Niedergang unter Bolsonaro – Hoffnung unter Lula auf eine neue Kulturpolitik
Franklim Drumond, Belo Horizonte
Übersetzung: Bernd Stößel
Der neue Horizont, der sich für Brasilien nach Lulas Wahl zum Staatspräsidenten auftut, verheißt eine Stärkung der Demokratie und den Wiederaufbau einer Politik, die die kulturelle Diversität des Landes wertschätzt. In diesem Prozess spielt das Kulturministerium eine übergreifende Rolle.
Die Kulturpolitik Brasiliens erlebte während der Regierungszeit Bolsonaros tiefgreifende, negative Einschnitte. Seit den 1930ern waren Organe entstanden, die sich vor allem um das kulturelle Erbe bemühten, wobei die Funktion umfassender war als nur die Leitung eines bestimmten Bereichs. Die Nationalbibliothek zum Beispiel war eines der ersten Organe, das sich im Auftrag der Regierung mit einem bestimmten kulturellen Sektor befasste. Die Nationalbibliothek wurde 1810 eingerichtet, zwei Jahre nachdem der portugiesische Hof seinen Sitz nach Rio de Janeiro verlegt hatte. Solche Organe befassen sich traditionell mit einem ausgewählten Bereich des Kultur-Sektors. Wenn wir heute von Kulturpolitik sprechen, haben wir aber einen umfassenderen Begriff von öffentlicher Führung des Bereichs im Sinn.
Kulturpolitik kann verstanden werden als eine Gesamtheit administrativer Handlungen, die politische Prinzipien in einem Zusammenhang widerspiegeln. In diesem Sinn vereint die Kulturpolitik eines Landes die öffentlichen Kulturpolitiken, von denen es viele und sektorbezogene geben kann (Lesen, Kunst, kulturelles Erbe etc.), mit dem Ziel, kulturelle Rechte zu garantieren, wie zum Beispiel „den Zugang zu den Quellen der nationalen Kultur“. Das garantiert Artikel 2015 der Verfassung von 1988.
Seit 2016, mit dem Staatsstreich gegen die Präsidentin Dilma Rousseff, erlebte Brasilien fortlaufende Angriffe auf die öffentliche Ausgestaltung der Kulturpolitik. Der Schaden durch seine ideologische Ausrichtung weitete sich im Laufe der Zeit immer weiter aus. Im Jahr 2016 setzte Interimspräsident Michel Temer das Kulturministerium sogar für eine Woche aus und machte erst dann einen Rückzieher, nachdem die Bewegung #OcupaMinc, in der sich Beschäftigte und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammenschlossen, in 21 Bundesstaaten Besetzungen vorgenommen hatte. 2019 setzte Präsident Jair Bolsonaro bei seinem Amtsantritt dem Ministerium ein Ende und wandelte es in ein Sonderministerium um. Damit war ein verringertes Budget für den Kulturbereich verbunden. Die negativen Auswirkungen dieser Entscheidung lassen sich nicht abschätzen. Dazu kam dann noch der Brand im Nationalmuseum am 3. September 2018. Er hatte den Verlust eines Bestandes von rund 20 Millionen Objekten zur Folge, die in 200 Jahren der Existenz des Museums zusammengetragen worden waren. Auch das nationale Filmarchiv Cinemateca Brasileira fiel einem Brand zum Opfer, und zwar am 29. Juli 2021. Neben dem Verlust von Beständen kam es generell zum Stillstand von Dienstleistungen und Aktivitäten. Innerhalb eines Jahrzehnts verringerte sich das Bundesbudget für die Kultur um 47%. Betrugen die Ausgaben 2011 noch 3,34 Milliarden Reais, so waren es 2021 nur noch 1,77 Milliarden Reais. Der kontinuierliche Abbau von Mitteln in der Kulturpolitik verringerte die Rolle, welche die Regierung in diesem Bereich spielte. Bis dahin Impulsgeber für Handlungen und verantwortlich für die Förderung der Kultur, fuhr die Regierung ihre Aufgabe im kulturellen Bereich auf die eines Propagandisten von ultrakonservativen Vorstellungen zurück.
Unter der Regierung Bolsonaro erlebte das öffentliche Kultur-Management eine unheilvolle Zeit. Im August 2019 wurde der Sonderminister für Kultur entlassen, da er der Aufhebung einer Ausschreibung nicht zustimmte, die Produktionen mit Themen der LGBT+ förderte. Eine der schlimmsten Episoden jedoch, in die das nationale Kultur-Management verwickelt war, betraf ein Video, in dem der damalige Minister Roberto Alvim im Januar 2020 über die Zukunft der Kunst in Brasilien sprach. Die zu den Klängen von Richard Wagners Musik gehaltene Ansprache verwendete Auszüge aus einer Rede des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels. Massive Proteste der brasilianischen Gesellschaft führten schließlich zu Alvims Entlassung.
Die Regierung Bolsonaro beseitigte die Organe der Kulturpolitik oder instrumentalisierte sie für sich mit Hilfe von perversen Vorstellungen. Sérgio Camargo leitete von 2019 bis 2021 die selbstverwaltete Fundação Palmares, die für Fördermaßnahmen für die schwarze Bevölkerung zuständig ist. Er stand einer positiven Politik aber ablehnend gegenüber, indem er zum Beispiel behauptete, in Brasilien gebe es keinen Rassismus.
Die Entscheidung, öffentliche Maßnahmen anzugreifen, die Minderheiten dienen und die Demokratie stärken, war charakteristisch für die Regierung Bolsonaro. Ein handfestes Ergebnis stellten die Angriffe auf die Gebäude von Exekutive, Legislative und Judikative in Brasília am 8. Januar 2023 durch einen Mob dar, die das brasilianische Kulturerbe zerstörten, das seit 1987 von der UNESCO als Welterbe anerkannt wird. Vor allem während der Pandemie bewies die Regierung Bolsonaro, dass sie die den ärmsten und schwächsten Teil der Bevölkerung sterben lassen wollte. Im Kulturbereich legte die Exekutive ihr Veto gegen Hilfsgesetze wie das Gesetz Aldir Blanc und das Gesetz Paulo Gustavo ein. Beide traten aber in Kraft, nachdem der Kongress die Vetos gekippt hatte.
Der Angriff auf die Kulturpolitik führte zu einem landesweiten politischen Zusammenschluss, dem eine außergewöhnliche Kraft innewohnte. Eine Kraft, die als eine Kraft der Liebe bezeichnet werden könnte, wie Hermann Hesse sie nannte: „Zwischen den Menschen bleibt, sogar wenn sie innig vereint sind, immer ein Abgrund geöffnet, den nur die Liebe überwinden kann, und auch in diesem Fall handelt es sich nur um einen Übergang im Notfall.“
Mit Lulas Wahl zum Staatspräsidenten im Oktober 2022 begann eine neue Zeit. Am 23. Januar 2023 wurde das Kulturministerium wieder eingerichtet. Dieses plant jetzt eine Wiederaufnahme der Kulturpolitiken als Impulsgeber für die Entfaltung und als Förderer von Bürgerbewusstsein und Demokratie.
Das neue Ministerium und das Nationale System für Kultur
Während des Wahlkampfs hatte Lula betont, dass er neben der Wiedereinrichtung des Kulturministeriums „Kulturkomitees” schaffen werde. Die Gründung eines Sekretariats für Kulturkomitees dient der Vernetzung von Aktivitäten des Kulturministeriums in den Bundesstaaten. Auf diese Weise sollen Ungleichheiten verringert werden, wobei an die jeweiligen Realitäten und die Unterschiede der Landesregionen angepasste Lösungen vorgeschlagen werden. Das Sekretariat ist zudem verantwortlich für die Koordinierung der Umsetzung des Nationalen Kultursystems (SNC) in ganz Brasilien, durch das die Regierungen der Bundesstaaten und der Gemeinden unterstützt werden. Vom 4. bis 8. Dezember 2023 soll eine nationale Konferenz stattfinden, mit der das Kulturministerium den Dialog mit der Gesellschaft auf institutioneller Ebene wieder aufnehmen will. Hierbei geht es auch um die Bestimmung von Zielen der Kulturpolitik und die Festlegung der Richtung, die das wieder eingerichtete Ministerium einschlagen soll.
Mit der neuen Zusammensetzung beabsichtigt das Kulturministerium, den Zugang zu kulturellen Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen und eine Kulturpolitik zu fördern, die einen Mechanismus zur Stärkung der Demokratie darstellt. Am 3. April wurden die neuen Mitglieder des Conselho Nacional de Política Cultural in ihr Amt eingeführt. Von den 72 Vertretern kommen 18 aus der Zivilgesellschaft.
Kulturministerin Margareth Menezes ist eine Afropop-Sängerin, die als Künstlerin in ihrem Heimatstaat Bahia und außerhalb Brasiliens Respekt genießt. Menezes ist nicht nur eine der Gründerinnen einer Organisation für soziokulturelle Projekte in Salvador, sondern auch Botschafterin für Folklore und populäre Kultur Brasiliens für die International Organization of Folk Art (IOV). Ihre Ernennung hat einen symbolischen und repräsentativen Charakter und sendet ein positives Signal an die schwarze Bevölkerung. Die Zahl der Frauen auf oberster Regierungsebene soll generell steigen.
Die Ministerin steht vor der Herausforderung, die mit dem Kulturministerium verbundenen öffentlichen Organe zusammenwirken zu lassen und mit geeigneten Handlungen sicherzustellen, dass das Nationale Kultursystem (SNC) funktioniert. Bund, Bundesstaaten und Gemeinden sollen hierbei zusammenarbeiten. In Brasilien gibt es 5.568 Gemeinden, von denen 3.150 sich dem Nationalen Kultursystem anschlossen, sowie 27 Bundesstaaten (Anmerkung: 26 Bundesstaaten und Nationaldistrikt). Allerdings schufen nur 15 Bundesstaaten ihre staatlichen Kultursysteme mittels eines eigenen Gesetzes, und lediglich rund 600 Gemeinden verfügen aufgrund eines eigenen Gesetzes über ihr eigenes Kultursystem.
Eine der größten Herausforderungen für das neue Kulturministerium ist es, die effektive Umsetzung des SNC sicherzustellen. Neben der Ausrichtung der Nationalen Konferenz muss eine neue Ausgabe des Nationalen Kulturplans vorbereitet werden, dessen Frist zunächst von 2020 auf 2022 ausgedehnt wurde, und jetzt bis 2024.
Die Kulturpolitik ist daher in eine breite öffentliche Diskussion eingebunden, auch das Budget betreffend. Vielleicht lag hierin einer der Gründe für die heftigen Angriffe der Regierung Bolsonaro. Bei der Behauptung, der Kulturbereich schaffe keine Beschäftigung und keine Einkünfte, handelt es sich um einen Irrglauben. Im Jahr 2020 bewegte der Kultursektor mehr Gelder als der Bergbau.
Die Förderung der Kreativwirtschaft ist von strategischer Bedeutung.
Die Führung von Margareth Menezes handelt an verschiedenen Fronten. Das Kulturministerium kann hierbei auf erfahrene Manager und Mitglieder der Kulturbewegung zählen. Eine der wichtigsten Maßnahmen während des ersten halben Jahres der neuen Regierung war die Förderung des Finanzierungssystems für die Kultur (Dekret Nummer 11.453 im März über die entsprechenden Mechanismen).
In Brasilien gibt es zwei Arten der öffentlichen Finanzierung der Förderung der Kultur. Die direkte Förderung obliegt jeweils einem Organ des Kulturministeriums. Hierbei werden öffentliche Mittel verwendet. Die indirekte Förderung beruht auf dem Verzicht des Staates auf Steuern. Unternehmen und Einzelpersonen können bestimmen, dass ein Teil ihrer Steuern in kulturelle Projekte fließt. Im Jahr 2022 bremste die Regierung Bolsonaro die Durchführung von 1.946 Projekten mit einem Gesamtwert von 968 Millionen Reais aus. Im Januar 2023 gab das Kulturministerium die dafür vorgesehenen Gelder wieder frei. Investitionen in die Kreativwirtschaft leisten einen Beitrag zur Erhaltung der Identität und Vielfalt Brasiliens. Zum anderen stärken sie die gesellschaftliche Entwicklung und somit die Demokratie. Ein wichtiger Punkt ist auch die Demokratisierung des Zugangs zu Kultur. Brasilien hat eine lange Geschichte der Verletzung der Rechte von Minderheiten, die über ein reiches kulturelles Erbe an Wissen und Fähigkeiten verfügen.
Franklim Drumond, Berater für soziokulturelle Projekte und Masterstudent der Philosophie an der Jesuitenfakultät
für Philosophie und Theologie in Belo Horizonte mit einem CAPES-Stipendium.
Ausgabe BrasilienNachrichten 168/2023