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Zerstörung statt Fortschritt

Mit Belo Monte könnte in naher Zukunft am Rio Xingu einem der längsten Nebenflüsse des Amazonas, das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt entstehen. Das mit Abstand größte liegt am Jangtsekiang in Zentralchina am Dreischluchtenstaudamm, gefolgt von Itaipu am Rio Paraná an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay.

Mit Belo Monte könnte Brasilien ein weiteres Mal seinem zweifelhaften Ruf gerecht werden, dass in diesem schier grenzenlosen Land alles größer, breiter, mächtiger ist als in den meisten anderen Ländern dieser Welt. Die Regierung unter Führung der neuen Präsidentin Dilma Rousseff setzt kompromisslos den Kurs ihres Vorgängers und PT-Parteifreundes Lula fort und propagiert wie während ihrer Zeit als Energieministerin den sofortigen Bau von Belo Monte. 72 Turbinen sollen in einigen Jahren am Rio Xingu im Bundesland Pará in Amazonien 11.000 Megawatt Strom erzeugen (Dreischluchten: 18.000 MW, Itaipu: 14.000 MW). Diese Energie soll zum größten Teil für die industrielle Erschließung Amazoniens, u.a. für die Aluminiumproduktion und den Bergbau, bereitgestellt werden.

Um dieses pharaonische Projekt verwirklichen zu können, müssen 500 km² Regenwald gerodet werden. Weitere 140 km² Land fallen ebenfalls der Aufstauung zum Opfer; darunter befindet sich ein Drittel der Fläche der ca. 86.000 Einwohner zählenden Stadt Altamira. Insgesamt müssen zwischen 16.000 und 25.000 Menschen umgesiedelt werden. Die Baukosten belaufen sich bisher auf stolze 8,7 Milliarden €. Da die brasilianische Regierung trotz aller nationalen und internationalen Proteste auf der Errichtung von Belo Monte beharrt, sichert sie auch die Finanzierung des Projekts mit erheblichen Garantien ab: Die Brasilianische Entwicklungsbank (BNDES) könnte im Extremfall 80% der Baukosten übernehmen. Sollten die Bauherren, das Konsortium Norte Energia, pleite gehen, würde der Staat sofort mit frischem Geld einspringen. Immerhin, so behauptet die Regierung, stehe die nationale Sicherheit Brasiliens auf dem Spiel, denn ohne den Strom von Belo Monte werde die Nation in naher Zukunft nicht in der Lage sein, sich ausreichend mit eigener Energie zu versorgen. Abgesehen von dem Hinweis auf die Autonomie in Energiefragen spielt natürlich auch die Tatsache eine große Rolle, dass verschiedene staatliche Pensionsfonds an dem Bauprojekt finanziell beteiligt sind. Der Staat steckt also tief drin in diesem Geschäft.

Wer gegen Belo Monte ist, handelt sich deshalb auch schnell den Vorwurf ein, gegen den Fortschritt und gegen die nationalen Interessen des Landes zu sein. Dieser Vorwurf, den die staatliche Propagandamaschinerie reflexartig erhebt, hinterlässt im Land überall seine Spuren. Deshalb ist die öffentliche Meinung auch tief gespalten. Der Mythos vom solidarischen Staat steckt vielen Brasilianern im Kopf, die Aussicht auf Arbeitsplätze, billige Energie, Wirtschaftswachstum zieht in einem Land, das es gerade erst geschafft hat, sich von einigen der schlimmen Fesseln der Unterentwicklung, wie z.B. der Unterernährung vieler Millionen, zu befreien. Die sozialen Bewegungen, die gegen Belo Monte Sturm laufen, sind noch am besten auf dem Land verankert, ansonsten sind sie schwach. In den Städten fehlen ihnen einflussreiche Ansprechpartner. In den urbanen Zentren wissen die meisten wenig von Amazonien, und die eigenen Probleme drücken stärker als diejenigen von Menschen in dem Tausende von Kilometern entfernten und auch mental so weit weg liegenden Amazonien. Die Regierungsparteien, darunter die Arbeiterpartei (PT), befürworten natürlich zum größten Teil Belo Monte. Der Gewerkschaftsdachverband CUT steht der Regierung sehr nahe und ist allein schon deshalb dafür, weil er sich durch Belo Monte mehr Wirtschaftskraft und damit einhergehend neue Arbeitsplätze verspricht. Es ist darum auch kein Wunder, dass der CUT-Präsident zu den einflussreichsten Befürwortern des Projekts gehört.

Die Lage ist also durchaus anders als in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals wollte bereits die brasilianische Regierung in derselben Gegend am Rio Xingu unter dem schönen Namen Kararaô ein noch gigantischeres Energieprojekt auf Biegen und Brechen durchsetzen. Da Brasilien damals ein wirtschaftlich wesentlich schwächeres Land als heute war, musste es sich Geld bei der Weltbank leihen. Durch großen nationalen und internationalen Druck gelang es damals einer agilen Widerstandsbewegung, die Weltbank so unter Druck zu setzen, dass sie schließlich ihre Kreditzusagen zurückzog. Damit war das Projekt gescheitert. Heute ist der Einfluss des Auslandes geringer, weil es so gut wie keine Möglichkeiten gibt, finanziellen Druck auf die brasilianische Regierung auszuüben.

Trotzdem lebt der Widerstand. Bevor die Regierung den Bauauftrag an Norte Energia vergab, fanden vier von der Regierung organisierte öffentliche Anhörungen statt, drei davon in der Region von Altamira und eine in Belém, auf denen die Bevölkerung ihre Bedenken und ihren Unmut über Belo Monte äußerte. Da die Informationen der staatlichen Behörden, darunter diejenigen des staatlichen Umweltinstituts (Ibama) und der Indianerstiftung (FUNAI), aber lückenhaft und spärlich waren, bezeichnete die Staatsanwaltschaft von Pará diese Anhörungen als Farce und unterstützte die ablehnende Haltung der Staudammgegner. In der Folgezeit gab es für sie zwar einige juristische Erfolge, die zu kurzfristigen Aufschiebungen der Bauvergabe und des Baubeginns führten, aber am Schluss setzte sich die Regierung immer wieder juristisch durch. Die Projektgegner, zu denen die Indianervölker vom Rio Xingu, Kleinbauern, Fischer und andere Anwohner gehören, reagierten mit Straßenblockaden und Demonstrationen. Sie blockierten den Straßenverkehr in Altamira und auf der Transamazônica. Sie informierten die ansässige Bevölkerung mit Flugblättern und Veranstaltungen über die fatalen Folgen des Bauvorhabens und setzten sich massiven Bedrohungen durch staatliche Behörden, Landspekulanten, Geschäftsleuten und Großgrundbesitzern aus. Sie riefen die Interamerikanische Menschenrechtskommission der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) an und entsandten Delegationen nach Brasília, um mit der Regierung zu verhandeln, aber sie erreichten nicht die selbstgesteckten Ziele.{mospagebreak}

Dr. Bermann Celio, Professor am Institut für Elektrische Energiesysteme der Universität São Paulo, äußerte erhebliche technische Bedenken an Belo Monte, erhielt aber keine Antwort auf seine Fragen. Schließlich erarbeiteten 40 brasilianische Wissenschaftler, Forscher und Universitätsprofessoren eine Umweltverträglichkeitsstudie zu Belo Monte und kamen zu dem Ergebnis, dass die Folgen der Aufstauung des Rio Xingu weitaus gravierender sein werden, als sie das unter sehr zweifelhaften Umständen erarbeitete Gutachten der Umweltbehörde (Ibama) beschreibt. Die Studie der Professoren geht davon aus, dass das Wasser aufgrund von Verschmutzungen und der Verrottung von Biomasse, so wie es auch schon bei anderen Staudammprojekten in den Tropen vorher der Fall war, umkippen und ungenießbar sein wird. Die Größe des Sees sei zudem falsch berechnet; er werde größer als geplant sein. Zwei oder drei Indianerdörfer würden trotz aller gegenteiligen Beschwichtigungen über kein Trink- und Waschwasser mehr verfügen. Es ist kein Wunder, dass auch diese Untersuchung von der Regierung nicht beantwortet wurde, dafür aber den Widerstand der Baugegner stärkte und zu neuen Protesten, neuen Widerstandsaktionen ermunterte.

Im Februar 2011 hielt sich erneut eine Delegation von Indianern und Vertretern der Zivilgesellschaft in Brasília auf und übergab einem Regierungsvertreter 604.000 Unterschriften gegen Belo Monte. Die Hoffnung, die Unterschriften direkt der Präsidentin Dilma Rousseff überreichen und mit ihr über das Projekt sprechen zu können, erfüllte sich dagegen nicht. Zuvor hatten über 300 Indianer zwei Tage lang mit traditionellen Tänzen und Gesängen vor dem Kongressgebäude gegen die Zerstörung der Natur und gegen den Verlust ihres kulturellen Lebensraumes protestiert. Die Staatsregierung weiß natürlich, dass gerade Bilder von protestierenden Indianern national, mehr aber noch international ein schlechtes Bild vermitteln. Darauf reagiert sie schon seit einiger Zeit mit der Taktik des Teilens und Herrschens. Zusammen mit dem Baukonsortium Energia Norte versucht sie durch Geld und Geschenke den indianischen Widerstand zu unterhöhlen. Anscheinend nicht ganz ohne Erfolg. „Die Bedürftigkeit der Menschen wird ausgenutzt. Es werden Autos, Motorräder, Mobiltelefone und sogar Geld dafür angeboten, dass die Indigenen vom Kampf gegen Belo Monte ablassen und sich auf die Seite von Norte Energia schlagen. Am schlimmsten ist jedoch, dass die FUNAI dagegen überhaupt nichts unternimmt“, erklärte vor kurzem Juma Xupaia, der ehemalige Vorsitzende der „Vereinigung der Indigenen von Altamira“ (AIMA). Er wurde Ende Januar genauso wie der übrige AIMA-Vorstand von der Mehrheit der Versammelten abgewählt, die den Versprechungen der FUNAI Glauben schenkt und sich durch Geschenke einlullen lässt.

Anfang April 2011 erlebte allerdings die Widerstandsfront gegen Belo Monte einen neuen Auftrieb. Die bereits erwähnte Interamerikanische Menschenrechtskommission der OAS forderte in einem Schreiben die brasilianische Regierung auf, unverzüglich die Genehmigungsverfahren und die Bauarbeiten auszusetzen. Es müssten „dringende Maßnahmen“ ergriffen werden, „um das Leben und die persönliche Unversehrtheit“ von zehn von Belo Monte betroffenen indigenen Gemeinschaften zu schützen. Die Indianer müssten ihrem kulturellen Entwicklungsstand entsprechend Informationen über das Projekt erhalten. Außerdem bräuchten sie einen Zugang zu den Umweltstudien. Der brasilianische Staat sei verpflichtet, Maßnahmen gegen die drohende Ausbreitung von Krankheiten zu ergreifen, die infolge des Staudammbaus die indianischen Völker heimsuchen könnten. Innerhalb von 15 Tagen will die Kommission über die eingeleiteten Maßnahmen informiert werden. Wie nicht anders zu erwarten war, reagierte die brasilianische Regierung heftig auf diese klaren Forderungen. Senatspräsident José Sarney, Außenminister Antonio Patriota und Bergbau- und Energieminister Edison Lobão äußerten sich besonders aggressiv und nannten das Schreiben der Menschenrechtskommission „absurd“, „ungerechtfertigt“ oder sogar eine „Einmischung in innere Angelegenheiten Brasiliens“. Die Staatsanwaltschaft von Pará dagegen sieht sich in ihrer Kritik an Belo Monte ein weiteres Mal bestätigt und hofft, dass zwölf laufende Prozesse gegen den Staudammbau endlich wieder aufgenommen und vor dem höchsten brasilianischen Gericht verhandelt werden.

Das unmissverständliche Schreiben der OAS ist ein Hoffnungsschimmer für alle diejenigen, die wie Erwin Kräutler, Bischof von Altamira, Belo Monte für ein „Monument des Wahnsinns“ halten. Erst letztes Jahr erhielt Kräutler für sein Engagement zugunsten des amazonischen Regenwaldes und für den Schutz der indianischen Völker den Alternativen Nobelpreis. Bestätigt fühlen kann er sich auch durch die Vorfälle, die Anfang April das Bundesland Rondônia erschütterten. Unter großen Protesten hatte dort vor drei Jahren der Bau des Wasserkraftwerkes Jirau begonnen. Die ursprüngliche Kostenkalkulation wurde bisher schon um 45% überschritten. Ein Abschluss der Bauarbeiten liegt trotz des ursprünglich vorgesehenen Termins im März 2012 noch in weiter Ferne. Jetzt verbrannten auch noch aufgebrachte Bauarbeiter wegen unzumutbarer Arbeitsverhältnisse und nicht ausgezahlter Löhne ihre Baracken und 60 Busse und verließen in Scharen die Baustelle. Steigende Kriminalität und Umweltzerstörung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und völlige Überforderung der sozialen Systeme sind die Folgen Jiraus für das Bundesland Rondônia. Ironie des Schicksals: Aufgrund des massiven Kostenanstiegs für den Bau des Wasserkraftwerkes dürfte für die meisten Bewohner der Strompreis unbezahlbar sein.

Bernd Lobgesang

Nr. 143-2011