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Ausflug in die kontrollierte Gefahr

Viele Fremde suchen in den Elendsvierteln (Favelas) von Rio de Janeiro den Nervenkitzel – dabei verwandeln sich manche der berüchtigten Favelas längst in friedliche Orte mit ganz anderen Touristenattraktionen.
„Ist es sehr gefährlich hier?“ Manchmal klingt die Frage verschreckt, manchmal ängstlich erwartungsvoll, manchmal nahezu hoffnungsfroh. Aber sie kommt fast immer, wenn die Kunden der Agentur „Be a local“, sich in Kleinbussen zu Rio de Janeiros größter Favela Rocinha kutschieren lassen.

Dass die Favelas von Rio gefährlich sein können, ist schließlich weltbekannt.
„Be a local“ bietet seit 2003 Touren in die Favelas und Shuttles zu echten Funkpartys, das Publikum sind jede Woche Hunderte junger Rucksackreisender aus aller Welt. Sie werden nicht enttäuscht. In perfektem Amerikanisch begrüßt sie Fremdenführerin Daniele im klimatisierten Kleinbus. Daniele lebt in Copacabana und sucht die Favelas nur aus beruflichen Gründen auf, was sich in teils naive Informationen übersetzt wie die, dass jeder Neuankömmling in einer Favela bauen dürfe, wo noch Platz ist, als gäbe es im illegalen Raum keine Besitzverhältnisse und Gesetzlichkeiten. Immer wieder erklärt Daniele den Gästen, dass sie „Waffen nie fotografieren dürfen!“. Drei Irinnen schaudern wohlig. Ein Südbrasilianer sagt: „Die Elitetruppe der Polizei im Einsatz zu erleben wäre das Größte!“ Wenig später stolpern die Besucher an stinkenden Abwasserrinnsalen vorbei, besichtigen ein Projekt, in dem von Kindern gemalte Ölbilder verkauft werden, kaufen sich ein Sandwich in einer adretten Bäckerei, dessen Besitzer stolz erklärt, dass er bald in seine Heimat im Nordosten zurückkehren kann, weil er mit den Fremden so viel Umsatz macht, und fotografieren alle Kinder, die ihnen unterwegs begegnen. Waffen sehen sie keine.
Dies soll auch so bleiben. Spezialtruppen der Polizei besetzten die Rocinha, um sie zu befrieden, wie das seit Ende 2008 bereits mit 18 der mehr als 1000 Favelas auf den malerischen Hügeln Rio de Janeiros geschehen ist. Die ständige Anwesenheit von Spezialeinheiten der Polizei soll dabei den bewaffneten Drogenhandel verdrängen und den Bewohnern ein normales Leben ermöglichen. Der Nebeneffekt: Wo es eine Friedenspolizeistation, kurz UPP gibt, können heute auch Fremde sorglos die Hügel erklettern, ohne Jeep, ohne Reiseveranstalter, ohne Drogenbosse um Erlaubnis zu bitten.
Eine grandiose Zukunft als Wahrzeichen der Stadt, dem Christus ebenbürtig, hat Ex-Präsident Lula den ehemaligen Schandhügel daraufhin vorausgesagt und im August 2010 persönlich das ehrgeizige Projekt „Rio Top Tours“ eingeweiht. Es soll den Favela-Bewohnern neue berufliche Perspektiven eröffnen und die ehemals Ausgegrenzten selbstbewusster machen: Sie selbst definieren die Sehenswürdigkeiten auf ihrem Hügel, der Staat spendet Beschilderungen und Kurse, damit die neuen lokalen Fremdenführer ihre Umgebung interessierten Fremden zeigen können und nicht nur Agenturen am neuen Tourismusfluss verdienen. Auf Dona Marta funktioniert das gut, die eher kleine Favela ist übersichtlich beschildert und hübsch anzusehen, es gibt bereits eine Reihe Imbiss-Restaurants, Souvenirstände und sogar eine neue Modeboutique.
Dem Umsatz von „Be a local“ hat das nicht geschadet: Deren Kleinbusse fahren auch nach der Befriedung genauso zahlreich zur Rocinha wie vorher.
Thiago Firmino lebt im seit 2009 befriedeten und touristisch erfolgreichen Dona Marta; er bestätigt, dass die Fremden den Nervenkitzel suchen: Neugierige könnten theoretisch allein mit der neuen kostenlosen Straßenbahn hinauffahren zur Plattform, auf der Michael Jackson damals „They don’t care about us“ gedreht hat, aber „die Touristen wollen Geschichten aus der Vergangenheit hören, wo der Drogenumschlagplatz war, wo es Schießereien gegeben hat“. Deswegen suchen die meisten nach ortskundigen Führern wie Thiago, von denen es seit dem Rio-Top-Tour-Projekt reichlich gibt.
Die Szenegänger aus Rio entdecken derweil die Favelas als neue coole Location zum Feiern. Die Welten von Arm und Reich mischen sich dabei nicht, bestenfalls profitieren ein paar Geschäftsleute in der Favela. So wie der Chef der Sambaschule Mocidade Unida da Santa Marta, der den Probensaal seiner Trommler und Tänzerinnen neuerdings an fast jedem Wochenende vermietet. Samstagabends stöckeln dutzendweise Mädels in High Heels und Mini über das Kopfsteinpflaster vor der Halle. Sie schütteln ihre frisch gefönten Mähnen, nehmen tiefe Schlucke aus Bierdosen, lassen edlen Schmuck aufblitzen. Ihre Erscheinung passt so wenig zu den aus Holzresten gebastelten Ausschänken am Straßenrand wie das neu angebrachte Schild „VISA-Karten willkommen“. Zum Event „Samba chic“ strömten vor einigen Monaten mehr als 1.000 Junge, Reiche und Schöne aus den Edelvierteln Ipanema und Leblon. „Früher hätte mich meine Mutter nie in eine Favela gelassen“, sagt die 20jährige Silvia, die mit zwei Freundinnen im extra gemieteten Minibus mit Fahrer gekommen ist. „Aber jetzt mit der UPP ist es ja kein Problem mehr.“
„Keine Frage: Der nächste Hype im Nachtleben von Rio kommt in den Favelas.“ Auch Veranstalter Cesinho von der Eventagentur Rio Prime sieht die Zukunft der Nacht auf den Hügeln: Wo sonst gibt es in der Millionenstadt noch gute Locations, leicht erreichbar und nicht allzu teuer? Die Halle im befriedeten Dona Marta hat es sogar bei den Edelkids geschafft, die Tickets waren Tage vor dem Event ausverkauft, obwohl sie umgerechnet 25 Euro kosten – mehr als ein Tageslohn für viele Slumbewohner. Vielleicht lassen sich auch im Slum Tabajaras Copacabana-Shows für die Reichen organisieren, hofft Cesinho, der mit dem dortigen Vorsitzenden des Anwohnervereins im Gespräch ist.
Unter den Touristen hat sich das noch nicht herumgesprochen. Die bekommen vorläufig weiter den organisierten Kick: In den typischen Backpacker-Hotels in Copacabana gehört der Ausflug zur „Funkparty“ zum normalen Wochenangebot. Durch die pornographisch anmutenden Texte und Choreographien von MCs und Sängerinnen wie Tati Quebra Barraco ist der Ruf der orgiastischen, meist von Drogenhändlern organisierten Slum-Partys jungen Leute aus aller Welt ein Begriff. „Manchmal fahren wir bis zu 400 Gäste raus“, erzählt Partyführer Jonas, der selbst gerne das Wochenende durchtanzt. Das „Castelo“ im Vorort-Slum Rio das Pedras sieht aus wie ein geräumiger Club mit großer Tanzfläche und abgeteilten VIP-Boxen im Zwischengeschoss. In diesen geschützten Bereich geleiten Agenturmitarbeiter die aufgedrehten jungen Gäste. „Ich war noch nie in einer Favela!“, sagt Daisy aus England und wiegt die schmalen Hüften in Hotpants. Auch im Castelo kommt es selten zu Live-Begegnungen von Gästen und Slumbewohnern: „Die Anmache ist hier sehr eindeutig, das würde den Gringas schnell zu viel werden“, erklärt Jonas. Also tanzen die Besucher hoch über der Slumrealität in ihrer VIP-Box und lassen sich danach wieder ins Hotel fahren.
Dass die Favelas mehr zu bieten haben, entgeht vielen Rio-Besuchern. Vielleicht weil deren Bewohner nicht so viel Werbung machen. Oder weil Hügelwanderung nicht so spektakulär klingt wie Favela-Tour. Auf einen Wanderhype jedenfalls wartet Nilson Assunção in der Favela Morro da Babilônia bislang vergeblich. „Dabei haben die von der Stadtverwaltung uns nach der Befriedung einen regelrechten Boom vorausgesagt“, erinnert sich Nilson. Der Hügel Morro da Babilônia erhebt sich privilegiert über den Stränden von Leme und Copacabana. Auf seiner Spitze spendet ein lichtes Wäldchen angenehmen Schatten. Als der heute 34jährige Nilson ein kleiner Junge war, brannte hier die Sonne ungehindert auf kahlen Lehm- und Felsboden. Der Wald ist der Initiative der Slumbewohner zu verdanken, die sich 1995 zusammentaten, um die Naturglatze über ihrer Siedlung aufzuforsten. Als Geldgeber konnten sie das schicke Einkaufszentrum Rio Sul gewinnen, dessen Komplex am Fuß des Hügels liegt. Nach zehn Jahren Arbeit war genug Natur da, dass die ersten Abenteurer die Idylle über der Favela bestaunen kamen. Heute kommen in guten Monaten vielleicht 100 Wanderer. Natürlich kennt auch Nilson Geschichten aus den Jahren des Drogenkriegs, als sich auf dem Hügel konkurrierende Banditen beschossen – nur fragt danach auf seinen Touren keiner. „Die meisten werden ganz still, weil sie von der Natur überwältigt sind; wie hier oben zum Beispiel die Geier in ihrem Badetümpel sitzen oder zwischen den Felsen Quellen entspringen.“ sagt Nilson, der bis heute im Aufforstungsprojekt arbeitet und den Rest seines Lebens auf dem Hügel verbringen will.
In der Millionenstadt Rio de Janeiro in Fußwegentfernung von solcher Natur sowie einem der berühmtesten Strände der Welt zu leben, ist ein Luxus, der früher den Preis der Drogenkriminalität und der mangelnden Infrastruktur kostete. Heute ist das auf dem Babilônia-Hügel anders: „Die Preise für Häuser haben sich seit der Befriedung fast verdoppelt!“, erklärt Nelson. „Neuerdings hängen keine handgemalten Zettel mehr an den Häusern, die zu verkaufen sind, sondern Schilder von Immobilienmaklern“, bestätigt Lígia Mattos im Slum Cantagalo, der ans feine Ipanema angrenzt. Lígia ist hier aufgewachsen, in einer einfachen Bretterbude mit großem Garten, an die sie sich mit Wehmut erinnert. Seitdem ist die Bebauung so dicht geworden, dass kaum ein Baum zwischen den Ziegelbauten überlebt hat. Dafür hat Lígia sich einen Traum verwirklicht: Seit März diesen Jahres leitet sie ihre eigene Pension im Cantagalo. „Ich hatte mir das lange gewünscht, aber es war zu gefährlich“, sagt die schlanke Frau, die früher mit einer Folkloretanzgruppe um die Welt gereist ist. Die Pousada Favela Cantagalo hat kein aufregendes Slumimage, sondern schlichte saubere Zimmer. Gelegentlich beschreibt die Besitzerin ein paar Gästen den Weg zum Restaurant von Babú oder zur Funkparty am Wochenende weiter oben auf dem Hügel. Der neue Slumtourismus sozusagen. Weil einige der  Slums jetzt auch das sind: ungestörte Natur, autofreie Zonen, Kleinstadtatmosphäre. Und gar nicht immer gefährlich.

Ausgabe 145/2012