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Auf dem Rückweg zur Kolonie

Andreas Behn, São Paulo

Schließung der Ford-Werke ist nur die Spitze des Eisbergs
Rezession, neoliberaler Ausverkauf und düstere Zukunftsaussichten unter einer autoritären Regierung: Der Wirtschaft in Brasilien geht es schlecht, nicht nur wegen der Pandemie-Krise, sondern auch wegen struktureller Mängel, die von der rechtsextremen Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro noch vertieft werden. Das größte Land Lateinamerikas entwickelt sich immer weiter in Richtung eines Agrarlandes, das auf Exporte in ferne Industriestaaten setzt, und vernachlässigt die eigene Industrie und damit ein nachhaltiges Wachstum. Anders als aufstrebende asiatische Staaten droht Brasilien seinen Status als Schwellenland de facto einzubüßen und mutiert zu einem Lieferanten für Soja und Rohstoffe – mit dramatischen Folgen für die Umwelt und ohne Aussicht auf sozialen Wandel.

Wie überall macht das Corona-Virus auch Brasiliens Wirtschaft schwer zu schaffen. Doch Bolsonaros Haltung, die Gefahr von Covid19 schlicht zu leugnen und Präventivmaßnahmen abzulehnen, raubt Unternehmen wie der Bevölkerung jede Perspektive, in absehbarer Zeit wieder in normalere Fahrwasser zu kommen. Der Einbruch von 2020 wird weitergehen, und inzwischen werden schon die Erholungsprognosen für 2021 gesenkt – mittlerweile auf unter zwei Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.
Doch die hausgemachte Wirtschaftskrise begann schon deutlich früher, spätestens im Jahr 2015, als ein Jahrzehnt Wirtschaftswachstum mit erfolgreicher Sozialpolitik zu Ende ging. Die traditionelle Rechte verdrängte nach 14 Jahren die Arbeiterpartei PT von der Macht und ersetzte dessen sozialdemokratische Reformpolitik durch altbekannte liberale Muster. Seitdem werden Sozialpolitik und Arbeitsrechte zurückgebaut, während sich die Wirtschaftspolitik an den Interessen der USA und anderer Industriestaaten ausrichtet. Die „guten Freunde“ Trump und Bolsonaro waren sich darin einig, dass Lateinamerika wieder zum Hinterhof des mächtigen Nachbarn im Norden werden solle. Erstes Beispiel der Abkehr von einer selbständigen Industriepolitik war die Entscheidung, den weltweit drittgrößten Flugzeugbauer Embraer an Boeing zu verkaufen – ein Deal, der erst durch den Coronaeinbruch wieder in Frage gestellt wurde und derzeit vor Gericht ausgefochten wird.
Das Flaggschiff der brasilianischen Exportwirtschaft ist das Agrobusiness, das mit Monokultur, immensem Pestizideinsatz, Gentechnik und oft auch Brandrodung in bislang geschützten Urwaldregionen Exportprodukte wie Soja, Mais, Palmöl und Rindfleisch kostengünstig produziert. Im Gegensatz zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die die meisten in Brasilien konsumierten Lebensmittel herstellt, werden die Agrarmultis mit  Milliardenbeträgen subventioniert. Da Monokulturen mit Genpflanzen nicht arbeitsplatzintensiv sind, ist die positive Wirkung der Exporterlöse allerdings sehr begrenzt.
Fehlende Anreize in der Industriepolitik und die Sparpolitik der öffentlichen Hand haben allein zwischen 2015 und 2018 über 25.000 Industriebetriebe zur Schließung gezwungen – imDurchschnitt 17 Betriebe pro Tag. Clemente Ganz Lúcio vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut DIEESE fürchtet, dass „viele dieser Industrien nie wieder auf die Beine kommen werden“. Die Folge seien Arbeitsplatzverluste im großen Stil sowie eine unausgeglichene Handelsbilanz. Bereits im Jahr 2019 – erstmals seit 40 Jahren – war der Umfang der Primärexporte größer als die Summe aller verkauften Industrieprodukte. „Statt einer Wirtschaftsentwicklung mit guten und gut bezahlten Arbeitsplätzen hat Brasilien den entgegengesetzten Weg eingeschlagen“ kritisiert Ganz Lúcio. Auch das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosul wird nach Meinung von Kritiker*innen die Deindustrialisierung in Brasilien vorantreiben. Ende vergangenen Jahres bezeichnete ein Protestaufruf von über einhundert sozialen und gewerkschaftlichen Organisationen das Abkommen als „Desaster“, das die Länder im Südkegel Lateinamerikas „im Einklang mit der kolonialen Logik zu ewigen Lieferanten von Rohstoffen und Importeuren von industriellen Waren“ mache.
Der geplante Freihandel im Industriebereich werde dazu führen, dass europäische Importe der brasilianischen Industrie unfaire Konkurrenz machen würden, sagt Denise Motta Dau vom internationalen Gewerkschaftsdachverband öffentlicher Dienste PSI: „Die Folgen sind mehr Arbeitslosigkeit, weniger Rechte und Einkommen für die Arbeiter sowie noch mehr Anreize für Privatisierungen.“

Unsichere Zukunft

Für die brasilianischen Gewerkschaften, die aufgrund von Arbeitsrechtsreformen ohnehin stark unter Druck stehen, wird diese Tendenz einen weiteren Mitgliederschwund zur Folge haben. Stark waren die Gewerkschaften vor allem im Industriesektor, während eine Organisierung der Beschäftigten im Agrarbereich sehr lückenhaft ist.
Die im Januar dieses Jahres verkündete Schließung aller Werke des Autobauers Ford in Brasilien ist das bislang letzte Glied einer Reihe von Hiobsbotschaften für den einstigen Industriestandort. Noch versuchen Gewerkschafter*innen mit Protesten und Verhandlungen den Abzug des US-Multis zu verhindern. Doch eine wirkliche Perspektive gibt es angesichts der Wirtschaftspolitik unter Bolsonaro nicht, erklärt Valter Sanches, Generalsekretär von IndustriALL Global Union im Gespräch mit dem Nachrichtenportal RBA (www.redebrasilatual.com.br): „Die Werkschließung von Ford ist Resultat des Fehlens einer Industriepolitik in Brasilien.“ Schon seit einiger Zeit leide die einstige Regionalmacht unter einem Prozess der Deindustrialisierung. „Ohne eine aktive Industriepolitik werden wir uns auf eine sehr langsame wirtschaftliche Erholung einstellen müssen“, so Sanches.
Andreas Behn, Leiter des Regionalbüros Lateinamerika des DGB-Bildungswerk, São Paulo.

Ausgabe 163/2021