Karneval auf dem Berg der Cariocas - o Morro de Santa Teresa
Carioca ist der Name des Flusses, der bereits den Durst der ersten portugiesischen Kolonisten an der Bucht von Guanabara löschte. Es heißt, dass der Rio Carioca schon bei der indianischen Urbevölkerung als der reinste Fluss Rio de Janeiros galt.
In ihm badende Frauen behielten ihre Schönheit, und wer daraus trinke, bekäme eine gute Stimme und erneuere seine physischen Kräfte. Ob dies der Wahrheit entspricht oder besser gesagt entsprach, ist heute schwer zu sagen, zumal der Rio Carioca überwiegend zubetoniert und zu einer Kloake verkommen ist. Doch bis Ende des 19. Jahrhunderts hinein war der Rio Carioca jedenfalls Rio de Janeiros wichtigster Trinkwasserlieferant, und wer in Rio de Janeiro geboren ist, darf sich bis heute wie der Fluss Carioca nennen.
Seine Quellen liegen unterhalb des Corcovado in der Serra Carioca, wo sich auch der Berg, der Morro de Santa Teresa und sein gleichnamiges Stadtviertel befinden. Seit 1750 flossen die oberhalb von Santa Teresa kanalisierten Quellwasser des Rio Carioca über den berühmten Aqueduto da Carioca ins Zentrum der Stadt zum Largo Carioca.
Der einst von indianischen Sklaven gebaute, 20 Meter hohe Aquädukt heißt inzwischen Arcos da Lapa. Und seit 1896 bringt er auch kein Wasser mehr von der Serra Carioca ins Stadtzentrum, sondern umgekehrt Rios letzte Straßenbahn, das Bonde hinauf nach Santa Teresa.
Nicht nur, aber vor allem in der Zeit des Karnevals im Februar lohnt sich ein Besuch des rund 41.000 Bewohner zählenden Stadtviertels unter der Achsel der Christusstatue, eingekreist von 19 Favelas. Der Straßenverkehr hält sich wegen der vielen noch gepflasterten Gassen in Grenzen, und während die Hitze und Fahrzeugabgase in den Strassen des Stadtzentrums und der tiefer liegenden Stadtviertel Rio de Janeiros schier unerträglich werden, weht in Santa Teresa eine angenehme, vom Bergregenwald mit Sauerstoff angereicherte Brise. Auf Karneval muss dabei niemand verzichten. Im Gegenteil. Der Karneval findet in Rio schließlich vor allem in den Strassen und nicht nur im zementierten, vor Hitze glühenden Sambódramo statt.
In Santa Teresa ziehen in der Karnevalswoche bis einschließlich Aschermittwoch fast jeden Tag eine oder zwei andere Sambagruppen, Bloco genannt, durch die Gassen. In diesem Jahr hatten wir die Blocos: „Aquecimento Global“ (Globale Erwärmung), Badalo de Santa Teresa (Glockenschwengel von Santa Teresa), Bloco de Conga, Bonde da Folia, Carmelitas, Céu na Terra, Embalo de Santa Teresa, Frevo de Santa Teresa, Maracutaia, Me enterra na Quarta, Os Mariocas, Rio Maracatu, Songoro Cosongo und nicht zu vergessen den Bloco Aconteceu, der unter unserem Fenster an der Eckbar Gomez seinen Ausgangspunkt hat.{mospagebreak}
Hier in der vor genau 91 Jahren vom Galizier Jesus Pose Garcia gegründeten Bar Gomez, die offiziell Armazém São Thiago heißt, trifft sich nicht nur die aus aller Herren Länder stammende Nachbarschaft. Gomez ist auch die „Stammkneipe“ bekannter Musiker, Sambistas, Autoren wie Paulo Lins, Filmemachern, Journalisten und Ex-Chefredakteuren und selbst von Buddhisten. Doch ob bekannt oder unbekannt, ob in einem Apartment oder einem Herrenhaus, in einer Favela oder auf der Strasse wohnend: In der nach dem gleichfalls aus Galizien stammenden, vom ehemaligen Angestellten zum Mitbesitzer aufgestiegenen José Gomez Cantorna benannten Bar sind alle gleich.
Doch zurück zum Karneval. Der Bloco Badalo de Santa Teresa hat seinen Ausgangspunkt im Largo das Neves, wo auch eine der beiden Endstationen des Bonde ist.
Am bekanntesten sind aber die Carmelitas. Der Name ehrt die Nonnen des Karmeliterklosters von Santa Teresa. Von dort aus zieht der Bloco auch durch Santa, „maskiert“ mit dem oberen Teil der Nonnentracht, dem Schleier der Karmeliterinnen. Die schwarz-weisse Kutte wäre bei rund 30 bis 35 Grad im Schatten zu viel des guten.
Der Bloco „Céu na Terra“ wiederum gilt für viele Cariocas de Santa Teresa als der beste. Die originelle Sambagruppe bestehend aus Trommlern und Blechbläsern geht nämlich nicht zu Fuß, sondern wird mit dem Bonde durch das Stadtteil am Largo Guimaraes und an der Bar Gomez vorbei bis zum Largo das Neves gefahren - umringt von Hunderten begeisterten Cariocas und Nicht- oder Noch-nicht-Cariocas. Für Nachtschwärmer ist „Der Himmel auf Erden“ allerdings weniger geeignet, zieht er doch schon um sechs Uhr morgens los.
Wiederum typisch für Santa Teresa ist der Bloco Songoro Cosongo, eine Sambatruppe von Nicht-Cariocas aus dem „Rest“ Lateinamerikas.
Das charakteristische des Blocos „Me enterra na quarta“ schließlich steckt in seinem Namen „Beerdige mich am Aschermittwoch“. Er setzt am Aschermittwoch den krönungsvollen, musikalischen Schlussaascord des Karnevals von Santa Teresa.
Für viele der Bewohner der Randzonen, der Favelas rund um Santa hat der Karneval vor allem einen ökonomischen Wert, denn sie sind es, die die Tausenden von durstigen, den Karnevalsgruppen tanzend und mitsingend folgenden Cariocas und Nicht-Cariocas versorgen. Hunderte von ihnen säumen Plätze und Strassen Santa Teresas mit großen Styroporkästen vor sich, in denen vor allem auf Eis gelegte Bierdosen auf den nächsten Kunden warten. Andere, die sich die Investition einer Styroporkiste, Eis und Bierdosen nicht leisten können, verdienen sich den Lebensunterhalt, in dem sie die weggeworfenen Bierdosen für den Recyclingmarkt einsammeln. Ganze Familien, vom fünfjährigen Kleinkind bis zur 70-jährigen Großmutter sind hier mitten im Karnevalstaumel konzentriert beim Dosensammeln. Diese gibt es um diese Jahreszeit zur Genüge, und erhöhen das kärgliche Einkommen.
Wer in Santa Teresa wohnt hat schlichtweg keine Chance dem Karneval zu entgehen. Viele sind deshalb froh, wenn er vorbei ist, und die Ruhe wieder einkehrt, was vor allem für die Stammgäste der Bar Gomez gilt. An einem der heißen Tage, wenn die Stadt unter der Gluthitze - wie in diesem Sommer - von 35 bis über 40 Grad leidet, gibt es am frühen Nachmittag kaum etwas besseres als vor der Bar mit einem kalten Bier in der Hand zu stehen, sanft umweht von einer vom Bergwald herunterkommenden, erfrischenden Brise.