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Uber den Rand geschrieben - Die brasilianische Literatura Marginal

Ingrid Hapke

Seit Ende der 1990er Jahre kommt es in Brasilien zu einem Boom an Literatur von Autoren, die aus den sozial problematischen und von Gewalt geprägten Stadtvierteln von São Paulo stammen, den sogenannten periferias.

Die Autoren machen sich selbst und ihre Erfahrungen zum Subjekt und Objekt ihres Schreibens, indem sie Themen wie Armut, Diskriminierung und Gewalt verhandeln. Sie thematisieren dabei auch die Verdrängung einer Geschichte und Kultur, die sie noch immer eng mit der historischen Erfahrung der Sklaverei verbunden sehen und die von der offiziellen Geschichtsschreibung bisher nicht berücksichtigt worden ist. Gleichzeitig verteidigen sie den Status der Literatur für ihren künstlerischen Ausdruck, der nur zu gerne von der Literaturkritik aberkannt wird. Die Texte – vor allem Lyrik und Kurzprosa, aber auch Romane – sind stark durch Umgangssprache und eine eigene Grammatik und Orthographie geprägt.
Nicht nur aufgrund des schwierigen Zugangs zum etablierten Buchmarkt erschließen sich die Autoren alternative Publikations- und Distributionsformen in den so genannten „social media“ wie Blogs, Facebook und Twitter, gründen alternative Verlage und veranstalten Saraus, d.h. offene Bühnen, auf denen sie ihre Literatur performativ darbieten. Denn das erklärte Ziel ist die „Popularisierung“ der Literatur und das Heranziehen eines neuen Lesepublikums unter den von nationalen symbolischen Gütern und Bildung ausgeschlossenen Bewohnern der periferia. Doch auch einige traditionelle Verlage zeigen inzwischen Interesse an der Literatura Marginal oder Literatura Periférica - die Editora Global hat sogar eine eigene Sparte für sie eingerichtet - und machen diese Literatur auch über die periferias hinaus zugänglich.
Die große Neuheit dieser marginalen Literatur ist, dass es sich um eine Literatur handelt, die von Autoren gemacht wird, die historisch aus der nationalen Kulturproduktion ausgeschlossen waren und heute ohne Vermittlung durch Universitäten und Intellektuelle über Themen schreiben, die die nationale Eliten weniger interessier(t)en. Zwar finden Marginalität, Armut und Gewalt in den Randgebieten der brasilianischen Metropolen Niederschlag in den Medien und Kulturproduktionen. Doch werden diejenigen, die sie erleiden, häufig nur passiv dargestellt oder als Täter, selten werden sie als Akteure und noch weniger als kulturelle Akteure gesehen.  Auch gab es in der brasilianischen Literaturgeschichte bereits Autoren wie Carolina Maria de Jesus, die ein ähnliches soziales Profil wie diese neuen Autoren heute hatten, doch jene traten vereinzelt auf, bedurften der Unterstützung von Intellektuellen und beschränkten sich auf die reine Textproduktion.
Der 37 jährige Ferréz aus der Südzone von São Paulo ist einer der wenigen, dessen Bücher (drei Romane, zwei Kinderbücher, zwei Bände von Kurzprosa, Comics) diesseits und jenseits der Brücken gelesen werden, die Peripherie und Zentrum voneinander trennen. Und auch jenseits der nationalen Grenzen wird er rezipiert: Seine Romane sind in sechs oder sieben Sprachen übersetzt, allerdings noch nicht ins Deutsche. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse werden jedoch einige Kurzprosatexte von ihm in Übersetzung vorliegen.

Vorbilder: Zumbi und Lampião

Der bürgerliche Name von Ferréz lautet Reginaldo Ferreira da Silva (Abb.). Sein Künstlername ist eine Synthese aus dem Namen des Freiheitskämpfers Zumbi, der den Widerstand gegen die Sklavenbesitzer anführte, und dem unter dem Namen „Lampião“ bekannten brasilianischen „Robin Hood“ Virgulinho Ferreira da Silva. Beide historischen Persönlichkeiten sind für Ferréz wichtige Referenzen in seinem literarischen Schaffen, für das er den Begriff der Literatura Marginal prägte. Unter dem Namen der Literatura Marginal -  A cultura da periferia - publizierte er zwischen 2002 und 2004 drei Sonderausgaben der nationalen Monatszeitschrift „Caros Amigos“, in denen Texte von 48 Autoren angedruckt waren, die alle aus der periferia, hauptsächlich von São Paulo, kamen.
Mit dem Adjektiv „marginal“ betont Ferréz selbstbewusst eine Randstellung gegenüber der traditionellen Kultur, dem Literaturverständnis und Buchmarkt und spielt gleichzeitig mit der Abwertung, die die Bewohner der brasilianischen Favelas und periferias im öffentlichen Bewusstsein erfahren. Denn landläufig wird mit dem landesüblichen Substantiv „marginal“ nicht nur der Ausgegrenzte und sozial Benachteiligte belegt, sondern auch der Kriminelle. So stilisieren die brasilianischen Medien die periferias im Allgemeinen auch in ihrer Berichterstattung zu einem Tatort und die Bewohner zu Tätern.
Auch Paulo Lins (geb. 1958), der ebenfalls im Oktober auf die Buchmesse nach Frankfurt eingeladen ist, zählen viele zu der Vertretern der Literatura Marginal, da er Afrobrasilianer ist und aus der Favela Cidade de Deus (Stadt Gottes) in Rio de Janeiro kommt. 1997 publizierte er den Roman „Cidade de Deus“, der die Vorlage für den 2004 mehrmals zum Oskar nominierten Film „Stadt Gottes“ lieferte. In dem Roman zeichnet er das Leben und die Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte „seiner“ Favela nach. Lins ordnet sich selbst jedoch nicht der Literatura Marginal zu, denn schließlich wollte er „einfach nur ein gutes Buch schreiben“ und findet, dass seine Literatur neben jeder anderen ohne weitere Adjektive bestehen kann. Dennoch stellte die Publikation ein Ereignis in der brasilianischen Literaturgeschichte dar, die den Horizont für viele Bewohner der periferias erweiterte - wie Ferréz bestätigt - und außerdem gegen die Aussagen der Statistiken und gegen die gesellschaftlichen und medialen Erwartungen für einen jungen, schwarzen Mann aus der periferia spricht. Inzwischen hat Lins seinen zweiten Roman „Desde que o Samba é Samba“ (Seitdem der Samba Samba ist, 2012) veröffentlicht, in dem er den Spuren des Samba durch die  Favelas und periferias folgt.
Auch Sérgio Vaz soll hier Erwähnung finden, da er ebenfalls richtungsweisend für die Bewegung der marginalen Literatur ist. Allerdings bevorzugt Vaz selbst den Begriff der Literatura Periférica, um die negative Bedeutung des „marginal“ zu umgehen und seine Herkunft zu betonen - schließlich ist es ein weiter Weg, den ein Autor  aus der periferia macht.
Vaz ist nicht unter den Autoren der Buchmesse, wurde jedoch vom 22. bis zum 31. Mai dieses Jahres von dem Kollektiv „Urban Artitude“ (ww.urban-artitude.net) als Ehrengast zu der Veranstaltung „Über den (Stadt-)Rand geschrieben. Woche der marginalen Literatur in Berlin, Hamburg und Köln“ geladen, wo er sich und seine literarischen Werke erstmals in Deutschland vorstellte und mit „marginalen Autoren“ aus Deutschland in Dialog trat.
Sérgio Vaz, 1964 geboren, kommt wie Ferréz ebenfalls aus der Südzone São Paulos,  die in den 1990ern als eine der gewaltreichsten urbanen Regionen der Welt galt. Er ist Autor von sieben Büchern, die in unabhängigen wie traditionellen Verlagen erschienen und hauptsächlich Gedichte und Kurzprosa beinhalten.
Im „Manifesto da Antropofagia Periférica“ fasst Vaz seine künstlerische  Vision in folgende Worte: „Es muss ein neuer Künstlertyp aus der Kunst hervorgehen: der Künstler-Aktivist. Ein Künstler, der nicht die Welt revolutioniert, aber auch nicht mit der Mittelmäßigkeit paktiert, die ein Volk verblödet, das sowieso keine Chancen hat. Ich bin für einen Künstler, der im Dienste der Gemeinschaft und des Landes steht. Der allein, weil er mit Wahrheit bewaffnet ist, eine Revolution darstellt.”

Die Bar als Ort kreativen Schaffens

Vor zwölf Jahren gründete Vaz das Kollektiv „Cooperifa“ (Cooperação Cultural da Periferia), das die ersten sogenannten Saraus, literarische offene Bühnen, in einer Bar der Peripherie aus Mangel an kulturellen Einrichtungen veranstaltete. „An der Peripherie gibt es keine Theater, keine Museen, keine Bibliotheken. Die Bar ist der einzige öffentliche Raum, den uns der Staat gegeben hat. Die haben gedacht, dass wir uns zu Tode trinken würden, aber – denkste! - wir haben die Bars in Kulturzentren umfunktioniert und jetzt gibt es kein Halten mehr: Denn, wenn es eins an der Peripherie gibt, dann sind das Bars.“ Inspiriert durch den „Sarau da Cooperifa“ wurden in allen Teilen der Stadt weitere Kollektive und Saraus gegründet, sodass sie im kulturellen Leben der periferias nun eine feste Rolle spielen. Hier schreiben, rappen und rezitieren die, die sonst  kaum Zugang zu Bildung und offizieller Kultur haben: Schwarze und Arme, Taxifahrer, Putzfrauen, funktionelle Analphabeten.
Für Vaz hat die Literatura Marginal oder Periférica eine andere Qualität als die sogenannte Hochliteratur, durch die Erfahrungen des Leidens, auf die sie aufbaut: „Wenn in unserer Literatur geschossen wird, dann hört man den Schuss, riecht das Schießpulver, sieht das Blut  über die Seite rinnen.“
Über das literarische Schaffen von Ferréz, Sérgio Vaz und von vielen anderen wie Sacolinha, Alessandro Buzo und Allan Santos da Rosa haben sich die periferias verändert, finden nicht mehr nur als Tatorte und „Räuberhöhlen“ Eingang in die Medien, sondern auch als Ort kultureller Produktion und Veranstaltung. Darüber hinaus schafft sie eine neue Leserschaft in den periferias und unterstützt deren Bewohner, sich als mündige, selbstbewusste Bürger zu behaupten, die für ihre eigenen Rechte in der brasilianischen Gesellschaft einstehen können. Für Ferréz gilt: „Die Literatur verbessert deine Haltung, die Ratschläge die du geben oder annehmen kannst, die Art deine Kinder zu erziehen.“
Dass diese Literatur noch kaum nach Deutschland gedrungen ist oder vereinzelt als exotische Ausnahme vorgestellt wird, liegt auch daran, dass sie in Brasilien selbst häufig nicht als „Literatur“ akzeptiert wird. Sie sei zu rudimentär oder politisch und  nicht dauerhaft genug. Außerdem werden Romane auf dem Markt im Allgemeinen bevorzugt, doch der Großteil der Autoren aus der periferia schreibt Gedichte und Kurzprosa und publiziert diese in unabhängigen Verlagen, sodass sie nicht im normalen Buchhandel erhältlich sind.
Vieles klingt in deutschen Ohren - ohne den entsprechenden Kontext - banal. Die hiesigen Übersetzer haben im Normalfall weder eine Ausbildung in der Kultur und Sprache der brasilianischen noch der deutschen periferias, und diese unterscheidet sich in vielem deutlich von der der Mittelklasse. Das trägt häufig auch zu dem vorschnellen Urteil bei, der marginalen Literatur würde es an „ästhetischer Komplexität“ mangeln – anstatt die Vielschichtigkeit zu berücksichtigen, die die Eingebundenheit in die Dynamik einer Bewegung mit sich bringen.

Ingrid Hapke Doktorantin an der Universität Hamburg über die Bewegung der Literatura Marginal/Literatura Periférica in São Paulo.

Ausgabe 147/2013