Buchbesprechungen
Misha Glenny. Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Stuttgart 2016 (2. Auflage), Klett Cotta Verlag, 409 S., ISBN 978-3-608-50335-7, 23,95 €
Er war der wichtigste Arbeitgeber in Rocinha, der mit über 120.000 Einwohnern größten Favela in Rio de Janeiro und sogar ganz Brasiliens.
Er gab jungen Leuten einen Job im Drogengewerbe und holte sie so von der Straße. Er ließ die Armen mit Lebensmitteln, Medikamenten und Darlehen versorgen. Er subventionierte die auch bei Touristen beliebte Musik- und Partyszene in dieser Favela, bedankte sich mit Geldspenden bei den lokalen Polizisten, erstellte die Business-Pläne für das erfolgreiche Drogengeschäft und fungierte als Gerechter und Rächer der Gerechten. Ist Antonio Bonfim Lopes, genannt „Nem“ („Baby“), ein brasilianischer „Robin Hood“, der nun sein Leben im Hochsicherheitsgefängnis in Campo Grande, Bundesstaat Mato Grosso do Sul, fristen muss?
Der britische Autor Misha Glenny hat den berühmten Drogenboss 28 Stunden in Gefängnis interviewt und ausgiebig in seinem Umfeld, aber auch bei den verschiedenen Polizei-Organisationen recherchiert. Das Ergebnis: ein eindrucksvolles Krimi-Sachbuch, das die Ambivalenz des tragischen Helden ebenso aufdeckt wie die historischen, politischen und sozialen Hintergründe der Korruption und des Drogenhandels in Brasilien. Glenny verschränkt diese Ebenen überwiegend gekonnt, verbindet Reportage-Elemente, in denen er die Leser mit den präzisen Orts- und Personenbeschreibungen und (vermutlich auch fiktionalen) O-Tönen in das Geschehen hineinzieht. Er erstellt politische Analysen und liefert historische Informationen, die die aktuelle Situation besser einordnen lassen. Eines wird bei aller Sympathie des Autors für Nem deutlich: Es gibt nicht den Wohltäter, nicht den Kriminellen – es sind gewachsene, vielfach verschaltete Strukturen zwischen rivalisierenden Gruppen im kriminellen Milieu und sich teilweise befehdenden staatlichen Organen.
Ulrike Jaspers
BrasilienNachrichten 161/2020