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Neuerscheinungen zu Brasilien

Michael Kegler

Eines hat sich Brasilien inzwischen von Deutschland abgeschaut: Über das eigene Land herziehen. Sich nicht kritiklos der vermeintlichen Großartigkeit hingeben, sondern durchaus auch den Missstand beklagen. Wenn es sein muss, auch prophylaktisch.
Die Buchmesse 2013 war noch nicht ganz vorbei mit ihren gelungenen und fast unisono gelobten Gastlandauftritt Brasiliens, da begann bereits das vorauseilende Unken:

Das Land werde nun wieder, wie 1994 in einen kulturellen Tiefschlaf verfallen. Und tatsächlich hatte das Jahr 2014 noch nicht richtig begonnen, da gaben sich die Propheten bereits recht. Anstatt 50 oder 70 neuer Übersetzungen (je nach Zählweise) im Jahr 2013 war im ersten Quartal 2014 gerade mal ein brasilianischer Titel auf Deutsch erschienen: Feindliche Welt, der zweite Band des fünfbändigen Romans Vorläufige Hölle von Luiz Ruffato. Auch als sich die Zahl der literarischen Neuerscheinungen aus Brasilien auf dem deutschsprachigen Buchmarkt auf vier erhöhte, verstummten die kritischen Stimmen in Brasilien nicht.
Und rein rechnerisch stimmte ihre ernüchternde Bilanz. Neben Ruffato im Hardcover erschienen noch drei E-Books: Fernando Molicas Roman Schwarz, meine Liebe, Erzählungen von Sérgio Sant’Anna unter dem Titel Die Statistin (beide bei edition diá, wo weitere Titel aus der Backlist ins ebook geholt wurde), sowie die Erzählung Raimundo und der Ball von Eliane Brum als Auskopplung aus der Fußballanthologie Der Schwarze Sohn Gottes (Assoziation A, 2013), bei CulturBooks. Im Herbst erschien dann noch bei A1 der wundervolle Roman Salatnächte von Vanessa Barbara (übersetzt von Marianne Gareis). Insgesamt allerdings ergibt das Schlagwort „Brasilien“ 695 neue Bücher im Verzeichnis der Lieferbaren Bücher (VLB) für 2014 – Fußballweltmeisterschaft sei Dank.
Was geflissentlich übersehen wird bei dieser Zählweise, ist, dass vor 2013 die Präsenz aktueller brasilianischer Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nahe Null ging und die Schwemme neuer Titel aus dem Gastlandjahr erst einmal verkauft und gelesen werden musste. Ein im Übrigen völlig normaler Vorgang, der von fast jedem Gastland der Frankfurter Buchmesse aufs Neue beklagt wird. Was viel mehr zählt als der Publikationsrekord im Gastlandjahr, ist die Kontinuität sowohl der Aktivitäten des Landes selbst als auch des Interesses fremdsprachiger Leser an Brasilien in unserem Fall. Und hier sprechen die fast 700 Titel eine deutliche Sprache, wenngleich die fünf literarischen Titel zwar wirklich kein Rekordergebnis sind, aber den Umständen entsprechend als durchaus normal zu bewerten sind.
Und wie man sieht, blieben weder Verlage noch Übersetzerinnen und Übersetzer in dieser Zeit nach dem rauschenden Fest untätig. Im ersten Halbjahr 2015 waren bereits wieder zwei brasilianische Autorinnen in Deutschland und Österreich unterwegs: Carola Saavedra und Beatriz Bracher. Beide übersetzt von Maria Hummitzsch und mit je einem neuen ins Deutsche übersetzten Roman im Gepäck. Als dritte brasilianische Autorin im Frühjahrsprogramm schaffte es die Sängerin Vanessa da Matta mit ihrem Romandebüt Blumentochter (A filha das flores, übers. von Kirsten Brandt, List) gar in die Abteilung der Stapelware großer Buchhandelsketten. Daniel Munduruku veröffentlicht einen Band mit Indianerlegenden (übersetzt von Eloide Kilp und Thomas Kadereit) bei Hans Schiler und wiederum bei diá erscheint Kleine Monster, ein Erzählband von Caio Fernando Abreu (übersetzt von Marianne Gareis, Gerd Hilger, Maria Hummitzsch, Gaby Küppers und Gotthardt Schön). Ja, und Benjamin Mosers Biografie von Clarice Lispector schafft es ins Taschenbuch bei btb (Die Originalausgabe erschien 2013 bei Schöffling). Hätten Sie es gemerkt?
Das Problem ist, dass vieles davon unbemerkt bleibt. Sei es, weil auch in Deutschland der Wanderzirkus der Gastländer weitergezogen ist und die einschlägigen Rezensenten den Blick nun nach Finnland oder Indonesien richten, sei es, weil Brasilien inzwischen nicht nur wieder Krise hat, sondern auch auf anderen Hochzeiten tanzt, etwa als Gastland der Buchmesse in Paris – oder weil die deutschsprachigen Verlage selbst wieder im Kleinklein ihrer Nischen versunken sind. Das Buch von Daniel Munduruku etwa ist nicht einmal Klaus Küpper gemeldet worden, der erst kürzlich wieder ein weitgehend vollständiges Verzeichnis übersetzter Kinder- und Jugendbücher aus Lateinamerika herausgebracht hat (www.lateinamerikaarchiv.de).
Und selbst Carola Saavedra, mit Blaue Blumen (Flores Azuis) wieder bei C.H. Beck, einem eher größeren Verlag, organisierte ihre einzige Lesung in Deutschland als Abstecher von Paris aus und mithilfe des rührigen Centro Cultural Brasileiro de Frankfurt, der auch die Lesereise von Beatriz Bracher mit Die Verdächtigung (Não Falei) maßgeblich mitorganisiert. Hier allerdings legt sich auch der rührige Verlag Assoziation A mächtig ins Zeug. Sechs Mal konnte sie ihren bedeutenden Roman über den Nachhall der Militärdiktatur im Mai und Juni in Deutschland und Österreich vorstellen.
Interessant ist übrigens auch ein Blick auf die zu diesen Büchern erschienenen Rezensionen. Während 2013 die Tageszeitungen durchaus Notiz nahmen von so ziemlich allem, was aus der brasilianischen Literatur übersetzt wurde, wird Carola Saavedras Roman nun wieder fast ausschließlich im Internet rezensiert. Immerhin zwei Radiosender lobten den ungewöhnlichen Briefroman ausführlich, während Focus eher nölend Notiz davon nahm. Beatriz Bracher schaffte es bisher in die Tageszeitung Neues Deutschland und Die Presse in Wien, und Vanessa Barbara in die taz und die Ruhrnachrichten.
So sind die Mühen der Ebene. Und es geht weiter. Im August wird bei Assoziation A der nächste Roman von Luiz Ruffato erscheinen: Ich war in Lissabon und dachte an dich, die Geschichte des etwas naiven Auswanderers Serginho aus Cataguases (in Brasilien wird das Buch gerade verfilmt, und für den November kündigt der Weidle Verlag Marina Colasantis autobiografisches Szenenbuch Mein fremder Krieg (übers. von Markus Sahr) an.
Bleibt man beim statistischen Erbsenzählen, so darf konstatiert werden: Gegenüber den vier Titeln aus 2014 hat die Zahl literarischer Neuerscheinungen aus Brasilien im Jahr 2015 wieder um 50% zugenommen. Dagegen kommt man beim Schlagwort Brasilien im VLB nur noch auf 364 Treffer (einschließlich Fußballbücher und Regenwaldkalender). Doch seien wir ehrlich. Sechs hochkarätige Neuerscheinungen, das ist nicht schlecht angesichts eines doch eher überschaubaren Absatzmarkts für Literatur von „außerhalb“ insgesamt. Und wem das nicht genügt, sei ein Blick in die Backlist von 2013 empfohlen. Da ist gewiss noch nicht alles gelesen.

Erwähnte Titel:

  • Luiz Ruffato: Feindliche Welt. Roman. Vorläufige Hölle Band 2. Übers.: Michael Kegler. Assoziation A, 2014
  • Fernando Molica: Schwarz, meine Liebe. Roman. Übers.: Michael Kegler. Edition diá, 2014
  • Sérgio Sant’Anna: Die Statistin. Erzählungen. Übers.: Marianne Gareis, Frank Heibert, Barbara Mesquita, Enno Petermann. Edition diá, 2014
  • Eliane Brum: Raimundo und der Ball. Erzählung. Übers.: Michael Kegler. CulturBooks 2014
  • Vanessa Barbara: Salatnächte. Übers.: Marianne Gareis. A1 Verlag, 2014
  • Carola Saavedra: Blaue Blumen. Roman. Übers.: Maria Hummitzsch. C-H. Beck, 2015
  • Beatriz Bracher: Die Verdächtigung. Roman. Übers.: Maria Hummitzsch. Assoziation A, 2015
  • Vanessa da Matta: Blumentochter. Roman. Übers.: Kirsten Brandt. List, 2015
  • Daniel Munduruku: Indianerlegenden. Übers.: Eliode Kilp und Thomas Kadereit. Hans Schiler, 2015
  • Caio Fernando Abreu: Kleine Monster. Übers.: Marianne Gareis, Gerd Hilger, Maria Hummitzsch, Gaby Küppers und Gotthardt Schön. Edition diá, 2015
  • Luiz Ruffato: Ich war in Lissabon und dachte an dich. Übers.: Michael Kegler. Assoziation A - erscheint im August 2015
  • Marina Colasanti: Mein fremder Krieg. Übers.: Markus Sahr. Weidler Verlag - erscheint im November 2015
  • Klaus Küpper: Kinder- und Jugendbücher aus Lateinamerika. Kommentierte Bibliografie der deutschen Übersetzungen. Verlag Klaus Küpper, 2015

Ausgabe 151/2015