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Das brasilianische Kino

Ort der kritischen Auseinandersetzung mit dem herrschenden  Favela-Bild in der Gesellschaft ?
Anfang des Jahres prägten vor allem zwei Nachrichten die brasilianischen Medien: Zum einen der angekündigte Bau von „Schutzzäunen“ um Favelas, zum anderen der entfachte Krieg zwischen zwei Drogenbanden,

der zwei Tage die Zona Sul – vor allem die Stadtviertel Humaitá und Botafogo - zum Stillstand brachte.
Dieser reale Drogenkrieg scheint denen in Filmen wie Cidade de deus (Fernando Meirelles, Katía Lund, 2002) oder Tropa de elite (José Padilha, 2007) sehr ähnlich. Neben den genannten Filmen setzen sich unter anderem auch der Film Quase dois irmãos (Lúcia Murat, 2004) und die Globo-Miniserie Cidade dos homens (César Charlone, Fernando Meirelles, Regina Casé, 2002) mit dem Favela-Bild in Rio de Janeiro auseinander. Damit lässt sich ein deutlicher Trend zur vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Thema Favela im brasilianischen Gegenwartskino ausmachen. Viele Gegenwartsregisseure wollen in ihren Filmen, die einen hohen Bezug zur außerfilmischen Wirklichkeit aufweisen, über die Thematisierung der Favela und ihrer Bewohner vor allem einen Kontrapunkt zur Darstellung der Favela in den brasilianischen Massenmedien setzen. Diese verstärken und reproduzieren durch ihre oft einseitige und undifferenzierte Berichterstattung die Wahrnehmung der Favela als ausschließlichen Ort der Gewalt und des Drogenumschlags und stigmatisieren ihre Bewohner als marginais. Die Unwissenheit über den Alltag in der Favela und über das Leben des Großteils ihrer Bewohner, die nicht in den Drogenhandel involviert sind, hat ein gesteigertes Misstrauen zur Folge, mit dem viele Brasilianer der Mittel- und Oberschicht den Favela-Bewohnern begegnen. Das Gegenwartskino muss sich der Herausforderung stellen, nicht bestehende Stigmata zu verstärken oder neue zu kreieren.
Bereits die Regisseure der Bewegung des Cinema Novo, die von Mitte der 1950er Jahre bis Ende der 1960er Jahre die brasilianische Kinoszene prägte, setzten sich mit der Favela auseinander. Ihr Anliegen bestand darin, auf die sozialen Gegensätzen ihres Landes, insbesondere Armut und Hunger, aufmerksam zu machen und damit die beginnende Favela-Entwicklung ins Bewusstsein der Mittel- und Oberschicht zu rücken. Dies wollten sie über Verwendung von Laiendarstellern, realen Szenarien, einem geringen Budget, sowie die Filmweise mit einer leichten Handkamera, gemäß dem Leitmotiv des Cinema Novo: „uma idéia na cabeça e uma câmera na mão“ („Eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Hand“) (Glauber Rocha) erreichen. Die gegenseitige Wahrnehmung und die Gewaltdimension spielten zu der Zeit eine untergeordnete Rolle. Den in den Filmen des Cinema Novo dargestellten Favela-Bewohnern wurde meist mit Ignoranz und Arroganz begegnet. Außer dem Besitz eines Messers oder kleinen Delikten, in denen sich das schlechte Gewissen der Täter andeutete und damit auf die moralischen Werte hinwies, findet nahezu keine Thematisierung der Gewalt statt.{mospagebreak}
Der aktuelle Bau der Mauer, welcher eigentlich dem Schutz des Regenwaldes dienen sollte, indem damit die Ausdehnung der Favela gestoppt würde, sehen Viele  als einen weiteren Schritt zur „Abschottung der Armen“ an. Eine räumliche Abgrenzung, gekoppelt mit einem Machtverlust der staatlichen Gewalt an die Drogenbosse, wird bereits in Cidade dos homens dargestellt: „Aqui é a fronteira entre lá e aqui. Lá é um país, aqui é outro. Esses alí são os guardas da fronteira de lá [Polizei], e esses aqui da fronteira de cá [Personen des movimento]. Lá eles escolhem quem manda neles, aqui eles já estão escolhidos“ („Hier ist die Grenze zwischen der einen und der anderen Seite. Dort ist ein Land, hier ist ein Anderes. Die Polizisten sind die Wächter auf der einen Seite, die Mitglieder des Drogenkartells überwachen die Grenze auf dieser Seite. Auf der anderen Seite haben die Personen die Wahl wer über sie herrscht, hier nicht.“).
In Cidade de deus und Cidade dos homens versucht man die zunehmende Abschottung und Entfremdung zwischen Favela-Bewohnern und den Personen des asfalto zu überwinden, indem die Hauptpersonen (Buscapé/ Laranjinha/ Acerola) als Vermittlerfiguren dienen, welche die Ereignisse im Film aus ihrer Innenperspektive als Favela-Bewohner kommentieren. Demgegenüber stehen Quase dois irmãos und Tropa de elite, in denen die Handlung aus Sicht der Hauptperson aus der brasilianischen Mittelschicht dargestellt wird. Vor allem Cidade dos homens  arbeitet mit den Stereotypen der Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Als Ursache für die Gewalt in der Favela – zwischen den verfeindeten Banden und der „Krieg“, den sich die Banden mit der Polizei und ihrer Spezialeinheit, Tropa de elite, liefern -  führen alle Filme den Drogenhandel bzw. die Macht über denselben an. Besonders in Cidade de deus wird herausgearbeitet, wie der Beginn des Handels mit harten Drogen die Gewaltspirale antreibt. Mit dem Geld aus dem Drogenverkauf werden immer wirkungsvollere Waffen z.T. direkt durch korrupte Polizisten erworben, um wiederum das eigene Revier innerhalb der Favela als Drogenumschlagsplatz zu verteidigen. Die Motivation für den Eintritt in das movimento ergibt sich dabei einerseits durch die Armut wie Nascimento in Tropa de elite kommentiert:„O Baiano [...] deve ter tido um infância fodida – a carreira do traficante deve ter sido a única opção que ele teve“ („Der Baiano [...] muss eine schreckliche Kindheit gehabt haben – die Karriere als Drogenboss scheint die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, die ihm geblieben ist“), andererseits liegt sie aber auch in dem Prestige und der Macht begründet, welche man durch den Einstieg in den Drogenhandel erhält. Wie in Cidade de deus erklärt wird, zieht der Drogenhandel mit seinen Aufstiegschancen vor allem Jugendliche und Kinder an, indem er ihnen eine Perspektive und die Möglichkeit der Teilnahme an der Konsumgesellschaft sowie das Gefühl von Macht gibt. Die Vorbildwirkung der chefes do movimento in Cidade de deus zeigt auch die Tendenz zu immer jüngeren Bandenmitgliedern auf, die immer brutaler agieren, da ihnen jegliche Moralvorstellung fehlt. Deutlich ist jedoch auch, dass es am Ende der Gewaltspirale nur Verlierer gibt, denn in allen Filmen bezahlen die Drogenbosse ihre Macht über Gewalt und Geld mit dem vorzeitigen Lebensende.{mospagebreak}
Tropa de elite fokussiert dabei stärker als die anderen drei Filme des Gegenwartskinos die Bedeutung der Konsumenten in diesem Teufelskreis und kritisiert damit direkt die unreflektierte Haltung der Mittel- und Oberschichtjugend in Rio de Janeiro, die sich keine Gedanken über den Zusammenhang zwischen ihrem Drogenkonsum und der Gewaltspirale in den Favelas machen.
Die in allen vier Filmen vorhandene Thematisierung der Ursachen für die Gewalteskalation und den Drogenkrieg (soziale Ungleichheit, Armut, Drogenkonsum) übersehen die Zuschauer nur allzu oft bzw. sie wird durch die quantitativ und qualitativ exzessive Gewaltdarstellung verdrängt. Während es in Cidade de deus ein paar Szenen gibt, die hinsichtlich ihrer extremen Gewaltdarstellung als Schlüsselszenen zu betrachten sind und daher dem Zuschauer besonders im Gedächtnis bleiben, scheint es in Tropa de elite keine Abstufungen mehr im Grad der gezeigten Gewalteskalation zu geben. Sobald es zu Gewaltdarstellungen kommt, zeichnen sich diese durch ihren extremen Charakter aus.
Während sich die Regisseure des Cinema Novo kritisch mit der Favela beschäftigten, weil dieses Phänomen noch nicht wirklich durch die Gesellschaft wahrgenommen wurde, findet in den Gegenwartsfilmen, vor allem in Cidade dos homens und Quase dois irmãos, eine kritische Auseinandersetzung mit dem herrschenden Favela-Bild statt, indem sie Stereotypen hinterfragen. Auch Cidade de deus versucht, den Lebensalltag in einer Favela über die Verwendung einer Vermittlerfigur für die Außenwelt transparenter zu gestalten. Tropa de elite nimmt dagegen die entgegengesetzte Perspektive der Polizisten ein. Damit trägt der Film insgesamt sicherlich zu einer vollständigeren Betrachtung des Problems aus allen Blickwinkeln bei, gleichzeitig erstellt er jedoch ein eher undifferenziertes homogenes Bild von Favela-Bewohnern als kriminellen Drogendealern. Während Filme wie Quase dois irmãos oder Cidade dos homens versuchen, diese unsichtbare Mauer der Angst, welche die Favelas umgibt, zu durchbrechen, scheint Tropa de elite sie beim unreflektierten Anschauen des Films eher noch zu erhöhen und die in den Medien propagierte Sichtweise durch die Einnahme dieses nur allzu bekannten Blickwinkels auf die Favela zu reproduzieren.
Erst bei einer genaueren Analyse ist erkennbar, dass sowohl Cidade de deus als auch Tropa de elite eine Sozialkritik aufweisen, die jedoch von der quantitativ und qualitativ intensiven Darstellung der Gewaltdimension überlagert wird. Mit der im Juni 2009 begonnen Neuverfilmung des Cinema Novo Klassikers Cinco vezes Favela durch Favela-Bewohner unter Anleitung von Cacá Diegues darf man gespannt sein, wie sich die Auseinandersetzung mit der Favela und dem herrschenden Favela-Bild im brasilianischen Film weiterentwickelt.

Annekatrin  Meißner ist Kulturwirtin, C. Stehr ist Geschäftsführer des Instituts für Internationalisierungs- u. Globalisierungsforschung, Karlsruhe.