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Brasilianische Stadtliteratur der Gegenwart

Brasilien hat sich im Laufe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit von einer ländlichen in eine urbane Gesellschaft  verwandelt. Nach den aktuellen Statistiken leben mehr als 80 % der Bevölkerung dieses Landes von kontinentalen Ausmaßen (Australien: 7.692.030 km² - Brasilien: 8.514.215 km²) in urbanen Räumen.

Viele der brasilianischen Großstädte haben im Laufe der letzten Jahrzehnte ihre Einwohnerzahl sowohl auf Grund der Geburtenzahlen, vor allem aber auch als Folge der Migrationsströme innerhalb Brasiliens – vor allem vom Norden und Nordosten in den Südosten - mehr als verdoppelt. Die beiden Megalopolis, São Paulo (ca. 20 Millionen Einwohner) und Rio de Janeiro (ca. 12 Millionen Einwohner) sind die eindrucksvollsten und auch dramatischsten Schauplätze dieses Transformationsprozesses.
Folge der rasanten Beschleunigung des sozialen Wandels, war eine Zunahme der wirtschaftlichen Widersprüche und damit der Kluft im Lebensstandard zwischen Armen und Reichen und folglich auch eine Verschärfung der sozialen Konflikte. Erst in den letzten Jahren der Regierung Lulas hat sich hier eine Wende abgezeichnet. Die Probleme dieses Transformationsprozesses konzentrieren sich vor allem in diesen Megastädten. Sie finden ihren Ausdruck in einem harten Verteilungskampf bei dem der Gegner nicht mehr die Naturgewalten, die Dürre, der Urwald, die räumliche Unendlichkeit des Landes, sondern andere soziale Gruppen sind. Die Städte, voran Rio de Janeiro und São Paulo sind so zu Brennpunkten der brasilianischen „Wirklichkeit“ geworden. Das ist sicher der wichtigste Grund dafür, dass eine erzählende Literatur, die mit einem Realismusanspruch auftritt, diese Großstädte zum Schauplatz gewählt hat.
Einer der elementaren Widersprüche dieser auf Produktion und Konsum hin orientierten urbanen Welt ist ihre Tendenz, unablässig bei der Vielzahl ihrer Bürger Bedürfnisse und Begehren zu produzieren, deren Befriedigung und Erfüllung sie gleichzeitig verwehrt. Für viele wird damit der Wunsch zu leben, so wie es die Bilder der Medien, der Reklame aber auch vieler öffentlicher Räume vorführen zu einer bloßen Illusion und auf die Notwendigkeit des Kampfes um das bloße Überleben reduziert. Das aber bedeutet eine gesteigerte Bereitschaft zur Gewalt. So ist das Phänomen der Gewalt eines der markantesten und meist erörtertsten in der brasilianischen Literatur der letzten Jahrzehnte, und die Vorstädte und Elendsviertel, privilegierte Schauplätze dieses Kampfes, haben sich mehr und mehr zu den Orten entwickelten, denen sich dieses Erzählen stellt. {mospagebreak}
Dies beginnt bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Erzählungen João Antônios und wird dann sehr schnell in dem letzten Roman der international anerkanntesten brasilianischen Autorin Clarice Lispector mit einem anderen Problem verknüpft, dem Problem der literarischen Darstellbarkeit dieser Welt. In dem Roman  Die Sternstunde - A Hora da Estrela, steht der Erzähler vor dem Dilemma, wie er über eine Erfahrung schreiben kann – die der radikalen Armut  - die nicht seine eigene ist. Thema des Romans sind der Versuch und die Bemühungen einer jungen Frau aus dem Nordosten sich in Rio de Janeiro ein neues Leben aufzubauen. Der Erzähler Rodrigo, den Clarice Lispector zu einer Figur ihres Romans gemacht hat, fragt sich permanent: Woher nehme ich das Recht, die Geschichten dieser Marginalisierten und Ausgestoßenen zu schreiben, Geschichten, die sie selbst nicht erzählen können? Die Gründe, die Macabéa, diese einfältige Bürohilfskraft und Migrantin aus dem Nordosten, daran hindern sind vielfältig: Nichts was sie in dieser neuen urbanen Welt erlebt ist vergleichbar mit dem, was sie in ihrer Welt erlebt hat. Ihre Sprache muss dieser neuen Welt gegenüber versagen. Und selbst wenn sie es versuchte, Wort zu finden für das was ihr widerfährt, so hätte sie doch keine Zuhörer, die dafür Verständnis finden könnten. Deshalb gibt ihr der Erzähler Rodrigo seine Stimme, fragt sich aber unablässig, woher er das Recht nimmt, für diese Migrantin zu erzählen, woher er die Gewissheit nimmt, seinem Erzählen gelänge es wirklich die ihm völlig fremden Erfahrungen dieser Frau aus dem Nordosten zu erfassen. In seiner Erzählung ist Macabéa hin und hergerissen zwischen ihren Träumen eines besseren Lebens, ihrer harten Arbeitswirklichkeit und ihrem Wunsch nach einer affektiven Beziehung zu einem Mann, der sie verachtet. Am Ende wird ihr von einer Kartenlegerin eine besser Zukunft vorausgesagt: ein blonder Ausländer würde sie aus ihrem ärmlichen Leben herausholen. Mit diesem Traum in ihrer Vorstellung überquert sie die Straße, wird von einem Auto erfasst und findet den Tod.{mospagebreak}
Macabéa ist ganz die Figur eines Opfers, sie ist hilflos dieser modernen Welt ausgesetzt, ohne jeden Willen, ohne die Möglichkeit und ohne jede Perspektive, sich dagegen zu wehren oder irgendwie selbst verändernd einzugreifen.
Dies ist in der Mehrzahl dieser Stadtromane, deren Hauptfiguren Arbeitslose, Marginalisierte und Kriminelle sind ganz anders. In ihnen sind die Opfer entschlossen zu Tätern zu werden. Sie erzählen von der Auflösung und dem Zerfall der traditionellen sozialen Bindungen  - besonders der Familie, aber auch den Freundschaften - vom Verlust der ethischen Werte wie Loyalität, Ehrlichkeit, Wahrung der eigenen Würde und der des anderen, und thematisieren auf vielfältige Weise, wie diese sozialen Beziehungen als Reaktion auf ihre Zerstörung statt dessen von Gewalt und Repression bestimmt werden.
Der bekannteste Autor dieser Erzählliteratur, bei der einige Kritiker von „Hyperrealismus“ sprechen, ist Rubem Fonseca. In seinen Erzählungen und Romanen zeigt sich die Unterwelt der großen Städte in ihren gewalttätigsten Äußerungen. Bereits seine erste Erzählung, Glückliches Neues Jahr - Feliz Ano Novo - in der es um einen Überfall einer oberen Mittelklassefamilie am Neujahrstag geht, macht eines völlig klar: Für die Hauptakteure  handelt es sich nicht lediglich um den Wunsch, im Elend zu überleben, sondern darum, an dem Leben teilzuhaben, das die wohlhabende Gesellschaft in den Luxus-Butiken ausstellt und in den Reklamen und den Fernsehserien zeigt. Ein Leben, zu dem nur eine Minderheit wirklich Zugang hat. Bei den Tätern, die selbst in beinahe unvorstellbar elenden Umständen leben, vereint sich der Wunsch nach einem besseren Leben, das man in dieser Gesellschaft mit Geld, mit geraubtem Geld natürlich,  kaufen kann, mit einem grenzenlosen Hass auf alle jene, die diesen Reichtum zu ihrer Verfügung haben. Folglich hat der Überfall, wie er von Rubem Fonseca beschrieben wird, nicht lediglich den Raub zum Ziel, sondern er ist gleichzeitig auch ein Akt der Rache. Nur so können wir die extreme Gewalt erklären, die überflüssig wäre, wenn es nur um Diebstahl gehen würde. Die Täter, die sich der  Hässlichkeit ihrer eigenen Körper bewusst sind, finden Gefallen daran, die gepflegten Körper der überfallenen Männer und Frauen mit brutaler Gewalt zu zerstören und sich an ihnen zu rächen. Es sind für sie die Körper, die ihnen täglich im Fernsehen vorgeführt werden. Ihre Opfer besitzen nicht nur das, was sie selbst nicht haben (Güter, Reichtum, schöne Frauen) und sind nicht nur das, was sie selbst nicht sind (schön und glücklich), sondern sie lassen sie darüber hinaus ihr eigenes Elend und ihre Hässlichkeit fühlen. Schon die Existenz der Welt der Reichen und Schönen muss von den Tätern als Aggression erfahren werden, und ihre sadistische Zerstörung bereitet ihnen ein befreiendes Vergnügen.
Was auf den ersten Blick in den Erzählungen und Romanen von Rubem Fonseca wie völlig unbegründete Gewalt, oder wie die bloße Ästhetisierung von Gewalt erscheinen könnte, erschließt sich bei genauerer Betrachtung als vehemente Anklage einer sozialen Wirklichkeit, von der jede Art echter sozialer Bindungen zerstört wird. Das radikale, alleine durch subjektive Bedürfnisse  bestimmte Handeln der Verbrecher, die ihre Wünsche ohne jegliche Anerkennung des Anderen befriedigen, entspricht spiegelbildlich dem der herrschenden Schicht, die sich ebenfalls erlaubt, ihre Wünsche ohne Rücksicht auf diejenige zu befriedigen, die vom „angenehmen Leben“ ausgeschlossen sind. In dem Moment, in dem diese Kriminellen und Außenseiter jeglicher Anerkennung von Seiten der herrschenden Gruppen beraubt sind, reagieren sie auf umgekehrt symmetrische Art und Weise: Auch sie sprechen den anderen jegliche Rechte ab. In einer Gesellschaft, in der die Legalität sich nicht nach ihrer Legitimierung zu fragen braucht, scheint es „natürlich“, dass diejenigen, die sich ausgeschlossen fühlen, keinerlei Notwendigkeit sehen, diese Legalität zu respektieren.{mospagebreak}
Die Erzählungssammlung „Glückliches Neues Jahr“ wurde zu Zeiten der Militärregierung verboten und konnte erst wieder ab 1989 frei verkauft werden. Die Texte von Rubem Fonseca sind durch einen extremen, manchmal wirklich schockierenden  Realismus gekennzeichnet (zum Beispiel „Die große Kunst – A grande Arte 1983), wie schon in der zitierten Erzählung findet in ihnen eine Identifikation mit der  Perspektive und der Logik der Unterdrückten, der Marginalisierten und Kriminellen statt. Aber ganz offensichtlich sind diese Erzählungen und Romane nicht von ihnen selbst geschrieben. Sie stammen aus der Feder eines Schriftstellers aus der Mittelklasse, der aufgrund seiner vorherigen Tätigkeit als Kriminalbeamter diese Unterwelt sehr gut kennt, ohne zu ihr zu gehören: Diese Texte stellen immer eine Sicht von außen dar.
Der erste Roman von einem Autor, der selbst aus dem sozialen Ambiente der Elendsviertel kommt, und der daher einen höheren Grad an Authentizität für sich beanspruchen kann, wurde von der Kritik und vom Publikum mit großem Interesse aufgenommen. Es handelt sich um den Roman von Paulo Lins Die Stadt Gottes - A Cidade de Deus - aus dem Jahre 1997. Viele kennen den später nach dem Buch gedrehten Film, der aber trotz seiner drastischen Gewaltszenen, in der Intensität der Repräsentation von Gewalt hinter dem Buch zurück bleibt. Der Roman spiegelt bereits in seiner Erzählstruktur das Chaos der Umstände wider, in dem er sich ereignet: Hunderte von Personen tauchen in ihm auf und verschwinden – man weiß nie wann und warum. Hunderte von verschiedenen Geschichten sind lediglich durch den Ort verbunden an dem sie sich ereignen, das Elendsviertel Stadt Gottes. Der Roman erzählt die Geschichten von mehreren Jugendlichen, die sich mit dieser Armut nicht abfinden wollen und denen dazu alle Mittel recht sind: um nicht Opfer zu sein, müssen sie Täter werden.
 An der Welt des Konsums durch ihre eigene Arbeit teilzuhaben ist ihnen verwehrt. Da aber Geld das einzige Mittel ist, um sich in dieser Welt auf eine Weise bewegen zu können, die sowohl die Achtung der anderen wie auch die Selbstachtung möglich macht, sind diese Jugendlichen entschlossen, sich dieses Mittels auf welchen Wegen auch immer zu bemächtigen. Das heißt aber Gewalt in allen ihren erdenklichen Formen zur Befriedigung der Bedürfnisse und der Wünsche einzusetzen. Der Roman erzählt dann, wie sich die Gewalt und die Freude an der Gewalt mehr und mehr verselbständigen. Vom Mittel zum Zweck wird sie zum Selbstzweck. Das ist aber auch gleichzeitig die radikalste Reaktion auf eine Gesellschaft, von deren materiellen wie auch ideellen Werten die Marginalisierten ausgeschlossen sind. Sich für die Gewalt als Selbstzweck zu entscheiden ist die verzweifeltste Art, vom anderen die Anerkennung zu erzwingen, eine Anerkennung als Angreifer, bei der nun der andere in die Rolle des Opfers verwiesen wird, der sie selbst um jeden Preis entgehen wollen.
Gleichzeitig wird sowohl in diesem, wie auch fast in allen anderen Stadtromanen der letzten beiden Jahrzehnte eine andere Radikalisierung der Lebensbedingungen in den Vorstädten zum Thema gemacht: Das Aufkommen und die Ausweitung des Drogen-, und damit verknüpft des Waffenhandels, als der wirkungsvollsten Option, an Geld zu kommen.
Patricia Melos Roman Hölle – Inferno - aus dem Jahre 2000 erzählt die Geschichte von José Luis Reis, Reizinho, und von seinem Weg zum Chef eines Ringes von Drogenhändlern. Bereits in seiner Kindheit sind seine familiären Bindungen zerstört: Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter ist überfordert und reagiert auf alle Verfehlungen des Jungen gewalttätig, Schwester und Großmutter sind von ihren eigenen Problemen vereinnahmt. Die Schule als staatliche Institution ist nicht in der Lage, das Fehlen der familiären Unterstützung zu kompensieren. Bereits mit elf Jahren, ist Reizinho von Crack, einer billigen Droge schlechtester Qualität abhängig. Infolge des Fehlens staatlicher Autorität ist die Bande der Drogenhändler die einzige Macht, die eine gewisse Ordnung und Sicherheit im Elendsviertel garantiert. Der Einstieg in den Drogenhandel von ganz unten befreit ihn paradoxerweise vom eigenen Drogenkonsum. Gegner sind nicht die staatlichen Institutionen, die sich vor allem durch Abwesenheit auszeichnen, sondern andere Drogenkartelle, die miteinander in Konkurrenz treten und deren Territorialkämpfe bürgerkriegsähnliche Formen annahmen. Der Besitz immer modernerer und effizienterer Waffen ist dazu unabdingbar. Waffen, die den Jugendlichen gleichzeitig erlauben, ihre Männlichkeit zu zeigen und zu bestätigen, eine Männlichkeit, die von der Welt in der sie leben zugleich gefordert und in Frage gestellt wird.
Bei Patricia Melo geht es mehr um das Scheitern des Staates, der Zivilgesellschaft und der bürgerlichen und demokratischen Institutionen, als um eine realistische Darstellung der Welt der Favelabewohner, die in diesem Roman nur aus dem Blickwinkel der Gewalt erscheint.  {mospagebreak}
Wenn auch die Romane von Paulo Lins und Patricia Melo bereits von der Favela her geschrieben sind, wobei allerdings immer eine Distanz gewahrt bleibt  – Paulo Lins arbeitete als Anthropologe in der Favela, die Schauplatz seines Romans ist -  so sind die autobiographischen Texte von Luiz Alberto Mendes, Erinnerungen eines Überlebenden - Memórias de um sobrevivente -  (2001) und Blindlings - Às Cegas –  (2005) wirklich aus der Perspektive der Opfer und der Täter geschrieben, wobei die einen von den anderen meist nicht zu trennen sind. Erinnerungen eines Überlebenden hat die Struktur eines umgekehrten oder auch Anti-Bildungsromans: Luiz Alberto Mendes schrieb diese Autobiographie im Gefängnis, wo er eine Strafe von mehr als 30 Jahren wegen Überfall und Mord verbüßen musste.
Obwohl der Erzähler und Autor aus sehr einfachen sozialen Verhältnissen und aus einer sehr konfliktreichen Beziehung mit dem Vater kommt, betrachtet er diese Bedingungen nicht als Hauptgrund für seine Karriere als Straftäter. Den Erzähler fasziniert die Attraktivität des Verbrechens selbst; die leichte Zugangsmöglichkeit zu Geld, mit dem man alles kaufen kann; das Vergnügen an der Gewalt, einschließlich der sexuellen Gewalt; die Lust an der Macht über den Anderen: Hierin ist der Skandal des Buches zu sehen, und auch der Unterschied zu den anderen bereits erwähnten Texten. Und obwohl er mit jeder erneuten Festnahme schmerzhafteren Foltern unterworfen wird, entweder um seine Komplizen zu verraten oder auch aus reiner Rache der Polizisten, wird sein Wille nie gebrochen, diesen Foltern zu widerstehen. Am Ende ist er ein völlig auf sich reduziertes Individuum. Dieser autobiographische Roman Luiz Alberto Mendes´, demonstriert, das letzte was der  Menschen verlieren darf ist seine Selbstachtung und erinnert damit an den berühmten Satz von Ernest Hemingway in Der Alte und das Meer: „Der Mensch kann zerstört, aber nicht besiegt werden.“
Titel, die die Welt der Favelas zum Schauplatz und ihre Bewohner zu Protagonisten haben, die Welt der Gewalt und des verzweifelten Überlebenskampfes, gehören heute mit zu den häufigsten in der brasilianischen Literatur, allen voran die von Ferréz (Reginaldo Ferreira da Silva), unter anderem sein Praktisches Handbuch des Hasses - Manual Prático do Ódio - (2003), und die von  MV Bill und Celso Athayde: Falcão, Kinder des Drogenhandels - Falcão, Meninos do tráfico - (2006).
Wie in allen Erzähltexten der letzten Jahre sind die Akteure bei Ferréz in der Mehrzahl Heranwachsende und Jugendliche, in einigen Fällen sogar Kinder. Es wiederholen sich in ihnen dieselben Szenarien eines „Realismus der Gewalt“: die Vorstädte von São Paulo; der Kampf der Bewohner zu leben; der Kampf ums Geld; das Fehlen von Allem: das permanente Elend und Misstrauen, die Disposition zu Gewalt und Verrat; das Fehlen von Recht und von verlässlichen sozialen Bindungen.{mospagebreak}
Die dauernde Drohung von allen Seiten lässt die Entwicklung einer diversifizierten und eigenständigen Persönlichkeit bei den Protagonisten nicht zu. Paradoxerweise könnte man von Subjekten ohne Subjektivität sprechen. Alle Handlungen werden von den einfachsten und  unmittelbarsten Bedürfnisse bestimmt: von der Suche nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, aber auch Sexualität), von der Drogenabhängigkeit, vom Kampf um die Macht und den Bandenkriegen. In diesen extremen Situationen ist das eigene Leben der einzige Wert der zählt, alle anderen werden zersetzt und aufgelöst. Im Leben dieser Menschen gibt es keinerlei stabile Ordnung, keine vertrauenswerte Autorität, alles ist dem radikalen Zufall unterworfen. Diese radikale Abhängigkeit vom Zufall spiegeln diese Erzählungen und Romane wieder: Ohne eine zwingende  innere Logik geht eine Handlung in die andere über, wird ein Schauplatz vom anderen abgelöst, treten Figuren auf und wieder ab, ohne dass ihr Schicksal weiter verfolgt würde. Ihr Leben ist vor allem ein Kampf ums Überleben. Ihre Welt scheint so elementar zu sein, dass die Möglichkeit, davon zu erzählen in keinem Moment infrage gestellt wird. Die Erzähler sind Teil dieser Welt und dadurch lassen sie keinen Zweifel an der Authentizität und dem Realismus ihrer Texte, ganz im Gegensatz zu unserem ersten Erzähler in Die Sternstunde von Clarice Lispector.
Zwei Entwicklungslinien lassen sich in den hier ausgewählten Romanen aufdecken, die gleichzeitig erlauben eine Hypothese zu formulieren:
Die erste Linie bezieht sich auf die Inhalte und auf die Beschreibung der Praktiken und Strategien, die zum Überleben unter solchen Verhältnissen notwendig sind. Der Leser wird in diesen Texten mit einer permanenten Steigerung von Gewalt konfrontiert, die zugleich eine immer detailliertere Darstellung findet.
Auf der Ebene des Erzählens lässt sich eine gegenläufige Tendenz feststellen: Anstelle von Texten, die durch avancierte literarische Techniken gekennzeichnet sind, wie in dem hochgradig selbstreflektiven Text Die Sternstunde  von Clarice Lispector, treten in der gegenwärtigen  Literatur Erzählungen mit relativ konventionellen Formen auf. Wenn der Roman von Paulo Lins noch durch eine gewisse  Fragmentierung gekennzeichnet ist, die als Abbild der in ihm dargestellten Gesellschaft interpretiert werden kann, zeichnet die Romane von Patricia Melo und die autobiographischen Texte von Luiz Alberto Mendes ein völlig traditioneller Erzählstil aus.{mospagebreak}
In diesem offensichtlichen Widerspruch von Form und Inhalt scheint sich ein anderer Wunsch auszudrücken: Der Wunsch auf den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel, auf die Brüche und Katastrophen mit relativ stabilen literarischen Formen zu reagieren. Dies ist im Falle von Luiz Alberto Mendes deutlich zu sehen: Auf das Trauma seines durch Gewalt, Folter und gleichzeitig extreme Aggressionen gezeichneten Lebens antwortet er mit einer völlig traditionellen autobiographischen Erzählung, die vom Verlangen bestimmt scheint, dieses chaotische Leben so geordnet wie möglich zu erzählen.
Die zweite wichtige Linie, die diese Romane auszeichnet, ist die Bedrohung der Subjektivität der in ihnen Handelnden und ums Überleben Kämpfenden und ihre permanente Anstrengung, zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte zu werden. Das Individuum, der Einzelne, der sich mit den traditionellen Werten identifiziert, die der Liebe, der Freundschaft, einer Arbeit, die Selbstverwirklichung erlaubt, muss feststellen,  dass dies für ihn unmöglich zu erreichen ist.
Darauf sind zwei Reaktionen möglich:
1. Auf die Vorstellung zu einem solchen Subjekt zu werden völlig zu verzichten. Da die objektiven historischen und sozialen Bedingungen dies nicht zulassen gibt es das Individuum auf, seine Subjektivität zu entwickeln und so zu einem selbstbestimmten autonomen Subjekt zu werden.
2. Die Aufspaltung des im klassischen Sinne autonomen Subjekts in ein multiples Subjekt mit unterschiedlichen Subjektivitäten.
Die erste Reaktion auf den erzwungenen Verzicht von Subjektivität wird offensichtlich im Unterschied zwischen den Erzählern unseres ersten Textes, Die Sternstunde, und unserem letzten Text, Praktisches Handbuch des Hasses: Wenn man den Erzähler von Lispectors Die Sternstunde mit dem Erzähler von Praktisches Handbuch des Hasses vergleicht, die Skrupel des ersten mit der geradezu naiven Sicherheit des anderen, der davon überzeugt ist, dass sich in seinen Verbrechen, seiner Gewalttätigkeit, seinem Unglück, die Realität wie von selbst zeigt, dann wird klar, dass in diesem letzten Roman kein Raum für die Subjektivität des Erzählers bleibt. Die Ereignisse machen in ihrer massiven Brutalität jegliche subjektive Reaktion zunichte. Dies gilt auch für alle anderen in dieser Welt Handelnden und in ihr und gegen sie Kämpfenden. Sie leben in einer Welt, die sie dauernd herausfordert und bedroht: Damit wird jeglicher Spielraum für ein Handeln, das durch individuelle Subjektivität geleitet wird, zerstört. Alle reagieren auf ihre unmittelbaren Bedürfnisse: Es handelt sich darum, das Elementare zu verteidigen, sich mit automatischen Reaktionen oder mit einem quasi animalischen Instinkt zu behaupten.
Die zweite Reaktion auf die Unmöglichkeit, sich als autonomes selbstbewusstes und selbstverantwortliches Subjekt zu definieren, führt zur Aufteilung in partielle Subjektivitäten  bei denen nie das Individuum in einer dieser Subjektivitäten vollständig seine Realisierung findet. Die Individuen zerteilen sich in multiple Subjekte, die sich je nach Notwendigkeit oder Gelegenheit ins Spiel bringen: ein gutes Essen, ein unterhaltsames Erlebnis mit Freunden, ein Fest, eine Liebesbegegnung. Es sind immer flüchtige, isolierte Momente und Szenen im täglichen Leben der Individuen, bei denen sie nie ihre volle Individualität einbringen. Es ist immer so, als ob nur ein Teil von ihnen beteiligt ist, der Teil, der sich in diesem Moment aus dem Verhängnis seines repressiven und unmenschlichen täglichen Lebens befreien konnte. Diese Erfahrungen sind zusammenhanglos, zufällig und unvorhersehbar und erlauben nicht, dass sich auf ihrer Grundlage ein kohärentes und autonomes individuelles Subjekt entwickelt.
Wenn zu Beginn der Modernisierung der städtische Raum ein privilegierter Raum für die Entwicklung eines autonomen und urteilsfähigen individuellen Subjekts war, wurde unter den Bedingungen einer radikalisierten, zum Selbstzweck gewordenen Modernisierung diesem selbstbewussten individuellen Subjekt seine Existenzgrundlage entzogen. In der heroischen Phase der Modernisierung war die Komplexität des Erlebens und der Tätigkeiten die Grundlage für die Bildung eines seine Subjektivität mit den gesellschaftlichen Anforderungen in Einklang bringenden Individuums, es war ein Erleben, das sich in der Entfaltung der subjektiven Individualität jedes Einzelnen erfüllte. Nun wird das „Überleben“, auf das so viele unter den heutigen Bedingungen reduziert sind, mit dem Preis des Verzichts auf jedwede Erwartung bezahlt, diese eigene subjektive Individualität  herauszubilden. Die hier vorgestellten Stadtromane lassen sich als ein Beleg dafür lesen.

Horst Nitschack ist Professor für Brasilianische Literatur und Kultur am Centro de Estudios Culturales Latinoamericanos der Universidad de Chile in Santiago, Chile.