört ihre Kultur und löst unter ihnen Unterernährung, Krankheiten, Depressionen, hohe Gewaltbereitschaft und Trunksucht aus. Besonders schlimm ist allerdings die extrem hohe Selbstmordrate, die gerade unter Kindern und Jugendlichen zu der Höchsten ganz Lateinamerikas zählt. Das ist nicht verwunderlich, denn die jungen Leute haben oft nicht die geringste Zukunftsperspektive. Wegen ihrer schlechten schulischen Bildung bleibt ihnen, wenn sie einmal erwachsen sind, kaum etwas anderes übrig denn als ausgebeutete Hilfsarbeiter in den Betrieben der Großgrundbesitzer zu schuften oder in die Großstädte zu flüchten, wo sie in der Regel in den Favelas enden.
Die Lage der meisten indigenen Völker Brasiliens hat sich extrem verschlechtert. Sie werden bedroht, vertrieben, als „Hindernisse des Fortschritts“ verunglimpft oder zu Opfern von Gewalt gemacht. Großgrundbesitzer, Landspekulanten, Bergwerkskonzerne, Goldsucher und korrupte Politiker, manchmal aber auch Kleinbauern und andere Landbewohner setzen ihnen zu und stellen immer offener ihr Existenzrecht in Frage. Victoria Tauli-Corpuz, eine Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, hielt sich in diesem Jahr in Brasilien auf, um sich über die Lage der indianischen Völker zu informieren. Sie stellte in ihrem vor einiger Zeit erschienenen Abschlussbericht erhebliche Missstände fest. Im Vergleich zu dem Besuch ihres Vorgängers vor acht Jahren gebe es einen beunruhigenden Stillstand, was wichtige Entscheidungen zum Schutz der indigenen Völker betreffe; in einigen Bereichen sei es sogar zu erheblichen Rückschritten gekommen. Dazu gehörten Vorschläge zur Veränderung der Verfassung zu Ungunsten der Indianer, die zum Erliegen gekommene Demarkierung von Land, Androhungen von Landvertreibungen oder ihre Durchführung, Straflosigkeit bei Gewalt und Mord an Indianern, mangelnde Beteiligung der Ureinwohner an Beratungen über Projekte, die direkt ihr Leben berühren, unzureichende gesundheitliche Versorgung, illegale Adoptionen von indianischen Kindern, hohe Kindersterblichkeit, hohe Selbstmordquoten unter Kindern und Jugendlichen, hoher Alkoholkonsum, das beschleunigte Aussterben indianischer Sprachen und eine geringe Schulbildung. Als Fazit stellt die UN-Vertreterin fest, die Lage der Indigenen sei seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahre 1988 niemals so schlecht gewesen wie heute.

Schlechte Aussichten

Sie könnte in nächster Zukunft sogar noch wesentlich schlechter werden, denn eine schon seit Jahren diskutierte Initiative zur Veränderung der 1988 verabschiedeten Verfassung könnte Brasilien in Bezug auf die Menschenrechte wieder um Jahrzehnte zurückwerfen. In den letzten Wochen hat der Druck enorm zugenommen, den der die Verfassung abändernde Antrag PEC 215 endlich zu verabschieden. Da beide Kammern des brasilianischen Parlaments von extrem konservativen Vertretern der Agrarindustrie und der Bergbaulobby beherrscht werden, würde das die Zukunft der indianischen Völker in Frage stellen. PEC 215 zielt nämlich darauf ab, die Regierung zu entmachten und das Recht zur Errichtung von ökologischen Schutzgebieten und Indianerreservaten auf den Kongress zu übertragen. Nicht nur das: Bereits existierende Reservate könnten je nach Belieben verkleinert und ihre Grenzen verschoben werden. Außerdem soll das Prinzip „im Interesse der Nation“ in die Verfassung eingeführt werden. Hochspannungsleitungen, Straßen, Eisenbahnlinien, Staudämme und andere infrastrukturelle Maßnahmen könnten damit leichter als bisher auf indianischem Territorium gegen den Willen der Ureinwohner durchgesetzt werden. War es bisher verboten, Land innerhalb eines Reservates zu verpachten, schon gar nicht an Außenstehende, so soll genau das in Zukunft möglich werden (siehe auch Beitrag Russau/Schulz in dieser Ausgabe). Wer die Geschichte der nordamerikanischen Indianer kennt, weiß, welche fatalen Folgen diese Regelung mit sich bringt: Gerade in Brasilien wird es für findige Großgrundbesitzer ein Leichtes sein, mit Geschenken oder mit nackter Gewalt die indianischen Gemeinden dazu zu bringen, ihnen für wenig Geld fruchtbares Land abzutreten. Die Folge würde sein, dass die Indigenen in ihrem eigenen Reservat nicht mehr die geringsten Befugnisse hätten – eine traurige Vorstellung.
Schon vor über einem Jahr, genau genommen am 27. Oktober, stimmten bereits 27 Abgeordnete eines Ausschusses des Abgeordnetenhauses der PEC 215 zu und nahmen ihn damit einstimmig an. Alle diese Abgeordneten sind Repräsentanten des Agrarsektors. Kurz zuvor verließen einige Abgeordnete, die sich gegen diesen Vorschlag zur Verfassungsänderung wenden, unter Protest den Versammlungssaal und hielten dabei Zettel mit der Aufschrift „Nein zum PEC des Todes!“ in die Höhe. Im ganzen Land kam es damals zu Protesten der Indigenen, sowohl in Brasília als auch in mehreren anderen Großstädten. In zwölf von sechsundzwanzig Bundesländern blockierten sie Überlandstraßen. Auch jetzt rumort es wieder im ganzen Land. In Anbetracht der heutigen politischen Machtverhältnisse sind das verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuche, etwas abzuwenden, was in den Hinterzimmern der Reichen und Mächtigen in Brasilien schon längst beschlossen worden ist. Traurige Tropen.

 

Ausgabe 154/2016