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BR 174 – eine Straße trennt ein Volk

Aus Brasilien erreichte uns dieser Bericht von Maika Schwade.Er ist Mitarbeiter des Casa da Cultura Urubuí (CACUÍ) im Munizip Presidente Figueiredo (Amazonas).

1980 verurteilte das IV. Russell-Tribunal in Rotterdam die Regierungen des Irak, des Iran und der Türkei unter anderem, weil sie den freien Verkehr der Kurden unterbanden, eines Volkes, dessen Territorium sich über die Grenzen dieser drei Länder erstreckt. Heute leiden indigene Völker, deren Territorien sich in Brasilien und angrenzenden Ländern befinden, unter demselben Problem.
Ich erfuhr dies hautnah, als ich mich an der Indigenen Universität von Venezuela aufhielt, wo ich im Mai und Juni 2009 als Freiwilliger arbeitete. Bei der Rückkehr nach Brasilien baten mich zwei junge Männer vom Volk der Sanema, das zur Gruppe der Yanomami gehört, sie bis in das Bundesland Roraima zu begleiten, wo sie sich mit Leitungskräften der Yanomami, unter ihnen Davi Kopenawa, treffen wollten.
Seit Jahrhunderten leben die Sanema in einem Waldgebiet zwischen den Becken des Amazonas und des Orinoko, ein Gebiet, welches sich heute Brasilien und Venezuela teilen. Ich ging davon aus, dass niemand dem Volk sein Recht, zwischen beiden Staaten hin- und herzugehen, versagen würde. Jedoch, entgegen den brasilianischen Gesetzen und unter Verletzung internationaler Verträge (zu deren Unterzeichnerstaaten auch Brasilien gehört!) verbot die brasilianische Bundespolizei den beiden auf venezolanischer Seite geborenen Indigenen die Einreise nach Brasilien, weil sie die „erforderlichen“ Pässe nicht vorweisen konnten.
Der Reisepass wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, besonders was seinen Nutzen in diesem Fall angeht. Wie kann man Pässe von Angehörigen eines Volkes verlangen, die lediglich auf ihrem eigenen Territorium reisen wollen? Wie kann man Pässe ausgeben an Menschen, die keine Bürokratie kennen, ein Wort übrigens, das es in ihrer Kultur auch nicht gibt? Wie kann mitten im Urwald ein Visum eingestempelt, wie ein Grenzübertritt kontrolliert werden? Andrerseits, selbst wenn der Staat die komplette Verfügungsgewalt über seine Grenzen hätte, wie könnte er aber über ein Volk bestimmen, das weder brasilianisch noch ausländisch ist, sondern nicht mehr und nicht weniger als das Volk der Sanema, Guaraní, Tiriyó oder Tikuna? Tatsächlich wird mit dem gegenwärtigen Modell nur deren kulturelle Vernichtung erreicht.{mospagebreak}
In Artikel 36 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (Resolution 61/295) heißt es
„1. Indigene Völker, insbesondere diejenigen, die durch internationale Grenzen getrennt sind, haben das Recht, über diese Grenzen hinweg Kontakte, Beziehungen und Formen der Zusammenarbeit mit ihren eigenen Angehörigen wie auch mit anderen Völkern zu pflegen und zu entwickeln, einschließlich Aktivitäten für spirituelle, kulturelle, politische, wirtschaftliche und soziale Zwecke.“
Die Abstimmung erfolgte 2007 durch die UN-Vollversammlung, Brasilien gehörte zu den 143 Staaten, die mit „ja“ stimmten. Ein anderes, noch älteres Dokument der Internationalen Arbeits-Organisation (IAO) von 1991 ist die Konvention 169, die diese Frage im selben Sinne regelt. Sie wurde 2004 vom Zweikammerparlament Brasiliens ratifiziert und vom Präsidenten der Republik unterzeichnet.
Bei der Bundespolizei stellten wir uns aus freiem Entschluss vor. Wir hätten auch heimlich auf der Straße BR 174 die Grenze überschreiten können, so wie es Gold- und Edelsteinsucher und Banditen tun. Ich kann nicht abstreiten, dass ich große Lust hatte, dies ohne Kontakt mit der Polizei zu unternehmen. Aber mir ist bewusst, dass solch eine Handlung eine Aushöhlung der indigenen Rechte wäre.
In Erwartung der Erfüllung der Gesetze kampierten wir drei, Ula Apiama, Kokoy Apima und ich, fünf Tage in der Stadt Santa Elena de Uiaren. Wir erfuhren die Solidarität der indigenen Pemon und der Indigenen-Seelsorge der katholischen Kirche, auch um in der Kälte überleben zu können. Und hielten mit ihrer Hilfe den Kontakt zu den brasilianischen und venezolanischen Freunden, die sich engagierten, dem brasilianischen Staat zu helfen, seine Verpflichtungen zu erfüllen und auf der Seite des Rechts zu stehen.
Aber die Feigheit des brasilianischen Staates führte dazu, dass die Sanema nach Hause zurückkehrten, ohne ihren Traum der Aufrechterhaltung der Einheit ihres Volkes verwirklicht zu haben. Doch bleiben sie weiterhin voller Hoffnung und Hunger nach dem physischem und kulturellem Überleben ihres Volkes, dürsten nach Gerechtigkeit.
Es ist eine ungerechte Wirklichkeit, und diese, wie geschildert, kann nur zu einem desaströsen Ende führen. Ein Volk zu zerteilen, bedeutet, die Möglichkeiten seines kulturellen Überlebens zu vermindern. Dies beschämt das brasilianische Volk und demoralisiert seinen Staat. So etwas gehört nicht zum Verhaltenskatalog eines Landes, das sich um größere Anerkennung auf internationaler Ebene bemüht. Wir wollen den Respekt gegenüber den brasilianischen, venezolanischen, bolivianischen Völkern, deren Fortschritte auf politischem und sozialem Gebiet verdienen gewürdigt zu werden. Wir wollen, dass Sanema, Yanomami, Penom, Tiriyó, Makuxí, Tikuna, Guaraní ihre Kulturen leben können, autonom und mit freier Beweglichkeit in den Territorien, die ihnen seit Jahrtausenden gehören.

Maika Schwade Übersetzung: Hubertus Rescher (Hupsy)

Nr. 140-2009 Herbst