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Eine Gedenkstätte für Stefan Zweig

Eine weiße, sehr hohe Tür, hinter der man einen größeren Raum vermutet: Das also ist die Tür, an die das Hausmädchen Dulce Morais am 23. Februar 1942 besorgt anklopfte, weil die Herrschaften am Nachmittag noch nicht aufgestanden waren. Das ist die Tür, hinter der die beiden aneinander gerückten Einzelbetten standen, die auf den Polizeifotos zu sehen sind. 

Das also ist die Tür, hinter der der Schriftsteller Stefan Zweig verzweifelt mit seinem Leben abschloss. Die Tür, hinter der seine 27 Jahre jüngere Frau Lotte wartete, bis er nicht mehr atmete. Hinter der dann sie das Gift nahm, an ihn heranrückte, ihre Hand auf seine legte und ebenfalls aus der Welt schied.
„Heute glücklich übersiedelt. Es ist ein winziges Häuschen, aber mit großer gedeckter Terrasse und wunderbarem Blick… endlich ein Ruhepunkt für Monate und die Koffer verstaut“, schrieb Zweig am 17. September 1941. Übersiedelt ja – aber glücklich? Eine Woche vorher hatte Zweig den Umzug vom sommerlich heißen Rio de Janeiro hinauf ins kühle Kaiser-Städtchen Petrópolis, offenkundig wenig begeistert, als „Schatten einer Seßhaftigkeit“ bezeichnet. Glücklich war er da oben nie.
Rua Gonçalves Dias 34: Wirklich ein winziges Häuschen. Ein Wohnzimmer mit Kamin, links ein kleines Arbeitszimmer und das Todesschlafzimmer, rechts die Küche und ein Wirtschaftsraum, der abschließt mit dem rohen, feuchten Felsen, an den die Klause gebaut ist. In Salzburg hatte der reiche Großbürger Zweig fünfzehn Jahre lang das Paschinger Schlössl auf dem Kapuzinerberg bewohnt - war er bestürzt darüber, in welch bescheidenes Exil ihn Hitler getrieben hatte? - Vom „wunderbaren Blick“ ist nichts geblieben: Man schaut auf eine nahe, laute Straße und einen gesichtslosen, achtstöckigen Wohnblock.
Gleich nach Zweigs „Tod im Paradies“, so der Titel einer monumentalen Zweig-in-Brasilien-Biografie, kam die Idee auf, das weiße Todes-Häuschen in eine Gedenkstätte umzuwandeln. Heute, 66 Jahre später, scheint die Idee Wirklichkeit zu werden. Ein Förderkreis hat das Haus 2005 gekauft. Die Pläne sind bereits gezeichnet, die Genehmigungen eingeholt, die ersten Spenden gesammelt. Die Konsulate von Österreich und Deutschland signalisieren Interesse und Finanzierungsbereitschaft.
In zwei Jahren könnte es fertig sein: Dann stünde unterhalb des Hauses, wo frühere Besitzer eine spukhässliche Betonauffahrt zum Stellplatz hingebaut haben, ein kleiner Block mit Mediathek, Bibliothek und Studienräumen. Das Haus selber wäre, späterer Um- und Anbauten entkleidet, in den Zustand der frühen Vierziger zurückrenoviert, und oberhalb davon entstünde ein zweiter Ergänzungsbau mit Büros und Auditorium. Auf eine Million Dollar schätzt Zweig-Biograf Alberto Dines, die treibende Kraft hinter dem Projekt, die Kosten. „Ele está de volta a Petrópolis“, heißt es vor dem Haus fast triumphierend auf einem Plakat mit Zweigs Konterfei: Er ist nach Petrópolis zurückgekehrt.{mospagebreak}
„Ein Bleistift ist schon versprochen“, antwortet Dines ironisch auf die Frage, womit man denn eine Lebensspanne nach dem Tod ein Stefan-Zweig-Museum füllen wolle – nein, viel gebe es nicht. Umso wichtiger, das Gedenken an den Autor lebendig zu machen, sagt Dines, mit Fotos, Zitaten, Videos, Schnipseln aus den über 40 Zweig-Verfilmungen. Nicht, dass das wenig wäre. Aber ein zweiter Zweck des Hauses verspricht fast noch interessanter zu werden.
Denn die „Casa Stefan Zweig“ wird ein „Memorial des Exils“ beherbergen, eine Dokumentation über 500 bis 600 Menschen, die Verfolgung und Krieg nach Brasilien verschlagen haben – Schicksale, von denen viele völlig unbekannt und unerforscht sind und die der Geschichtsprofessor Fábio Koifman im Auftrag des Vereins bereits recherchiert. Das Memorial wird den Namen des brasilianischen Schindler tragen: Luiz de Souza Dantas, der als Botschafter im Vichy-Frankreich Hunderten die rettenden Visa ausstellte.
Er kehrt nach Petrópolis zurück. Aber ist er  jemals dort angekommen? Zweig hatte in Brasilien, seinem so tief und dennoch so oberflächlich geliebten Exil, alles falsch gemacht. Dass ihn die Diktatur von Getúlio Vargas benutzte, hat er, der Unpolitische, nicht gespürt. Dass die bürgerliche Gesellschaft ihn erst hofierte und sich dann abwandte, hat er nicht verstanden. Völlig unbegreiflich blieb ihm wohl stets, dass man sein „Brasilien. Ein Land der Zukunft“, diese heute so hinreißende Liebeserklärung, damals zwiefach lesen konnte, je nach politischem Standpunkt: Entweder als Verbeugung vor der Diktatur oder als  Verleugnung ihrer Errungenschaften.
Und nach Petrópolis hinaufzuziehen, was sein größter Fehler: Die asthmakranke Lotte in den kühlen, feuchten Nächten keuchend neben sich, und tagsüber wenig Bücher, wenig Besuche, wenig Briefe, wenig Bekanntschaften. Auch in der Weltabgeschiedenheit der Berge war ihm stets schmerzlich präsent, dass „meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet“, wie es in seinem Abschiedsbrief hieß.
Er redigierte an seiner Autobiografie „Die Welt von gestern“ herum, befasste sich mit Balzac und Montaigne, er schrieb ein letztes, kleines Meisterwerk, die „Schachnovelle“, deren Typoskript er am 22. Februar noch auf die Post brachte, am Vorabend seines Todes. Ein paar Tage vorher hatten Lotte und er die Fröhlichkeitsexzesse des Karnevals von Rio angesehen – unfroh und beklommen. Am Aschermittwoch stand in der Zeitung, ein deutsches U-Boot habe erstmals ein brasilianisches Schiff versenkt.
Da beschloss er, die hohe Tür hinter ihnen beiden zuzuziehen.

Wolfgang Kunath