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Travessias - Aktionsökologie Kunst, Bildung und das Leben in den Städten

Janis Clémen, Rio de Janeiro Übersetzung: Hendrik Johannemann

Das Projekt Travessias („Überfahrten” oder „Überquerungen“) – Zeitgenössische Kunst in Maré – findet 2014 zum dritten Mal statt und ist Teil der Aktionen des Observatório de Favelas, mit denen wir die Stigmata des Mangels, der Gewalt und der Kriminalisierung überwinden möchten, wie sie immer noch in der Öffentlichkeit Rio de Janeiros vorherrschen. Außerdem ist es unser  Ziel zu zeigen, dass Favelas Orte künstlerischer und kultureller Produktion sind, die für die Stadt als Ganze relevant sind.

Travessias ist wiederum Teil eines noch größeren Projekts, nämlich dem Aufbau eines „Kreativterritoriums” in der Favela Maré. Mit Hilfe der Gruppe Automática, die moderne Kunst voranbringen will, ist dieses Projekt gereift und hat von Jahr zu Jahr an Qualität gewonnen.
Seit 2011, dem ersten Zustandekommen des Projektes, bin ich dabei und zuständig für die Koordinierung des Bildungsprogrammes.
Bei dem von mir geleiteten Projekt „Arte educação no Projeto Travessia“ geht es darum, über Kunst eine Verbindung zur Realität herzustellen. Unser Verständnis von Erziehung ist anders als dies im Allgemeinen der Fall ist. Die Inhalte sind andere. Unsere Absicht ist es, die Aktivierung der Wahrnehmung durch die Kunst und darüber die Wahrnehmung für alltägliche Situationen in Maré und darüber hinaus in Rio zu fördern. Auch gilt es, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass zeitgenössische Kunst jeden betreffen kann. Durch die Kunst kann es gelingen, den Leuten ihre Bürgerrechte bewusst zu machen.
Rio ist eine geteilte Stadt, die Bewohner Marés – immerhin 140.000 Menschen – haben nur geringen Zugang zum Zentrum. Dies bedeutet auch nur einen geringen Zugang zu Museen, Bibliotheken, Ausstellungen. Unsere Arbeit, das Projekt Travessias, kann bewirken, dass die Menschen von Maré durch den Besuch unserer Ausstellung, durch die Teilnahme an Travessias, erkennen, dass sie gleichwertige Bürger sind, sodass sie die Scheu verlieren Orte wie Museen und Ausstellungen überhaupt zu betreten.
Die Errichtung des Kulturzentrums Bela Maré stellt eine vollkommene Neuorientierung im bisherigen Umgang mit Kunst in Rio de Janeiro dar. Die Werbung für Kunstausstellungen erreicht nicht alle Medien und Stadtteile. Eine zeitgenössische Kunstausstellung wie Travessias repräsentiert hierbei ein Umdenken in diesem Bereich, da man sich einen Ort zu eigen macht, der niemals zuvor für solche Veranstaltungen in Betracht gekommen war. So achteten die Initiatoren des Projektes besonders darauf, dieses soziopolitische und kulturelle Projekt möglichst behutsam und verantwortungsvoll umzusetzen. Wir schafften es, den Interessentenkreis für zeitgenössische Kunst zu vergrößern. Neue, interessierte Menschen kamen; der Ausstellung gelang es, Menschen kritischer und einfühlsamer zu machen.
Als ich unsere spätere Ausstellungshalle, die über Jahre hinweg eine Fabrik für Gläser, Teller, Plastik- und Papierutensilien beherbergte, zum ersten Mal betrat, war die Fabrikarbeit noch im vollen Gange. Jedoch war dieser Anblick nicht jenes idealisierte, stereotype Bild einer emsigen Arbeitsamkeit, wie sie womöglich in der Vorstellung der Leser auftaucht. Vielmehr handelte es sich um viele Personen, die dort zur gleichen Zeit in diversen Funktionen arbeiteten, alles einfache Arbeiter, die etwas verwirklichen, produzieren oder entwickeln. Die Überschneidung mehrerer simultaner Aktivitäten gab dem Ort Leben und es war nicht einfach und klar auszumachen, wer wer war und wer welche Funktion ausübte – es war ein großes Kollektiv. Das gleiche Szenario wiederholte sich in der Gestaltung der zweiten und der dritten Travessias-Ausstellung.
Travessias, Überfahrten, ist ein Ausdruck, der mich an Jorge Bondía Larrosa erinnert. Dieser hatte in „Anmerkungen zur Erfahrung und zum Wissen der Erfahrung” ausführlich das Verwischen von Grenzen zwischen Kunst und Bildung dargelegt. Er zeigt Haltungen auf, die potentielle gesellschaftliche Transformationen vorantreiben und sowohl auf den Künstler als auch auf den Erziehenden zutreffen. Die Legitimation der Kunst als Bindeglied zum gesellschaftlich-historischen Kontext ist zwar immer noch ein ethisch-ästhetisches Dilemma. Doch im Übergang moderner zu zeitgenössischer Kunst etabliert sich zusehends eine Verbindung zur Erfahrung, zum Erleben von Kunst.
Der Moment des ersten Kontakts mit Kunst äußert sich wie ein Nullpunkt der Wahrnehmung und setzt sich in einem Suchprozess fort, in dem verschiedene Aspekte des Erlebens intensiviert werden können. In diesem Sinne soll das Erzieher-Team bei Travessias die zentrale Idee des „Zusammenseins” vermitteln, was ein Mediationsformat voraussetzt, in dem das Publikum und die Wissensvermittler gemeinsam durch Gespräche agieren. Es handelt sich um eine dialogische Praxis, eine als Ort des Austauschs gestaltete Begegnung, in der sich jeder Gesprächsteilnehmer wohlfühlen kann, um seine Eindrücke und Infragestellungen äußern zu können. Davon ausgehend ergeben sich verschiedene Modi, um sich mit der Ausstellung auseinanderzusetzen, sie zu durchlaufen. Aufgrund dieser Vorgehensweise entsteht ein Bewusstsein, durch das sich eine wachere Aufmerksamkeit und eine erhöhte Wahrnehmung hinsichtlich der Welt des Einzelnen und der Welt der Kunst ergeben.
Für die jetzt beginnende Ausstellungs-und Vortragsreihe des Projekts „Travessias“ stellen wir zunächst unsere Idee und unsere Arbeit an fast allen Schulen in Maré vor. Wir sprachen mit den Lehrern, erläuterten das Projekt und schlugen vor, dass sie sich mit den Schülern beteiligen sollten. Einen ersten Anfang machte das Aufzeichnen des jeweiligen Schulwegs. Was nehmen die Kinder auf dem Schulweg wahr, was ist für jeden Einzelnen von Bedeutung? Und hier in der Halle, wo auch die Ausstellungen stattfinden, werten wir gemeinsam mit den Schülern die Zeichnungen aus. Sie sollen die Bedeutung von Kunst und Lebenswirklichkeit erfahren. Sind die Schüler bereit zu uns zu kommen, haben wir schon viel erreicht.
Wir laden dazu ein, selbst praktische Erfahrungen zu machen, aber natürlich auch die Ausstellung anzusehen und danach darüber zu reden.
Die Gespräche während der Ausstellung hätten unterschiedlicher nicht sein können. Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus allen Teilen der Stadt experimentierten mit dem Kontakt zur zeitgenössischen Kunst in diesem neuen Kontext und durchlebten auf diese Weise bedeutende Veränderungen. Kleine Vorkommnisse mit großem Widerhall traten auf, als sie mit der Ausstellungshalle und den Kunstobjekten in Berührung kamen. An diesem Ort konnten sie sich erlauben, empört zu sein und eigene Nachforschungen über die Kunstobjekte anzustellen. Das bewirkt, dass ein jeder einen Prozess anstößt, durch den sich, im Idealfall, der Einzelne nach und nach mit dem Ort identifizieren kann. Im Dialog entwickeln sich gleichzeitig kritische Reflexion und Vorstellungskraft. Diesen in Kunst und im Leben latent vorhandenen Prozess gilt es zu aktivieren und zu fördern, ist er doch Teil der menschlichen Entwicklung.
Es ist eine Tatsache, dass eine Teilung zwischen verschiedenen Orten der Stadt besteht. Die Verlagerung eines Ortes zeitgenössischer Kunst in einen begrenzten Raum ist eine Form, viel zu bewegen. Die Kunst, selbst in großen Teilen den Gesetzen des Marktes unterworfen, hat dennoch immer wieder die Möglichkeit, für Unruhe zu sorgen und die Alltagsmechanismen in Frage zu stellen.
Ich glaube, wir befinden uns in einer tiefgreifenden Veränderung des Kunstverständnisses in Brasilien, indem wir dessen erzieherische und politische Bedeutung wiederentdecken. Kunsträume bieten dem Individuum die Möglichkeit zur freien Entfaltung, bekommen die Bedeutung eines Schutzraumes.
Die Besucher dieser öffentlichen Kunst- und Kulturräume gilt es zu ermuntern, sich als Teil der politischen und poetischen Bürgerrechte zu begreifen und danach zu agieren. Darum geht es. Unser gegenwärtiges Erziehungssystem ist noch zu sehr von traditionellen Vorgaben und Inhalten bestimmt, in Kategorien unterteilt und mit wenig, wenn überhaupt, Anreiz ausgestattet, gegenseitig in Verbindung zu treten und Dinge zu hinterfragen. So verwundert es nicht, dass weite Teile der Besucher von Kunstausstellungen sich zwischen den ausgestellten Objekten verloren vorkommen und nach einer Lösung, nach einem Weg verlangen, der ihnen sagt, was sie zu denken und zu fühlen haben.
Dies ist bei unserem Projekt anders. Der Besucher ist Subjekt, Handelnder und seit dem Entstehen des Projekts Travessias im Jahr 2011 lässt sich bei den Beteiligten eine Bewusstseinsveränderung feststellen. Der Begriff „Ökosophie“ von Félix Guattari, mit dem eine ethisch-politische Grundhaltung zwischen dem Wechselspiel von Umwelt, sozialen Beziehungen und Individualität ausgedrückt wird, hat sich im Bewusstsein der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verankert. Das Verständnis für die Umwelt und die Abläufe im zwischenmenschlichen Bereich trägt zu einem besseren Zusammenleben bei. Und die Kunst trägt hieran einen großen Anteil. Auch die Tatsache, dass im Rahmen des  „Travessias“-Projekts auch Künstler von außerhalb Marés ausstellen, fördert unsere Intention, die Schranken zwischen Favelas und übrigem Stadtgebiet abzubauen.
Janis Clémen ist Kunsterzieherin, Doktorandin in zeitgenössischer Kunst, leitet das Projekt „Arte educação no Projeto Travessias,“und ist Koordinatorin des Projekts Travessias in Maré.

Ausgabe 151/2015