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Pixação, Grafite und die „Schöne Stadt“

Paula Larruscahim, Paul Schweizer

Kämpfe um die Ästhetik São Paulos

Aktuelle Machtwechsel und politische Kämpfe in Brasilien spielen sich nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in der Stadtpolitik ab. In São Paulo wird die Ästhetik des öffentlichen Raums dabei einmal mehr zum bevorzugten Schauplatz politischer Konflikte. Seit den 1990er Jahren haben konkurrierende Stadtverwaltungen ihre politischen Profile an der Frage geschärft, wie ein „schönes São Paulo“ auszusehen habe. Doch neben Berufspolitiker*innen mischen sich Grafiteiros und Pixadores, die die „cidade cinza“ – die Graue Stadt – mit oder ohne Genehmigung mitgestalten, in die Debatte ein. Sie setzen sich über ästhetische Vereinheitlichung hinweg und tun ihre Meinung dort kund, wo nicht einmal die politischen Eliten der Wirtschaftsmetropole sie ignorieren können – auf den Hochhausfassaden der Innenstadt. Fotos: Fabio “Fotorua” Vieira, www.fotorua.com.br

Bilder einer Stadt

Die lokale Identität São Paulos, und die damit verbundenen dominanten Bilder der Stadt waren immer umkämpft. Während Städte wie Rio de Janeiro oder Salvador da Bahia als „tropische“ Paradiese der afro-brasilianischen Kultur und des Karnevals präsentiert werden, gilt São Paulo als Wirtschaftsmetropole, in der sich alles ums Geschäft dreht, nicht um gute Laune und „exotische“ Partys. Über das 20. Jahrhundert hinweg waren dominante Darstellungen von São Paulo von einer strengen, funktionalen Ästhetik geprägt. Statt Strandpromenade und regenwaldbewachsenem Pão de Açucar zeigen Postkarten aus São Paulo meist den Hochhausdschungel der Innenstadt.
Neben den landschaftlichen Gegebenheiten ist die Ästhetik São Paulos auch eine direkte Folge stadtpolitischer Maßnahmen und des Entwicklungsverständnisses. Das in São Paulo dominante stadtpolitische Leitbild ist seit dem 20. Jahrhundert das einer modernen, geordneten und vor allem sauberen Wirtschaftsmetropole nach westlichem Vorbild. Für sichtbare Manifestationen spezifisch brasilianischer Populärkultur ist in diesem stadtpolitischen Modell kein Platz. Vielmehr scheint schon die bloße Anwesenheit bestimmter Bevölkerungsgruppen und Aktivitäten inakzeptabel zu sein. Eingebettet in ästhetische Argumentationen bemühten sich stadtpolitische Maßnahmen mit Namen wie „Operação Limpa“, „Operação Integrada Centro Legal“ oder „Operação Sufoco“ in den 2000ern Wohnungslose, Müllsammler*innen und Straßenhändler von den Straßen des Zentrums zu vertreiben. Auch die Wände der Stadt sollten einer ästhetischen Säuberung unterzogen werden, um die Stadt „schöner“ zu machen. Seit Erlassen des „Saubere Stadt“-Gesetzes 2006 bemüht sich die Stadtverwaltung alle öffentlichen Wände der Stadt regelmäßig grau zu streichen. Tatsächlich verfügt jeder der Stadtteile über einen Reinigung-Truck mit Farbtank und Düsen an beiden Seiten, um Wände im langsamen Vorbeifahren komplett grau anzusprühen. Täglich sind die Trucks unterwegs um São Paulo „sauber“ zu halten. Tatsächlich aber öffnete das „Saubere Stadt“-Gesetz noch mehr Raum für jene visuellen Interventionen, die sich ohnehin nicht um Autorisierung scheren und von der kurzen Haltbarkeit ihrer Werke nicht abschrecken lassen.

Grafite – Pichação – Pixação

Unautorisierte Bemalungen von Wänden im öffentlichen Raum brasilianischer Städte werden seit den 1970er Jahren meist in zwei Kategorien eingeteilt – Pichação und Graffiti. Als Graffiti – im Brasilianischen oft „Grafite“ geschrieben – werden seitdem Wandbemalungen mit bunten, meist bildlichen Motiven bezeichnet. Im Gegensatz zum nordamerikanischen und europäischen Verständnis des Begriffs, meint Grafite in Brasilien eine weitgehend anerkannte Kunstform. Frühe Grafiteiros, die in den 1970er und 1980er Jahren unautorisiert auf den Wänden São Paulos gemalt hatten, knüpften schon bald Kontakte zum Kunstmarkt und sind heute oft hoch dotierte, international angesehene Künstler*innen. So entbehrt Grafite in Brasilien weitgehend den Beigeschmack des Verbotenen, Rebellischen, Skandalösen, den Graffiti in Europa auszeichnet und attraktiv und verhasst zugleich macht. Ganz im Gegensatz dazu Pixação.
Der Begriff „Pichação“ ist von „piche“ (pt. Pech) abgeleitet und bezeichnete somit ursprünglich eine Technik, Schriftzüge mit schwarzer Ölfarbe auf Wände aufzutragen. Seine heutige Verwendung entspricht ungefähr der der deutschen Ausdrücke „Kritzelei“ oder „Schmiererei“. In den 1960er und 1970er Jahren bezeichnete „Pichação“ die verschiedenen Formen der zu dieser Zeit in brasilianischen Städten verbreiteten politischen oder humoristischen Parolengraffitis.
Seit den 1980er Jahren entwickelten Jugendliche in São Paulo jene Praktik, die heute als Pixação – mit „x“ – bezeichnet wird. Ähnlich wie im Graffiti im New York der 1970er Jahre verbreiten Pixadores Schriftzüge, die meist keine politischen Inhalte vermitteln, sondern als Namen für Individuen oder Gruppen stehen. Trotz beschränkter Mittel und oft widriger Umständ, eroberten Pixadores in den 1990er Jahren mit ihren meist einfarbigen, verschlungenen Signaturen die Metropole. Heute existiert Pixação – in der Szene oft mit „Pixo“ abgekürzt – in allen brasilianischen Großstädten, wobei sich die in den verschiedenen Städten verwendete Typographien stark unterscheiden. In Rio de Janeiro sind die Zeichen verhältnismäßig klein und verschnörkelt und passen so auch auf Steine der gemauerten Wände der Altstadt. In Salvador da Bahia dagegen wird möglichst viel Platz eingenommen, so dass ein Pixo eine meterlange Wand für sich einnehmen kann.

Pixo in São Paulo

São Paulo gilt nach wie vor als Hauptstadt des Pixação und ist dabei vor allem für Pixação auf Hochhausfassaden bekannt. Mit Streichfarbe vom Dach herab oder durch ungesichertes Erklettern der Fassaden bringen Pixadores ihre Zeichen in atemberaubenden Höhen an. In einer Stadt, die schon städtebaulich und architektonisch auf Überwachung und Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen ausgerichtet ist, beweisen Pixadores immer wieder, dass sie sich nicht ausschließen lassen. Selbst auf den am besten bewachten Gebäuden in den repräsentativen Vierteln im Zentrum der Stadt toben sich Pixadores aus, wie um klarzustellen, dass Sicherheitsarchitektur und Polizeipräsenz sie nicht davon abhalten werden sich frei in ihrer Stadt zu bewegen. „Sie stellen einen Elektrozaun auf, eine Überwachungskamera, eine Alarmanlage... – wir werden immer nach einem Weg suchen diese zu überwinden!“, erklärt der Pixador Daniel.
Geschätzte fünf- bis zehntausend Personen praktizieren heute in São Paulo Pixação. Anders als oft vermutet sind nicht alle Pixadores arm, schwarz, jugendlich und männlich. Auch bürgerliche Kids, „alte Hasen“ mitten in ihren Vierzigern und Pixadoras hinterlassen ihre Marke auf den Wänden der Stadt. Jeden Donnerstagabend fahren einige hundert Pixadores zum Point des Zentrums – dem wöchentlichen Treffpunkt. Dort werden Kontakte geknüpft, Skizzen ausgetauscht, Pläne geschmiedet, um schließlich in kleinen Gruppen in die nächtliche Großstadt aufzubrechen. So verfügen sie über ein Netzwerk an Bekanntschaften, das die ganze Metropolregion bis in die abgelegensten Peripherien umspannt. Anstatt sich in ihrer jeweiligen Enklave zurückzuziehen, treffen sie sich im Zentrum oder besuchen sich in ihren „Quebradas“ – wie die armen Peripherien genannt werden. „Die Stadt wird immer weiter segregiert, es wird versucht uns voneinander zu trennen, aber wir überwinden diese Wände, überwinden die Segregation“, versichert Daniel.
Tatsächlich ist Pixação in São Paulo fast allgegenwärtig. So gepflegt ein Straßenzug auch sein mag, so findet sich bei genauem Hinsehen doch meist ein Pixo, auf einem Dach, an einer Hochhausfassade oder einem Stromverteilerkasten. Damit stellt es einen massiven Störfaktor im Bild des ästhetisch einheitlich sauberen, funktionalen São Paulos dar. Die brasilianische Philosophin Márcia Tiburi diskutiert Pixação als Attacke gegen „das faschistische Ideal der ästhetischen Säuberung“, welche ein autoritäres Verständnis davon vorschreibe was schön sei und wie in São Paulo als Ganzes auszusehen habe. Sie betont, Pixação sei insofern revolutionär, als es die glänzende Fassade des Business-São Paulos stets eines Besseren belehre, indem es abweichende Ästhetiken sichtbar mache.
Entsprechend deutlich fällt das Urteil über Pixação im politischen und medial Diskurs aus. Um zu verdeutlichen, mit welcher Vehemenz Pixação verdammt wird, bedient sich Márcia Tiburi der berühmten marx-engelschen Metapher: „Ein Gespenst geht um in Brasilien, das Gespenst der Pixação.“ Konservative Politiker*innen und Mainstreammedien sind sich einig: Pixação sei eine „Plage“, „Vandalismus“, „eines der größten aktuellen Probleme“ oder sogar „Terrorismus“. Schon Ende der 1980er Jahre kündigte der damalige Bürgermeister Jânio Quadros an, Pixadores hinter Gitter zu bringen. Seitdem geht die Polizei kontinuierlich hart gegen Pixação vor. Neben Festnahmen, Geld- und gelegentlich Freiheitsstrafen bedeutet das für Pixadores vor allem eines: Polizeigewalt auf der Straße. So ist eine übliche Praxis, die von Beamt*innen meist vor Ort bei der Ergreifung von Pixadores ausgeführt wird, das sogenannte Farbbad. Gemeint ist das Überschütten, Bemalen oder Besprühen von Pixadores mit ihrer eigenen Farbe. Andere Foltermethoden und gelegentlich sogar Mord kommen hinzu. So wurden im Juli 2014 zwei Pixadores nach ihrer Festnahme von Polizeibeamten erschossen.

Pixação – ästhetisch-politische Intervention

Als am 1. Januar 2017 João Doria (PSDB) das Bürgermeisteramt übernahm brachte er als eine seiner ersten Maßnahmen das Programm „Cidade Linda“ – „Schöne Stadt“ – auf den Weg. Bereits am 2. Januar 2017 begann die Entfernung von Pixação von der Estaiada-Brücke, einem „Symbol São Paulos“, so Doria. Bereits zuvor hatten allerdings Pixadores gehandelt, die den werdenden Bürgermeister, der schon in der Wahlkampagne ein hartes Vorgehen gegen Pixação angekündigt hatte, also bereits einige Tage vor Amtsantritt, direkt ansprachen. Am Morgen des 25. Dezember 2016 prangten auf der Fassade eines Hochhauses gegenüber der zentralen Busstation Terminal Bandeira im Zentrum São Paulos senkrecht über zehn Stockwerke gezogene Pixação-Schriftzüge. Neben ihren Pixo-Namen „Locuras“, „Telas“ und „Arts“ richteten sich die Pixadores mit den Parolen „Doria Ladrão“, „Doria, pixo é arte“ und „Fora Temer“ direkt an die lokale und nationale Politik. Bryan, einer der beteiligten Pixadores erklärt die Motivation für diese Aktion. „Es war dieser Moment. Monate vorher war durch das Impeachment eine illegitime, faschistische Regierung an die Macht gekommen. Und dann dieser neue Bürgermeister...“ Als Pixadores seien sie in der Lage symbolische Orte der Stadt zu nutzen. So sei das Terminal Bandeira nicht nur ein Ort in direkter Nähe zu den mächtigsten Institutionen der Stadt, sondern auch historisch relevant, weil von hier aus die Bandeirantes zu ihren gewalttätigen Eroberungszügen ins paulistanische Hinterland aufgebrochen seien, erläutert Bryan. Der tagelange Aufwand, den sie betrieben hätten, um Zugang zu dem Gebäude zu erlangen, von dem sie sich abseilten, um die Schriftzüge anzubringen, habe sich jedenfalls gelohnt, stellt er zufrieden fest. Die repressiven Gebärden, mit denen Doria schon vor seinem Amtsantritt aufgetreten sei, hätten so letztlich vor allem ihnen Sichtbarkeit verliehen. „Alle haben versucht uns zu erreichen. Drei Monate lang wurde in Zeitungen, Blogs darüber geschrieben. Sogar eine Uni-Professorin hat ein Seminar über unsere Aktion gehalten.“
Die Pixadores treten in den letzten Jahren – wohl auch im Zuge der profunden politischen Umstrukturierungen, die sich in Brasilien vollziehen – zunehmend selbstbewusst auf, formulieren ihre Meinungen explizit und eignen sich auch formelle Kontexte an. So eröffnete in der SUB-Galerie im Stadtteil Butantã, ein Jahr nach dem Startschuss von Dorias Schöne Stadt-Programm, die Ausstellung „Cidade Linda“, in der verschiedene Pixadores und Pixadoras ihren Blick auf die „Schöne Stadt“ vorstellten. Viele der Beteiligten Pixadores und Pixadoras stellten damit zum ersten Mal in einem nicht illegalen Raum aus. Doria habe die Pixação-Bewegung genutzt, um sein Schöne Stadt-Programm zu propagieren, betont Bruno Rodriguez, einer der Organisatoren der Ausstellung. Mit dem Schöne Stadt-Titel der Ausstellung und anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen drehten Pixadores den Spieß um, und machten sich den kritischen Bezug auf Dorias Politik zum Vehikel für eigene Inhalte und Ästhetik.

Eine schöne Stadt? Differente Ästhetiken

Die in der Ausstellung formulierte Kritik an der stadtpolitischen Kontrolle ästhetischer Paradigmen bringt Gabriel Kerhart in der Zeitschrift Vaidapé treffend auf den Punkt: „Der Bürgermeister muss Optionen anbieten, er muss die verschiedenen Formen des Schönen fördern. […] Auf gar keinen Fall ist ein Bürgermeister dafür gewählt worden, zu sagen, was schön ist und was nicht. Das ist ästhetische Folter.“ Diese Einsicht scheint 2018, im Brasilien von Temer, Bolsonaro und Doria – der im April 2018 von Bruno Covas abgelöst wurde, um sich selbst um den Governeursposten zu bewerben – wichtiger denn je, hätte der Politik von Covas Vorgänger*innen, ob offen reaktionär, oder blaßrosa getüncht, aber gleichfalls gutgetan. Denn, wie der Grafiteiro Mauro Neri, der Anfang 2017 festgenommen wurde, als er eines seiner im Zuge der Schöne Stadt-Säuberungen zerstörten Grafites wieder herstellen wollte, feststellt, dient „die Definition dessen, was Grafite ist und was Pixação vor allem dazu zu bewerten. Wenn es gefällt, nennt man es Grafite und wenn es nicht gefällt, nennt man es Pixação. Wir müssen genauer hinhören, um das Potential zu nutzen, das öffentlicher Raum für Bildung und Meinungsaustausch bietet.“ Bis dieser Ratschlag von Politiker*innen berücksichtigt wird, liegt es an Pixadores und Grafiteiros das Potential des öffentlichen Raumes zu nutzen, auch ohne offizielle Erlaubnis und angesichts zunehmender Repression. Denn während die Putz-Trucks weiter tausende Liter grauer Farbe versprühen – für die schöne Stadt; und während teuer engagierte Grafitekünstler*innen bunte Farbe versprühen – für die schöne Stadt – erinnern die schwer zu entziffernden Zeichen auf den Wänden São Paulos daran, dass es sie nicht gibt, die eine schöne Stadt. Eine universelle Ästhetik kann und will Pixação nicht anbieten. Pixo, so der Pixador Gel, sei „eine Kunst, wertgeschätzt von Einigen, verabscheut von Anderen.“ Oder wie es in einem Song des Rappers Grillo 13 heißt: „Pixar é errado / errar é humano / somos humanos / por isso que pixamos ...
Nach dem 28. Oktober scheint klar, dass Pixadores mit brutalster Repression zu rechnen haben. Noch am Abend des 28. verkündete der neu gewählte Governeur des Bundesstaates São Paulo, Doria, dass er Polizist*innen, die im Dienst Verdächtigte töten die besten Anwälte bezahlen werde. Pixador Nando erklärt, was das für die Bevölkerung der Quebradas bedeutet: „Du bist verdächtig? – Dann wirst du dir sofort eine Kugel fangen!“
Fabio ‚Fotorua‘ Vieira und Bruno Rodrigues, zwei Pixadores und Mitglieder des Coletivo ArdePixo, sind ab dem 15. Dezember im neurotitan in Berlin an der Ausstellung Habitat Happy beteiligt, in der internationale Künstler*innen sich mit der Wohnungsfrage im Kontext neoliberal regierter und vermarkteter Städte beschäftigen. Im Begleitprogramm zur Ausstellung im neurotitan, werden sie mit Aktivist*innen aus Berlin, die Potentiale von visuellen Interventionen im öffentlichen Raum im Kontext erstarkender rechter Bewegungen und der neuen faschistischen Regierung in Brasilien diskutieren.

Ausgabe 158/2018