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Wenig Land, wenig Gesundheit - Indigene kämpfen um bessere Lebensverhältnisse

Auch in der zweiten Amtszeit des Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva müssen sich die Ureinwohner Brasiliens mit denselben Schwierigkeiten auseinandersetzen, die auch schon vorher ihre Lage am Rande der nationalen Gesellschaft bestimmt haben. Die Indianer haben landesweit die höchste Säuglingssterblichkeit, die geringste Lebenserwartung und die prozentual höchste Anzahl an Analphabeten.

Im Zentrum der Konflikte, denen die meisten der etwa 235 indigenen Völker ausgesetzt sind, steht fast immer die Landfrage. Es sind Großgrundbesitzer, Kleinbauern, Industrielle, Holzunternehmer und eine Vielzahl staatlicher Projekte, die das Land dieser kleinen Minderheit beanspruchen, die nach offiziellen statistischen Erhebungen kaum mehr als etwa 850.000 Menschen umfasst – und das bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 193 Millionen Brasilianern. Da die Regierung Lula die alte exportorientierte Wirtschaftspolitik ihrer Vorgänger fortsetzt und damit der ungebremsten Vernichtung der natürlichen Ressourcen keinen Riegel vorschiebt, geraten die indianischen Völker immer wieder in den Brennpunkt von Landkonflikten. Gerade in den Regionen, in denen der Staat aufgrund von Korruption oder der Unzugänglichkeit des Gebietes schwach ist, werden diese Auseinandersetzungen mit ständigen Drohungen oder offener Gewalt bis hin zu Morden und Landvertreibungen geführt. Dieser Zustand der Rechtlosigkeit herrscht in weiten Teilen Amazoniens, dem Kernland der indianischen Besiedlung, vor. Aber beileibe nicht nur dort werden die Rechte der Ureinwohner auf ihr Land mit Füßen getreten. Ein Beispiel von vielen ist die kleine Gruppe der Apolima-Arara, die im Bundesland Acre in Amazonien lebt. Im August besetzten einige von ihnen das Büro der für sie zuständigen staatlichen Indianerbehörde FUNAI in der Landeshauptstadt Rio Branco. In Booten, auf LKWs und streckenweise auch zu Fuß waren die Apolima-Arara mehr als 1.000 km unterwegs, bis sie endlich ihre Forderungen der Öffentlichkeit mitteilen konnten. Der ministerielle Erlass, der das Land dieser Indianer zum traditionellen Siedlungsgebiet erklärt und damit ein Minimum an Rechtssicherheit gewährt, war bisher von der dafür zuständigen Indianerbehörde FUNAI nicht veröffentlicht worden. „Wir brauchen diesen Erlass, damit wir Frieden haben. Wir werden ständig von Landbesetzern, Jägern und Holzhändlern bedroht. In unserem Gebiet gibt es Seen, aber wir können nicht fischen, da wir ständig bedroht werden“, erklärte der Kazike Francisco Arara, der die Besetzung des FUNAI-Büros anführte, der anwesenden Presse.{mospagebreak}
Während die Apolima-Arara wenigstens schon über ein demarkiertes Gebiet verfügen und dieses eventuell in einigen Jahren offiziell vom Staatspräsidenten als Indianerreservat durch seine Unterschrift anerkannt wird, stehen andere Indianervölker erst ganz am Anfang dieser viele Jahre in Anspruch nehmenden, nervenaufreibenden Prozedur. Ein besonders schlimmes Exempel für die Missachtung der indigenen Rechte ist nach wie vor das Bundesland Mato Grosso do Sul im Südwesten Brasiliens. Die Demarkation indianischen Landes kommt aufgrund des Widerstandes des Gouverneurs André Puccinelli und der führenden Wirtschaftskreise in diesem von Großgrundbesitz und Sojaanbau bestimmten Bundesland einfach nicht in Gang. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses wurde im August die FUNAI erneut daran gehindert, ihre Arbeit aufzunehmen. Ziel ihrer Untersuchungen sollte es sein, die Landforderungen der Guaraní-Kaiowá zu überprüfen und festzustellen, auf welche Territorien sie Anrechte erheben. Aber die „Föderation für Landwirtschaft und Viehzucht von Mato Grosso do Sul“ (FAMASUL) klagte jetzt gegen dieses Vorhaben und bekam vor Gericht Recht. Die Bundesstaatsanwaltschaft hat zwar unverzüglich gegen das Urteil Berufung eingelegt, jedoch muss mindestens mit einer mehrmonatigen Verzögerung der Studien der FUNAI gerechnet werden. Die Indianerbehörde hatte schon im letzten Jahr versucht, das schwerwiegende Problem des indianischen Landmangels, der das Leben der Indigenen unerträglich macht, in den Griff zu bekommen. Aber bereits nach fünf Tagen mussten damals die Arbeiten der FUNAI-Techniker eingestellt werden, da sie von Pistoleiros massiv bedroht wurden. Es ist kein Wunder, dass die Indianer Mato Grosso do Suls mit diesem Stillstand unzufrieden sind. Alle nationalen und internationalen Solidaritätserklärungen, die vielen landesweiten indianischen Proteste und Widerstandsaktionen der in Mato Grosso do Sul lebenden Ureinwohner sind bisher ergebnislos gewesen. In einer im Februar verabschiedeten Resolution der Guaraní-Kaiowá haben die Ureinwohner ein weiteres Mal darauf hingewiesen, dass in ihrem Bundesland „die wenigsten demarkierten Gebiete sind“, obwohl dort „die zweitgrößte indigene Bevölkerung des Landes lebt“. Die Folgen des Landmangels sind in keiner Region Brasiliens offensichtlicher als in diesem angeblich so entwickelten Bundesland: Die Indianer vegetieren in viel zu kleinen Reservaten dahin oder leben unter Plastikplanen am Rand der Überlandstraßen. Viele sind arbeitslos oder verdingen sich für Niedrigstlöhne bei den Großgrundbesitzern. Ein hohes Maß an Gewalt, Alkoholismus, allgemeine Vernachlässigung der Kinder und die landesweit höchste Selbstmordrate unter Heranwachsenden sind die traurigen Folgen dieser Tragödie.{mospagebreak}
Dabei sieht es in Bezug auf die ärztliche Versorgung in vielen indianischen Dörfern und generell in den ländlichen Regionen, wo viele Indigene verstreut leben, oft ebenfalls sehr düster aus. Dazu trägt nicht nur die Abgelegenheit und die Unzugänglichkeit vieler indianischer Siedlungsgebiete bei, die gerade in Amazonien oft nur über die Flüsse, Erdpisten oder sogar nur aus der Luft erreichbar sind, sondern auch strukturelle Mängel der dafür zuständigen staatlichen Gesundheitsstiftung FUNASA verschlimmern zusätzlich die sowieso schon schwierigen Verhältnisse. Es gibt zu wenig speziell für diese Tätigkeit ausgebildete Ärzte, die den vielen Strapazen der langen Reisen standhalten oder vor Ort in den Dörfern arbeiten. Außerdem fehlt es an Geld, um die Fahrtkosten und die Medikamente bezahlen zu können. Ihre Folgen sind, dass immer wieder Indianerdörfer wochen- oder monatelang nicht von ärztlichen Teams besucht werden. Die örtlichen Gesundheitsposten funktionieren oft mehr schlecht als recht, denn das indianische Personal verfügt über zu wenige Untersuchungsgeräte und zu geringe Kenntnisse, um gerade gegen von außen eingeschleppte Krankheiten wirkungsvoll vorgehen zu können. Besonders leiden müssen unter diesen unerträglichen Zuständen die Schwangeren und die Kinder. Gerade Säuglinge und Kleinkinder fallen behandelbaren Infektionskrankheiten zum Opfer, da sie nicht geimpft worden sind. Aber auch bei anderen Patienten notwendige Operationen werden aufgrund der schwierigen Transportmöglichkeiten so lange hinausgezögert, bis es zu spät ist. Die in einigen  Städten angesiedelten Indianerhäuser, in denen Indigene behandelt werden können, sind schlecht ausgerüstet und haben auch in der Regel nicht das Personal, um Schwerkranken zu helfen.{mospagebreak}
Wegen dieser unerträglichen Lage kommt es immer wieder zu Protesten und Demonstrationen der Indigenen. Aufgebrachte Ureinwohner besetzten deshalb im Juni die Büros der FUNASA in Manaus und in São Félix do Araguaia. Sie protestierten damit auch gegen nationale Ausschreibungen der FUNASA, mit denen die Gesundheitsbehörde die indigene Gesundheitsbetreuung in den Dörfern verändern will. Seit 2003 liegt sie in den Händen von indigenen Organisationen. Daran soll sich nach dem Willen der Indianer auch nichts verändern, die eine weitere Verschlechterung der Gesundheitsversorgung befürchten, sollte sie von Verbänden durchgeführt werden, die nicht in den dörflichen Gemeinschaften verankert sind. „Wenn die FUNASA andere Organisationen verpflichtet, befürchten wir, dass sie uns nicht versorgen, sondern nur das Geld kassieren, das sie dafür erhalten“, meinte zum Beispiel ein Vertreter der Karajá während der Besetzung des FUNASA-Büros in São Félix do Araguaia. Damit die medizinische Versorgung der indigenen Völker endlich besser wird, schlägt der Vizepräsident des Indianermissionsrates CIMI, Roberto Liebgott, sogar vor, die Bundesstaatsanwaltschaft oder die Staatsanwaltschaft für Arbeit einzuschalten. Nur in einer stärkeren Kontrolle sieht er die Chance für eine Verbesserung der Verhältnise, die nach seinen Worten von der „Untätigkeit und der Nachlässigkeit von Mitarbeitern und Einrichtungen“ geprägt wird, „deren Aufgabe es ist, für die Gesundheitsbetreuung zu sorgen“.
Die Arbeiterpartei PT und an ihrer Spitze Luiz Inácio Lula da Silva müssen also noch viel tun, wenn sie die Versprechungen erfüllen wollen, die sie den Indigenen in den Wahlkämpfen gemacht haben. 

Bernd Lobgesang

Nr. 140-2009