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„Der Karneval gehört uns“ - Straßenkarneval in São Paulo

Günther Schulz

Sonntags um die Mittagszeit im größten Park São Paulos, dem Ibirapuera-Park : Zehntausende, viele kostümiert bzw. zumindest mit einer karnevalesken Kopfbedeckung versehen, haben sich bei 35 Grad versammelt: Sie warten auf den Beginn des „Bloco“ „Bicho maluco beleza“ mit dessen Hauptakteur Alceu Valenca. Zum dritten Mal tritt der aus dem Nordosten stammende 71-jährige Musiker beim Straßenkarneval in São Paulo auf. Seine Lieder kennt jeder in Brasilien. Kaum erscheint er auf einem umgebauten LKW voller Lautsprecher und beginnt, singt die Menge mit.

Ausgelassene Stimmung, Heiterkeit und eine wippende, tanzende Ansammlung von Leuten. Im Gegensatz zu den kommerziellen Karnevalsumzügen der Sambaschulen in eigens dafür konstruierten Sambódromos – das bekannteste befindet sich in Rio de Janeiro – kann hier jeder mitmachen.

São Paulo entdeckt den Straßenkarneval (Carnaval da Rua )

Weltweit wird bei dem Stichwort Karneval Rio de Janeiro assoziiert, von São Paulo spricht niemand. Dabei hat sich hier  in  den letzten Jahren einiges getan.  Das Sambódromo in São Paulo verzeichnete dieses Jahr einen Besucheranstieg von fast 170 %, die Anzahl der „Blocos“, der Straßenumzüge, vervielfachte sich. Meldeten sich im Jahr 2014 zweihundert Gruppierungen offiziell an, stieg deren Zahl 2017 auf 495! Ausgangspunkt waren und sind jeweils Privatinitiativen bzw. Vereine und dank der Verbreitung über die Sozialen Medien bilden sich spontan ständig neue Gruppierungen. Die Blocos umfassen manchmal nur dutzende Teilnehmerinnen und Teilnehmer /-innen, können aber auch leicht in die tausende gehen. Die Namen sind nicht selten schillernd und drücken durchaus auch eine Zielrichtung aus von „Tara Ni Você“! („Ich begehre dich“) , „Bloco Bastardo“, „Bloco Soviético“ bis hin zu „Bloco Fora Temer.“ („Weg mit Temer“) Dieser Bloco richtete sich gezielt gegen den durch das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff an die Macht gekommenen gegenwärtigen Präsidenten Temer. Auch musikalische Richtungen sind oftmals bereits am Namen des Bloco zu erkennen: „Bicho Maluco Beleza“, Bloco Ritaleena“, Bloco „Explode Coracao“, Bloco „Bloqinho & Buchecha“. Die Blocos verteilen sich inzwischen über die ganze Stadt. Konzentrierten sie sich bis 2015 auf die Gegend der Westzone und deren Stadtvierteln Vila Madalena und Pinheiros, so ändert sich dies derzeit: Eine Dezentralisierung in Nord- und Südzone erfolgt, Auswirkung des zahlenmäßigen Anstiegs der Blocos. Allen Blocos gemeinsam ist die unentwegt zu hörende Musik:  vom normalem PKW mit aufmontiertem Lautsprecher aus welchem die Musik dröhnt bis hin zum als wandelnde Musikanlage umgebauten LKW. Die in allen möglichen Variationen verkleideten Narren folgen tanzend, jeder in seinem Rhythmus.

Offen für Alle

Ab 2009 bildeten sich zunehmend Blocos in São Paulo. Zuvor gab es bereits einige, vor allem afro-brasilianische Blocos wie im Stadtteil Madalena, die allerdings nur in kleinem Rahmen ihre Umzüge organisierten.
Das Prinzip aller Umzüge in São Paulo ist die Möglichkeit der kostenlosen Teilnahme. Inzwischen finden die Straßenumzüge in 23 Stadtteilen statt, auch in den Randgebieten. Gerade hier sieht Ronaldo Matos vom Bloco„Do Lado de Cá” eine Bedeutung, die über das Fest hinausgeht. „Durch die Bildung von Blocos ist es möglich, die Bewohner in ihrer Identität zu stärken, sie ihre kulturellen Wurzeln erfahren zu lassen und ihnen ein stärkeres Selbstbewusstsein zu verleihen.“ Als Beispiel nennt er den afrikanischen Bloco „Edi Santo“. Dieser lasse die Leute ihre Geschichte singend und tanzend erleben. Dieses wachsende Selbstbewusstsein bewirkt, dass sich im Straßenkarneval jetzt auch „die Geschichte der Schwarzen widerspiegelt. Die Musik, die Tänze zusammen mit anderen Elementen sind Ergebnis des kulturellen Widerstandes der afro-brasilianischen Bevölkerung“, so Valéria Alves. Allerdings, dies gesteht sie zu, ist es nur eine Minderheit, die sich in ihrem Sinne politisch in den Blocos zusammenfindet und manifestiert.

Unterstützung durch die Politik

Seit 2013 engagiert sich die Stadtverwaltung beim Straßenkarneval, anerkennt die kulturelle Bedeutung und erhofft sich natürlich eine positive Auswirkung auf den Tourismus, hat doch São Paulo – im Gegensatz zu Rio de Janeiro –  den Ruf einer freudlosen Business-Stadt. Dieses, gerne von den „Cariocas“, den Einwohner Rio de Janeiros, verbreitete Vorurteil erfährt in den letzten Jahren gerade am Beispiel des Karnevals eine Korrektur. Der Straßenkarneval ist inzwischen außerordentlich beliebt, ist eine Option zum Sambódromo, aber auch zu den in geschlossenen Räumen stattfindenden Bällen. Er findet auch offiziell Eingang in den Veranstaltungskalender der Stadt.
War es bis 2012 noch verboten, sich auf den Straßen frei bewegen zu können – so musste der „traditionsreiche“ und 2009 gegründete Bloco „Acadêmicos do Baixo Augusta“, dem Tausende folgen, zu Beginn noch in einem offenen Parkplatz feiern – änderte sich dies unter der bis Ende 2016 regierenden Stadtverwaltung mit dem Präfekten Haddad (PT). Ab jetzt war auch die Straße für die Umzüge offen und dies trug wesentlich zur Verbreitung des Straßenkarnevals bei. Wie drückte es der damalige Kulturminister Juca Ferreira aus: „Unsere Aufgabe ist es, eine Infrastruktur zu schaffen, die es ermöglicht, dass der Karneval zugänglich für alle ist“. Konkret bedeutete dies, dass mobile Toiletten installiert wurden, Sicherheitskräfte verstärkt bei den großen Blocos zum Einsatz kamen, Krankenwagen bereit standen und Putzkommandos im Anschluss an die Umzüge schnell für die Beseitigung des sich anhäufenden Mülls sorgten. Der Anstieg der Blocos war die Folge. Inzwischen nehmen mehr als eine Million Menschen am Straßenkarneval teil. Ob es allerdings soweit kommt wie der abgewählte Präfekt Fernando Haddad meint ist fraglich. Seiner Meinung nach wird São Paulo „in kürzester Zeit ein touristisches Karnevalsziel“.

Regulierung droht

Bemerkenswert ist, dass diese Art von Umzügen „von unten“ entstanden ist, d.h. spontan, ohne Einmischung des Staates. Der seit dem 1.Januar an der Spitze der Stadtverwaltung stehende neue Präfekt, der Millionär João Doria (PSDB) sieht sich jedoch herausgefordert, stärker regulierend einzugreifen. Er erteilte gleich nach Amtsbeginn für bestimmte Straßen keine Genehmigung, brachte die Idee eines  „Blocódromos“ ins Spiel. Hier möchte er, ähnlich wie im Sambódromo, die Straßenumzüge „bündeln“, ein Unterfangen, das scheitern wird. Der Konflikt mit der Stadtverwaltung ist vorprogrammiert. Sofort nach Bekanntgabe der Stadtverwaltungspläne erklärten 69 Blocos ihren Widerstand - #carnavalderualivre – (#freier Straßenkarneval) und forderten auch weiterhin den freien Zugang zu Straßen und Plätzen. Man darf auf das Jahr 2018 gespannt sein. Laut einer Untersuchung von SPTuris, dem städtischen Tourismusbüro, nahmen 2017 64% der Blocos zum ersten Mal an einem Straßenumzug teil, ein Ende von Neubildungen ist nicht in Sicht und eine Bereitschaft zur Reglementierung erst recht nicht.

Kommerzialisierung

Das Anwachsen der Straßenumzüge und ihre Akzeptanz hat jedoch noch eine andere Seite. Was zunächst im Freundeskreis, in Stadtteilbegegnungen entstand, weckt natürlich auch kommerzielle Begierden. So sponserte die Biermarke SKOL alleine in diesem Jahr 64 Blocos. „Bis zum vergangenen Jahr suchten wir Unterstützer. Jetzt suchen sie uns“ so Fernanda Toth vom Bloco „Casa Comigo“. Dieser hat inzwischen vier Sponsoren, manche Blocos sind bereits dabei sich vom Ursprung zu entfernen, sich zu „Fastnachtsunternehmen“ weiter zu entwickeln. „Casa Comigo“ aus der Westzone – Vila Beatriz – und von einem Freundeskreis 2012 ins Leben gerufen, unterhält inzwischen eine Trommelgruppe und hat vor, viermal jährlich ein Fest zu veranstalten.
Bleibt zu hoffen, dass die Mehrzahl der Straßenumzüge sich dieser Kommerzialisierung entziehen kann und auch in den folgenden Jahren Blocos wie „Trupica mais nao cai“ mit Liedern wie “Ô Barbosa“ noch über die Karnevalszeit hinaus sich als Ohrwurm festsetzen – auch dann noch, wenn man längst wieder in Deutschland zurück ist – und für Begeisterung sorgen können. Zu finden auf YouTube. Während im Ibirapuera Park spätnachmittags das Fest zu Ende geht, feiern am Largo de Batata noch Tausende auf der Straße, bis auch hier gegen 22.00 Uhr das Ende verkündet wird und die Putzkommandos anrücken. Berge von Müll haben sich in den Straßen angehäuft, neben kleineren Auseinandersetzungen endet der Straßenkarneval friedlich und es scheint, als hätten Hunderttausende in São Paulo für sich beschlossen, die Karnevalstage zukünftig in der Stadt zu verbringen: die Stadt und den Straßenkarneval neu zu entdecken. Der Karneval, in Form der Sambódromos institutionalisiert und für die breite Bevölkerung unzugänglich, kehrt zu seinem Ursprung, der Straße, zurück.

Während im alten Rom schon seit Jahrhunderten Karneval gefeiert wurde, kam dieser erst im 17. Jahrhundert durch die Portugiesen nach Brasilien. Die von ihnen eingeschleppten afrikanischen Sklaven waren es, die den Rhythmus des heute weltbekannten Samba ins Land brachten. Es waren insbesondere die „Schwarzen“, die die Anfänge prägten, gestattete ihnen doch der Karneval einen gewissen Freiraum. Fernando Alabe, einer der Organisatoren des Bloco „Ilu Ina“ geht sogar so weit, dass er „in jedem Moment der Ausübung einen Moment des Widerstandes“ sieht. Während der Großteil der Bevölkerung sich zum Feiern auf der Straße traf, in „Blocos“ und tanzend durch die Straßen zog, grenzte sich das wohlhabende Bürgertum ab und feierte ab dem 19.Jahrhundert in Ballhäusern.
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in Rio de Janeiro die ersten Sambaschulen, 1934 kam es zu einer ersten Sambaparade und seit 1984 erfolgt der Wettstreit der Sambaschulen im von Oscar Niemeyer entworfenen Sambódromo. Daneben existiert weiterhin der Straßenkarneval (Carnaval da Rua) in den einzelnen Stadtvierteln.
In São Paulo bildeten sich in den 1950er Jahren die ersten Sambaschulen. Der erste Sambaumzug fand 1968 in der inzwischen legendären, vor allem durch Caetano Veloso bekannt gemachten Avenida São João statt. Seit 1991 finden die Sambaumzüge der Schulen im Sambódromo do Anhembi statt. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war der Karneval in São Paulo schwerpunktmäßig auf das Sambódromo konzentriert. Die „paulistanos“ zogen es vor zu verreisen – wer es sich leisten konnte. Dies ändert sich grundlegend in den letzten Jahren. Viele der „Blocos“ entstanden im Verlauf der letzten 15 Jahre.

In Karnevalszeiten scheint die in Brasilien herrschende Wirtschaftskrise nicht zu existieren. Der Karneval 2017 erfuhr in allen wichtigen närrischen Zentren über Recife, Olinda bis hin zu Rio de Janeiro und São Paulo einen unerwarteten Tourismusaufschwung. In Rio de Janeiro befindet sich das bekannteste Sambódromo, hier finden die weltweit bekannten Umzüge der Sambaschulen statt. Jede Sambaschule hat 80 Minuten Zeit, um sich auf einer 700 m langen Allee den Zuschauern und der Jury zu präsentieren, der Ablauf ist streng reglementiert.
Fast 140.000 Menschen nahmen in Rio an den zwei Tagen bzw. Nächten teil, bei Eintrittspreisen von bis zu 200 Euro. Insgesamt hielten sich ungefähr eine Million Besucher, vorwiegend brasilianische Touristen, während der Karnevalszeit in der Stadt auf. Der Wettstreit der Sambaschulen zeichnete sich auch dieses Jahr dadurch aus, dass neben den faszinierenden, phantasievollen Karnevalswagen auch thematisch eine kritische Auseinandersetzung mit sozialen bzw. politischen Themen stattfand. Sieger wurde dieses Jahr die Sambagruppe PORTELA die mit ihren über 3.000 Mitwirkenden das Umweltthema „Flüsse“ thematisierte und auch auf die Umweltkatastrophe von Mariana (s.BN Nr. 153) im Jahr 2015 hinwies. Damals starben 19 Menschen und der Rio Doce wurde über Hunderte von Kilometern verseucht. Fische starben. Die prekäre Situation der Ureinwohner und ihr Kampf ums Überleben thematisierte die Sambaschule Imperatriz Leopoldinense unter dem Motto „Xingu, der Schrei, der aus dem Urwald kommt“.

 

Ausgabe 155/2017