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Zurück in die Vergangenheit

Staat und Indigene auf Konfrontationskurs

Bernd Lobgesang

Seitdem die Regierung von Staatspräsident Temer im Mai 2016 durch einen kalten Putsch an die Macht kam, krempelt sie Brasilien durch ihre neoliberale Politik gehörig um - ohne Rücksicht auf Verluste: Sozialprogramme werden radikal gekürzt oder ganz abgeschafft und die Privatisierung von Staatsbetrieben schreitet munter voran. All dies geschieht im Interesse der brasilianischen Oberschicht und ausländischer Investoren und geht auf Kosten der breiten Masse der brasilianischen Bevölkerung. Extrem konservative Kräfte, die im Abgeordnetenhaus und im Senat die Mehrheit stellen, fordern und unterstützen diese Politik. Bei diesen Konservativen handelt es sich um Großgrundbesitzer, um mit dem Militär und der Polizei verflochtene Kreise sowie um Mitglieder evangelikaler Kirchen, wobei die Übergänge zwischen diesen Gruppen fließend sind. Ihnen allen aber waren die sozialpolitischen Maßnahmen der ehemaligen Staatspräsidenten aus den Reihen der Arbeiterpartei (PT), die den sozial ungerechten und rassistischen Strukturen der brasilianischen Gesellschaft ein bisschen auf den Leib rückten, ein Graus: Oben soll gefälligst oben und unten soll unten bleiben.

Es verwundert deshalb nicht, dass die neuen Machthaber jetzt mit aller Kraft diejenigen an den Rand drängen, die von den Entwicklungsprojekten ihrer Vorgänger profitierten und millionenfach aus bitterster Armut in bessere Verhältnisse aufrückten. Für die Indigenen, die mit 0,4% der Gesamtbevölkerung eine verschwindend kleine Minderheit darstellen, bedeutet der politische Umsturz in Brasília noch mehr als für andere eine Katastrophe mit unbekanntem Ausgang. In den Augen der jetzt die Regierung stützenden gesellschaftlichen Kräfte sind die Ureinwohner des Landes Störenfriede, notorische Faulenzer, Fortschrittsfeinde, manchmal sogar Agenten des Auslandes, die angeblich Brasilien daran hindern sollen, endlich ein Land der entwickelten Ersten Welt zu werden.
Ohne Zweifel muss an dieser Stelle aber auch Folgendes berücksichtigt werden: Schon während der Regierungszeit der abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff hatte sich der Wind gedreht; die Indigenen gerieten zunehmend ins Visier einer neoliberalen Entwicklungspolitik, die kaum noch Rücksicht auf die Natur und die in und von ihr lebenden Bevölkerungsgruppen nahm. Vermeintlicher Fortschritt um jeden Preis wurde zur Maxime. Rousseff ließ sich sogar dazu hinreißen, die Indigenen als Gegner des Fortschritts zu bezeichnen, weil viele von ihnen gegen die staatlichen Großprojekte und damit gegen die Vernichtung ihres Lebensraumes kämpften.
Unter Temer nun ist aber alles noch sehr viel schlimmer geworden. Die jetzige Regierung braucht sich keine Maske aufzusetzen, sie zeigt offen ihre Reißzähne. Das äußert sich z.B. darin, dass die dem staatlichen Indigenenschutzdienst FUNAI zur Verfügung gestellten Finanzmittel um sage und schreibe 45% zusammengestrichen wurden. Hunderte von Mitarbeiter dieser Organisation, darunter auch viele erwiesene Fachkräfte, erhielten ihre Kündigung. Damit ist die Arbeit der FUNAI, deren Mitarbeiter zum Teil in den Reservaten lebten und zwischen den Indigenen und der sie umgebenden nationalen Gesellschaft bei Konflikten vermittelten, weitgehend zum Stillstand gekommen.
Es ist klar: Der Staat will die FUNAI austrocknen und sich damit aus der politischen Verantwortung ziehen, die er laut der 1988 in Kraft getretenen Verfassung gegenüber den Indigenen übernommen hat. Diese Verfassung legt fest, dass der Staat die Rechte der Ureinwohner auf eigenes Land, eigene Kulturen und Sprachen schützt. Das bedeutet unter anderem, dass der Staat durch Fachleute die Vermessung und Kartierung des indigenen Bodens durchführt. Am Schluss dieser aufwendigen Prozedur steht dann die Unterschrift des Staatspräsidenten. Durch sie erst wird ein von Indigenen beanspruchtes Gebiet zum vom Staat anerkanntes Reservat.
Gegenwärtig bewegt sich die Politik wieder zurück in die Vergangenheit, zurück in die Zeit vor der Rückkehr Brasiliens zur Demokratie. Da die FUNAI personell extrem ausgedünnt wurde, führt sie keine weiteren Demarkationen mehr durch. Was noch schlimmer ist: Die ewigen Feinde der indigenen Völker, die Großgrundbesitzer und ihre politischen Vertreter, starten immer neue Gesetzesinitiativen und Kampagnen, um die bereits existierenden Reservate zu verkleinern oder ganz von der Landkarte verschwinden zu lassen. Dabei schrecken sie auch vor offensichtlichen Verletzungen der Verfassung nicht zurück. So starteten einige Politiker der „Bancada ruralista“, der Allianz der Großgrundbesitzer im Parlament, die Initiative „Zeitmarke 1988“. Sie besagt, dass nur diejenigen Gebiete als Indianerreservate anerkannt werden sollen, die 1988, also im Jahr der Verabschiedung der Verfassung, nachweislich von indigenen Völkern bewohnt wurden. Abgesehen von der Tatsache, dass einmal demarkierte und offiziell anerkannte Territorien unter normalen Umständen nicht mehr aufgelöst werden können, solange dort Ureinwohner leben, verstößt diese „Zeitmarke 1988“ natürlich auch bewusst und gewollt gegen gängige brasilianische Rechtsnormen. Gerade während der Militärdiktatur, die von 1964-1985 andauerte und die die Menschenrechte der Bevölkerung mit Füßen trat, herrschte in den Indigenenregionen, insbesondere in Amazonien, absolute Rechtlosigkeit. Unter der Parole, das angeblich menschenleere Amazonien müsse besiedelt und ökonomisch erschlossen werden, drangen im Auftrag und mit der Unterstützung der Militärs Großgrundbesitzer, Kleinbauern, Goldsucher, Abenteurer jeder Art sowie in- und ausländische Unternehmer ins Landesinnere vor und vertrieben oft die Menschen, die dort schon seit langem lebten – die Indigenen. Träte also die „Zeitmarke 1988“ in Kraft, würden unzählige Völker, die in den letzten Jahrzehnten in ihre traditionellen Gebiete zurückkehren konnten, genau dieses Land wieder verlieren. Glücklicherweise wies der auch für Fragen der Verfassung zuständige Oberste Gerichtshof des Landes auf die Ungesetzlichkeit des Vorhabens hin und erklärte alle Vorstöße in diese Richtung für null und nichtig. Damit wurde eine wichtige Schlacht gewonnen, aber der Kampf um das indigene Land geht unerbittlich weiter.

Massaker auf dem Land

Seitdem die Regierung Temer an der Macht ist, nimmt die Gewalt gegen die Indigene systematisch zu. Bei einem Landkonflikt im Mai diesen Jahres in Maranhão im Nordosten des Landes wurden 13 Mitglieder des Volkes der Gamela von etwa 200 Fazendeiros und Landarbeitern mit Macheten, Äxten und Schusswaffen brutal angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Einigen Indianern wurden die Hände abgehackt oder die Zunge herausgeschnitten. Die Niederlassung der UNO in Brasilien forderte wegen der Schwere des Falls eine „rigorose Untersuchung“ durch die Behörden und „null Toleranz“ gegenüber jeglicher Form der Gewalt. Die Gamela beanspruchen Land, das ihnen schon die portugiesische Krone zusicherte. 1970 wurden sie von dort vertrieben, kehrten aber 2015 wieder zurück. Seitdem gab es dort bereits 137 Tote, die meisten von ihnen waren Indigene. Der letzte Überfall auf die Indigenen legt den Schluss nahe, dass eine neue Stufe der Gewalteskalation erreicht wurde. Und der Staat ist daran keineswegs unbeteiligt. „Die Art der Verletzungen deutet auf die Absicht größtmöglicher Erniedrigung hin. Der durch die Regierung und die Agrarlobby geschürte Hass gegenüber der indigenen Bevölkerung in Brasilien ist derzeit unbeschreiblich“, erklärte die Brasilien-Länderreferentin Almute Heider von Misereor dazu.
Ein weiterer Ausbruch von Gewalt, der bis in die Schlagzeilen der internationalen Presseorgane vordrang, ereignete sich in einer ganz anderen Region des Landes. Sie erregt allerdings wegen ihrer völligen Abgeschiedenheit normalerweise kein Interesse. Es geschah im äußersten Westen Amazoniens im Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien.Ans Tageslicht kam der Vorfall auch nur durch einen Zufall: Einige Goldsucher prahlten in einer Kneipe in der Nähe der brasilianisch-kolumbianischen Grenze damit, mehrere Mitglieder eines isoliert im Regenwald lebenden Volkes getötet und anschließend die Leichen in Stücke geschnitten zu haben. Insgesamt sollen bis zu zehn Indigene auf diese Weise ermordet worden sein. Die Goldsucher verteidigten sich später damit, sie hätten um ihr eigenes Leben gekämpft. Auch wenn das stimmen sollte, bleibt doch die Tatsache unumstößlich, dass sie sich im „Terra Indígena Vale do Javari“ genannten Schutzgebiet befanden. Ihre Anwesenheit war also absolut illegal.
Das Massaker geschah im August am Rio Jandiatuba im Bundesland Amazonas. Die Opfer stammen wahrscheinlich aus der als „Pfeilschießer“ genannten Gruppe, von deren Existenz man bereits seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiß. Die Region am Rio Jandiatuba ist dicht bewaldet und wegen fehlender Straßen außerordentlich schwer zugänglich. Im erwähnten Indigenenschutzgebiet rund um den Rio Javari sind ungefähr 15 der insgesamt 110 in Brasilien nachgewiesenen indigenen Gruppen beheimatet, die bisher noch keinen Kontakt zur westlichen Zivilisation aufgenommen haben. In der Regel handelt es sich dabei offensichtlich um eine bewusste Reaktion der Ureinwohner. Sie wissen, dass sie den Kürzeren ziehen, wenn sie ihre Isolation aufgeben und in Berührung mit der brasilianischen Gesellschaft kommen. Den Behörden war die unerlaubte Anwesenheit von Goldsuchern schon längst bekannt. Kleinbauern, Indianerführer und Vertreter der katholischen Kirche, darunter auch des Indigenenmissionsrates CIMI, hatten sich darüber beschwert, aber nichts war geschehen. Erst nach dem Massaker wurden jetzt erste Maßnahmen zur Vertreibung der Eindringlinge ergriffen.          
Während der Oberlauf des Rio Jandiatuba zum erwähnten Schutzgebiet Javari gehört, liegen sieben Dörfer der Kambeba-, Kokama- und Tucuna-Indianer am mittleren und unteren Flusslauf und damit außerhalb dieser Zone. Alle Maßnahmen zur Vermessung ihres Landes sind jetzt auf Eis gelegt worden. Gleichzeitig wächst der Druck auf sie. Goldsucher und Großbauern dringen auf ihr Land vor und verschärfen damit die sozialen Konflikte. Indirekt werden damit auch die nicht kontaktierten Völker, die tiefer im Regenwald leben, gefährdet, denn die sieben Dörfer bilden eine Art Schutzwall. „Weitere Angriffe und Morde sind wahrscheinlich. Die Kürzungen des Budgets der FUNAI schaden dem Leben der Indigenen, insbesondere den unkontaktierten Völkern, die am stärksten betroffen sind.“, erklärte Paulo Marubo, Präsident der „Univaja“, einer Organisation für indigene Rechte im brasilianischen Grenzland. Dass rasch etwas zum Schutz der isolierten Dorfgemeinschaften geschehen muss, ist ihm und allen anderen Vertretern der Indigenenrechte klar, denn vielleicht war das Massaker am Rio Jandiatuba nicht das einzige der letzten Monate. Einige Berichte deuten darauf hin, dass es in einer anderen Region im Javari-Gebiet zu zwei weiteren Massakern an nicht kontaktierten Ureinwohnern gekommen ist. Eine Bestätigung dafür liegt allerdings noch nicht vor.

Trübe Aussichten

In Anbetracht der staatlichen Politik protestieren landesweit Indigene und die mit ihnen verbündeten Kräfte der brasilianischen Zivilgesellschaft. Immer wieder demonstrieren sie in São Paulo und in anderen Städten gegen die Auflösung indigener Schutzgebiete in Amazonien und gegen die Aufhebung von Maßnahmen, die den Schutz des weltweit größten Regenwaldes garantieren sollen. Trotz der allgemein düsteren Lage können ab und zu sogar kleinere Erfolge erzielt werden. Nachdem die Regierung Temer im August die Aufhebung eines etwa 46.000 km² großen Schutzgebietes in den Bundesländern Pará und Amapá dekretiert hatte, wuchs der nationale und internationale Widerstand so sehr an, dass sie diese Maßnahme einige Wochen später wieder zurückziehen musste. Zuvor hatte schon Bundesrichter Rolando Spanholo die Regierungsmaßnahme aufgehoben, da sie ohne offizielle Zustimmung des Kongresses getätigt worden sei. Die auch als „Renca“ bezeichnete Region wurde 1984 von der damaligen Militärregierung unter Schutz gestellt, um die Ausbeutung von Bodenschätzen durch internationale Unternehmen zu verhindern. In den darauffolgenden Jahren wurden aber ca. 70% der Region in Naturschutzgebiete umgewandelt. Heute sind es insgesamt sieben und zusätzlich gibt es zwei Indigenenreservate, darunter eines der Wajapi. Unter dem Boden der mit dichtem Wald bedeckten Region werden große Lagerstätten an Gold, Mangan, Eisenerz, Kupfer und Aluminium vermutet. „Wir wollen neue Investoren anlocken, mehr Wohlstand und neue Arbeitsplätze schaffen“, pries deshalb Energieminister Fernando Bezerra Coelho Filho das Projekt an, das seine Gegner als die seit mindestens 50 Jahren schwerste Attacke gegen den amazonischen Regenwald bezeichnen. Dass jetzt die Aufhebung des Schutzstatus erreicht wurde, ist leider nur ein kurzfristiger Etappensieg. Das Energieministerium hat bereits verlauten lassen, dass die Pläne zur wirtschaftlichen Erschließung der Renca-Region, die etwa so groß wie Dänemark ist, bald wieder auf dem Kabinettstisch liegen sollen. Diese Verlautbarung und alle anderen der Regierung Temer unterstreichen, dass sie auch in Zukunft nichts zum Schutz der etwa 240 indigenen Völker Brasiliens tun wird. Es bleibt deshalb nur zu hoffen, dass sie selbst bald der Geschichte angehört, denn eine weitere Rückkehr in die Vergangenheit gefährdet die Existenz aller Ureinwohner des Landes.

 

Ausgabe 156/2017