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Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker Caetano Veloso zum Siebzigsten

Thomas Milz, São Paulo

Ein farbenfrohes Chamäleon der Weltmusik, Brasiliens wortgewaltigster Jongleur der unterschiedlichsten Stile, ein Wanderer zwischen den musikalischen Welten. Caetano Veloso wird 70, und beim Blick auf die über 50 Schallplatten seines fast fünf Jahrzehnte umspannenden Schaffens verblüfft die sich stets erneuernde Vielseitigkeit, durchzogen von einer universell angesetzten Suche nach der Schönheit, die sich in verzauberten Melodien, in bezaubernden Frauen und der unendlichen Großzügigkeit der Natur manifestiert.

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Seiner Herkunft aus Santo Amaro da Purificação, der Wiege des „Samba de Roda“ im Reconcavo Baiano, verdankt er seine Liebe zum Samba. Dazu kam Ende der 50er Jahre die Entdeckung des Bossa Nova João Gilbertos, dessen „Chega de Saudade“ er an einer Eckkneipe seiner Heimatstadt lauschte. „Ein Manifest der Schönheit“ nannte er diesen Moment später. Und im örtlichen Lichtspieltheater „Cine Teatro Subaé“ entdeckt er die Welt mit Hilfe der aus Europa und den USA kommenden Filme. Die Neugier des jungen Caetano auf die „Welt da draußen“ war geweckt.
Der Provinzialität des Reconcavo entfloh Caetano früh, zuerst in die Landeshauptstadt Salvador, dann nach Rio und São Paulo. In den wilden 67er und 68er Jahren entwarf er mit Gilberto Gil, dem „Bruder, den das Leben mir gab,“ den „Tropicalismo“, eine Fusion brasilianischer mit zeitgenössischer Rock- und Popmusik aus England und den USA. Lieder wie „Alegria, Alegria“, „Superbacana“, „Irene“, „Baby“ und „Não identificado“ zeugen von Caetanos künstlerischer Explosion. Man wollte beweisen, dass man nicht provinziell sei, erklärte Caetano später das musikalische Ausgreifen in die Welt.
Obwohl nie politisch, eckten Caetano und Gil mit ihrem Ruf nach intellektueller und künstlerischer Freiheit unweigerlich mit der Diktatur an, die sie zuerst unter Hausarrest und dann in einen Flieger Richtung Europa setzten. „London London“ ist seine wohl melancholischste Melodie. Die Jahre im Londoner Exil waren deprimierend für den jungen Caetano, die Sehnsucht nach dem geliebten Brasilien unendlich. Auch wenn es ihn wie einen ungeliebten Sohn verstoßen hatte. Oder vielleicht gerade deshalb.
Erst Jahre nach seiner Rückkehr in die Heimat und einer Therapie in Rio de Janeiro taucht Caetano wieder auf. Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre liefert er eine schier unendlich erscheinende Reihe von Klassikern ab. „O Leãozinho”, “Um Índio”, “Tigresa”, “Lua de São Jorge”, “Beleza Pura”, “Sampa”, “Terra”, “Rapte-me camaleão“ und „Você é linda“. Munter springt er dabei zwischen traditioneller Musik seiner nordöstlichen Heimat, Rock und Pop hin und her.
Trotz des Erfolges bleibt Caetano in Brasilien eine äußerst umstrittene Figur. Episch seine Wortduelle mit der heimischen Presse, allen voran der „Folha de São Paulo“, der er elitäres Denken und Vorurteile gegenüber dem armen Nordosten vorwarf. Er selber wurde oft Zielscheibe Intellektueller, die ihm fehlendes politisches Bewusstsein attestierten. In diesen Momenten wirkte Caetano oft dünnhäutig, verletzlich, was er mit wortgewaltigen Attacken zu überdecken versuchte. Arrogant nennen viele ihn deshalb.
Als er 1992 in sein sechstes Lebensjahrzehnt trat, ging er neuen künstlerischen Horizonten entgegen. Afro-brasilianische Trommlergruppen, Orchester und Rockbands begleiteten ihn nun durch die Welt, er sang auf Spanisch, Englisch und Italienisch, trat in der New Yorker Carnegie Hall auf, wo man seine Stimme liebt, „ohne meine Texte zu verstehen“. Als seltsam empfindet er das, hat er doch stets Wert auf seine wortgewaltigen Texte gelegt, in denen er mit beängstigenden Leichtigkeit mit Worten und Wortfetzen jongliert.
Seit einigen Jahren ist es stiller geworden um den in Ehren ergrauten Caetano Veloso, selten erscheint neues Material. In den Medien ist er jedoch omnipräsent, gerne hört man seine alten Hits und die Geschichten aus den wilden 60ern und 70ern. Mit der neuen Einsamkeit, die ihn nach dem Scheitern seiner zweiten Ehe seit fast einem Jahrzehnt zu begleiten scheint, kokettiert er gerne. „Canto somente o que não pode mais se calar, noutras palavras sou muito romântico” hat er vor vielen Jahren einmal gesungen. Und Romantiker werden ja bekanntlich niemals wirklich alt.

Ausgabe 145/2012