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Brasilien und das Ethanolprogramm in der aktuellen Diskussion

Lula: „Das erfolgreiche Ethanolprogramm in Brasilien half, bestimmte Mythen zu zerstören. Ethanol gefährdet nicht direkt die tropischen Regenwälder, da sich der Boden im Amazonasgebiet gar nicht zum Anbau von Zuckerrohr eignet. Genauso wenig stellt es die Nahrungsmittelproduktion in Frage.“ (Washington Post, 30.03.2007)

Jean Ziegler, UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung: Biotreibstoffproduktion ist ein „Verbrechen gegen die Menschheit“ und ein „Rezept für Katastrophen“ (Associated Press, 27.10. 2007)
OXFAM: „Die gegenwärtigen Biotreibstoffpolitiken der reichen Länder sind weder eine Lösung der Klima-, noch der Ölkrise, sondern tragen zu einer dritten, der Nahrungsmittelkrise bei.“ (Bericht „Another Inconvenient Truth.“ Juni 2008)
BUND: „’Biosprit’ – den man Agrosprit nennen muss – ist ein großer Etikettenschwindel, der in erster Linie wirtschaftlichen Interessen der Agrarkonzerne dient.“ (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., August 2008)
Chavez: „Wenn Du den Tank eines Fahrzeugs mit Ethanol füllst, verwendest Du Energie, für die eine Menge Erde und Wasser gebraucht wurden, die ausgereicht hätte, um 7 Personen zu ernähren,“  dies sei unmoralisch. (El Nuevo Mundo 14.März 2007)
Seit den 70iger Jahren existiert in Brasilien ein massives Substitutionsprogramm von Benzin durch Treibstoff auf Ethanolbasis (Zuckerrohr). In den letzten Jahren wurde dieses Programm ausgeweitet und von der Regierung Lula international als ein Lösungsansatz zur Verminderung der Erderwärmung propagiert. Auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika schloss Brasilien diesbezügliche Kooperationsabkommen ab. Seither entwickelte sich eine sehr polarisierte Diskussion zwischen den Befürwortern und Gegnern der Bio-Treibstoffe (von Ethanol und Biodiesel), die beinahe den Charakter von Glaubenskämpfen erreicht hat: Rettung der Erde vor Überhitzung durch Biosprit versus das genaue Gegenteil: Biotreibstoffe als Klimakiller, die außerdem Nahrungsmittelknappheit, Hunger und Verelendung zur Folge haben. Bevor im Folgenden diese Diskussion in ihren verschiedenen Aspekten im Hinblick auf Brasilien dargestellt wird, folgt eine kurze Beschreibung der in Brasilien hergestellten Biokraftstoffe und ihrer Produkte.{mospagebreak}

Biokraftstoffe

Biokraftstoffe werden aus organischem Material hergestellt. Die beiden wichtigsten Treibstoffe sind Ethanol und Biodiesel. Die heute vorherrschende Form von Ethanol, die erste Technik-Generation, wird aus  zucker- oder stärkehaltigen Nahrungs- und Futterpflanzen wie Zuckerrohr, Zuckerrüben, Mais, Gerste Weizen, Reis, Kartoffeln oder Maniok gewonnen. Brasilien und die USA sind in der Ethanolkraftstoffproduktion führend, die sich 2006 auf etwa 40 Mrd. Liter belief. 46% wurden in den USA, vor allem auf der Basis von Mais, 42% in Brasilien auf der Basis von Zuckerrohr hergestellt. Im Gegensatz zu Bioethanol wird Biodiesel auf der Basis von Ölpflanzen wie Soja, Raps, Palmen, Sonnenblumen, Rizinus, Jatropha oder Baumwolle produziert. 2006 wurden etwa 6,5 Mrd. Liter Biodiesel erzeugt, 75% davon in der Europäischen Union.
Beide Kraftstoffe können fossile Treibstoffe für Kraftfahrzeuge und auch stationäre Dieselmotoren partiell oder ganz ersetzen. Sie können rein (100%) oder beigemischt zu mineralischen Treibstoffen verwendet werden. Bei relativ geringen Beimischungen (etwa 5 – 6%) müssen die herkömmlichen Motoren nicht verändert werden. In der EU liegt die Quote bei 5,75%, bis 2020 soll sie auf 10 % erhöht werden. Die USA wollen sogar 20% bis 2017 erreichen.
Weltweit wird von dem aus Biomasse produzierten Ethanol etwa 35% als Alkohol für Getränke, Lebensmittel, Medizin und die Industrie, 65% zur Nutzung als Kraftstoff erzeugt.
Eine 2. Generation von Agrarkraftstoffen, die die Biomasse zellulosehaltiger Rohstoffe zu nutzen versucht, ist noch nicht marktreif.
Wegen seiner Bedeutung für Brasilien liegt im Folgenden der Schwerpunkt auf der Diskussion von Ethanol, und erst in zweiter Linie von Biodiesel.{mospagebreak}

Brasiliens Biokraftstoffproduktion

Ethanol

Brasilien hat im Vergleich zu anderen Ländern eine lange Tradition in der Ethanolproduktion. Bereits in der Folge der Erdölkrise der ersten Hälfte der 70iger initiierte die brasilianische Regierung ab 1975 das Nationale Alkohol Programm (Programa Nacional do Alcool – Pró-Alcool). Es zielte darauf ab, schrittweise den Treibstoff für Autos von fossiler Basis  auf  Bio-Basis umzustellen. Der Alkoholanteil am Benzin wurde schrittweise erhöht und liegt heute bei 25%. Wurde anfänglich noch die Ethanolproduktion subventioniert, ist dies heute nicht mehr notwendig; wirtschaftlich gesehen, hat sie sich durchgesetzt. Bei einem Erdölpreis von etwa 43 US $ pro Barrel Erdöl ist die Herstellung von Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr in Brasilien wettbewerbsfähig. Seit 1979 kamen auch Autos auf den Markt, die ausschließlich ethanolgetrieben fuhren. In der 80iger Jahren war mehr als die Hälfte der Neuwagen ethanolgetrieben. Seit 2003 gibt es auch Autos, die alternativ mit Benzin oder mit Ethanolkraftstoff betankt werden können, sog. Flex-Treibstoff-Autos. Im Juli 2008 machten sie 88% des Verkaufs von Neuwagen aus.
Die landwirtschaftliche Fläche, auf der Zuckerrohr angebaut wird, betrug Ende der 1970iger Jahre etwa 2 Mio. ha. Seit den 90iger Jahre stieg sie um etwa 85% und beträgt heute 7,8 Mio. ha. Entsprechend stieg die Verarbeitung von Zuckerrohr 140 Mio. t 1980 auf 493 Mio. t an. Seit den 90iger Jahren wuchs sie um 121%.
Die Ethanolproduktion stieg von 3,4 Mrd. Liter  Ende der 70iger Jahre bis heute auf etwa 22 Mrd. Liter. Seit den 90iger Jahren vermehrte sich die Ethanolproduktion um mehr als das Doppelte. Die Produktion von Zucker stieg um mehr als das Vierfache in dieser Zeit und beträgt heute 30 Mio. Tonnen (CONAB Versorgungsgesellschaft des Landwirtschaftsministeriums MAPA, ÚNICA Vereinigung der Zuckerindustrie).
2008 wird etwa 62% des weiterverarbeiteten Zuckerrohrs für Ethanol, und 38% für die Produktion von Zucker verwendet.
Nach Unterlagen der CONAB, können heute 276 Mio. ha Fläche in Brasilien landwirtschaftlich genutzt werden, davon sind 72% Weide (199 Mio. ha) und 28% Ackerland (77 Mio. ha), von dem 7.8 Mio. ha. zur Zuckerrohrproduktion bearbeitet werden.
Bereits 2003 war etwa 35% der Zuckerrohrproduktion mechanisiert. Heute ist der Mechanisierungsgrad im Bundesstaat São Paulo auf 47% gestiegen.
Nach Untersuchungen des IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) und von CONAB werden beim Zuckerrohranbau weniger Insektizide und Herbizide verwendet als bei Zitrusfrüchten, Soja, Mais und Kaffee. Fungizide kommen kaum zum Einsatz. Fortschritte in der Verwendung von Dünger und natürlichen Pestiziden sowie die zunehmende Mechanisierung ersetzen die bisherige Praxis, die Felder abzubrennen.
Die Hauptanbaugebiete liegt in den Bundesstaaten São Paulo (60%), Paraná, Minas Gerais (Südosten), sowie im Nordosten (Alagoas, Pernambuco) und im zentralen Westen (Mato Grosso, Mato Grosso do Sul, Goiás). Zwischen 1992 und 2004 stieg die Produktion in Zentral- und Südbrasilien um 60%, 94 % davon wurde auf bereits bestehenden Anbauflächen erwirtschaftet und 6% wurde auf neu erschlossenem Land produziert. Im zentralen Westen stieg die Anbaufläche in den letzten 4 Jahren um 37% (139 Tausend ha.). Für Brasilien insgesamt sind dies 2% der gesamten Anbaufläche. Auch in den nächsten Jahren besteht die Perspektive der Ausweitung der Zuckerrohrproduktion im Westen des Bundesstaates von São Paulo, sowie im zentralen Westen. Weideland wird zum Zuckerrohranbau umgewandelt.  Brasilien produziert Ethanol wirtschaftlich und ohne Subventionen.
Bei einem Rohölpreis von US$ 43 pro Barrel ist Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr mit Benzin konkurrenzfähig. 50% des Benzinverbrauchs wird durch Ethanol substituiert. Die Produktionskosten sind im internationalen Vergleich niedrig.
Es fielen Devisenersparnisse in Milliardenhöhe seit 1976 durch Rohölsubstitution an. Mittlerweile ist zwar Brasilien weitgehend autark, was Erdöl betrifft, und die im letzten Jahr gefundenen Lagerstätten könnten es zu einem bedeutenden Erdölexporteur machen, noch immer muss es jedoch leichtes Rohöl 2007 im Wert von R$ 5,8 Mrd. importieren.
Die Ethanolexporte sind auch Devisenbringer. Ein Teil der Gesamtproduktion, 3,43 Mrd. Liter, wurde 2006 exportiert. Das weitaus wichtigste Abnehmerland sind die USA, in die 63% der Exporte gingen, danach die Niederlande mit 10%, Japan und Schweden mit etwa je 6%. {mospagebreak}
Biodiesel
Ende 2004 schuf die Regierung Lula das Biodieselprogramm (Programa Nacional de Produção e Uso do Biodiesel - PNPB). Seit Januar 2008 wird dem Diesel in Brasilien 2% Biodiesel hinzu gegeben, was einer Produktionsmenge von 1 Mrd. Liter Biodiesel entspricht.
Laut MAPA wird Biodiesel in Brasilien zu 90 % aus Soja hergestellt. Da eines der Ziele des PNPB in der sozialen Inklusion besteht, sollen von bäuerlichen Familienbetrieben Ölfrüchte produziert werden, Rizinus im Nordosten und Ölpalmen im Norden. Die Produktion und der Verkauf aus kleinbäuerlicher Produktion soll besonders durch steuerliche und Weiterbildungsmaßnahmen, durch Produktionsbeihilfen und die Einführung eines Gütesiegels gefördert werden.
Noch spielt Biodiesel bisher eine untergeordnete Rolle als Biokraftstoff im Vergleich zum Ethanol. Allerdings ist jetzt schon abzusehen, dass in Zukunft die Biodieselproduktion massiv ansteigt. Bis 2013 ist eine Pflichtbeimischung von 5% (B5) geplant, die eine Biodieselproduktion von 2,4 Mrd. Liter erforderlich macht. 2007 wurden 402 Mio. Liter Biodiesel produziert, für 2008 rechnet man mit einer Produktion von mehr als 1 Mrd. Litern. Momentan findet eine massive Ausweitung der Sojaproduktion zur Biodieselproduktion vor allem im zentralen Westen (Cerrado) statt. (Dazu in den nächsten BrasilienNachrichten ausführliche Berichte.)
Was die Energiebilanz betrifft, schneidet Biodiesel schlechter ab als Ethanol. Das Verhältnis von eingesetzter fossiler Energie und in Form von Kraftstoff gewonnener Energie beträgt bei Soja lediglich 1,4, das heißt eine Einheit fossiler Energie reicht lediglich aus, um 1,4 Einheiten neuer Energie zu produzieren. Bei Palmöl bzw. Rizinus sind die Werte 3,5 und 2,9. Dies hängt damit zusammen, dass bei der Produktion von Biodiesel mehr erdölbasierte Inputs verwendet werden müssen als dies bei Zuckerrohr der Fall ist, wo das Verhältnis 8,3 ist.
Wie stellt sich nun die im Zusammenhang mit der Biokraftstoffproduktion geführte Diskussion über Klima, Hunger, Umwelt, Arbeitsbedingungen und Landvertreibungen im Kontext von Brasilien dar?{mospagebreak}

Klima – Energiebilanz – Landnutzung Abholzen des Regenwaldes

Um ein weiteres Ansteigen der Temperaturen weltweit zu verhindern, ist es unbedingt erforderlich, die Treibhausgasemissionen zu senken. Dies ist ein globales Problem, das nicht durch Brasilien bzw. die dortige Biokraftstoffproduktion auf der Basis von Zuckerrohr und Soja gelöst werden kann. Brasilien ist wegen der Größe seiner verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche und wegen der günstigen Bedingungen des Zuckerrohranbaus ein Sonderfall, der nicht auf andere Länder übertragen werden kann. Es kann jedoch durch die Ethanolproduktion einen Beitrag dazu leisten, dass der Ausstoß sowohl in der Brennstoffproduktion als auch im Verbrennungsprozess durch Automotoren wesentlich verringert wird. Die Luftqualität hat sich in den Großstädten bereits verbessert. In Metropolen wie São Paulo ist dieser Punkt sicherlich besonders wichtig: Hier hat der Gebrauch von Ethanolfahrzeugen zu einer bedeutenden Schadstoffreduzierung geführt.
Von allen Pflanzen, die zur Herstellung von Ethanol verwendet werden, hat das Zuckerrohr aus Brasilien die günstigste Ökobilanz: mit einer Einheit fossiler Energie können 8,3 Einheiten Energie geschaffen werden. Eine weitere Attraktion des  Zuckerrohrs liegt darin, dass es auch im Vergleich zu anderen Nahrungs-, Futter- und Ölpflanzen, die zur Biokraftstoffherstellung verwendet werden, gegenüber fossilen Treibstoffen eine sehr viel höhere Treibhausgasreduktion, nämlich um 90% erreichen kann. Bei Biodiesel auf der Basis von Soja liegen sie bei 33%.  Bei dem auf Mais basierten Ethanol aus den USA erreichen die Reduktionen lediglich 20 Prozent.
Voraussetzung ist allerdings, dass die Produktion auf bereits landwirtschaftlich genutzten Ländereien getätigt wird. Beim aktuellen Biospritboom erwartet man, dass sich die Zuckerrohr - Anbauflächen von 7,8 auf 14 Mio. ha vergrößern. Auch wenn die Produktion auf bereits kultivierten Flächen weit vom Regenwald entfernt vor allem im Bundesstaat São Paulo und den anderen Bundesstaaten des Südostens ausgeweitet wird, dürfte es andere landwirtschaftliche Produkte, vor allem Soja und die Viehwirtschaft, weiter in Richtung zentralen Westen (Cerrado) und Amazonien und dort auf bisher nicht als Acker- und Weideland genutzte Flächen  verschieben. Die Ausweitung der Sojaproduktion zur Biodieselherstellung findet bereits statt. Diese Umwandlung in neues Ackerland bedeutet jedoch einen zusätzlichen Treibhausgasausstoß, der erst nach langer Zeit durch die Emissionsreduktionen, die die Biokraftstoffproduktion bewirkt, wieder wettgemacht werden kann. Diese Rückzahlungsschuld ist sehr unterschiedlich bei den verschiedenen Biokraftstoffen, je nach der zugrunde liegenden Pflanze. Nach neueren Berechnungen beträgt der günstigste Fall bei der Umwidmung in bisher landwirtschaftlich nicht genutzten Ländereien zu Zuckerrohr Ethanol im Cerrado immer noch 17 Jahre, zu Soja Biodiesel dagegen sind es 37 Jahre. Um eine Klimakatastrophe zu vermeiden, müssten die globalen Treibhausemissionen in Laufe der nächsten 10 – 15 Jahre ihren Höhepunkt überschritten haben und sinken. In dieser Zeit trägt die Ausweitung der Biokraftstoffproduktion im Cerrado jedoch noch zu einer Erhöhung der Emissionen bei. Bei einem Landnutzungswechsel zu Sojadiesel im Regenwald Amazoniens beliefe sich die Rückzahlungszeit sogar auf 320 Jahre (OXFAM).
Eine solche Umwidmung ist daher zu vermeiden. Eine Alternative wäre, die Produktivität der Viehwirtschaft von einer Kuh auf 1,4 Kühe pro Hektar Weideland zu erhöhen, wie dies schon in verschiedenen Gebieten erfolgt ist. Allein durch diese Maßnahme könnten  50 bis 70 Millionen Hektar ehemaliges extensives Weideland freigesetzt werden. Diese Fläche könnte die Ausweitung des Zuckerrohr- und Sojaanbaus ohne nennenswerte Steigerungen von Treibhausgasemissionen durch Änderung der Landnutzung absorbieren.
Hierzu müsste der Staat allerdings eine entsprechende Landnutzungspolitik betreiben,  Zonen bestimmen, in denen die Umwidmung von bisher landwirtschaftlich nicht genutzter Fläche in Ackerland verboten wird, und entsprechende Anreize und Auflagen bei der Viehzucht erlassen. Die Zertifizierung der Produktion nach ökologischen und sozialen Kriterien könnte auch ein Weg sein. In Ansätzen gibt es dieses bereits bei in Familienbetrieben angebautem Biodiesel und wird als Selo Combustivel Social (Soziales Treibstoffsiegel) bezeichnet. Mit der Umstellung auf Rizinus oder sonstige Ölpflanzen können jedoch diese vorher unabhängig produzierenden Betriebe von einem einzigen Abnehmer, der die Öle zu Biodiesel verarbeitet, abhängig werden. Das Vertrauen in die Wirksamkeit solcher Zertifikate oder Siegel ist nicht groß – trotzdem ist es ein Ansatz.
Inwieweit die Abholzung des Regenwaldes in Amazonien mit der Ausweitung der Biokraftstoffproduktion zusammenhängt, ist nicht eindeutig, wird jedoch angenommen. Nach Untersuchungen der Weltraumforschungsagentur Inpe wurden in den letzten 20 Jahren,  seitdem es eine Satellitenüberwachung von Amazonien gibt, 360 Tausend Quadratkilometer des Regenwaldes abgeholzt, ein Gebiet von der Größe der Bundesrepublik Deutschland. Von Mitte 2004 bis Mitte 2007 fand eine Verlangsamung statt, aber seit August des vergangenen Jahres hat sich dieser Prozess wieder beschleunigt. Um diese Entwicklung zu bremsen, wurde im Juni 2008 ein Gesetz verabschiedet, das den Verkauf von Soja auf illegal abgeholzten Ländereien in Amazonien verbietet. Das Verbot soll auch auf Holz und Viehzucht ausgeweitet werden. Nur Bauern mit genehmigtem Landbesitz sollen ihre Produkte auf den Markt bringen können. Das soll verhindern, dass Produkte aus nicht genehmigten landwirtschaftlichen Nutzflächen verkauft werden können. Ob die Regierung eine solche Umweltpolitik auch wirklich durchsetzen kann, sei dahingestellt. Bisher war dies nicht der Fall.{mospagebreak}

Ansteigen der Nahrungsmittelpreise, Ausweitung von Hunger und Unterernährung   

Weltweit ist ein Ansteigen der Nahrungsmittelpreise festzustellen. Dies traf in einer Reihe von Ländern vor allem die Ärmsten und hatte dort seit letztem Jahr z. B. in Mexiko, Haiti, Indonesien, Ägypten, Elfenbeinküste und anderen afrikanischen Ländern Hungeraufstände zu Folge. Die momentanen Preissteigerungen werden zu einem wesentlichen Ausmaß der rasch steigenden Biokraftstoffproduktion zugeschrieben, die eine entsprechende Änderung der Landnutzung von vorher zur Produktion von Nahrungsmitteln genutzten Flächen impliziert. Nach einem Weltbankbericht vom Juli 2008 hat die Produktion von Biotreibstoffen die Steigerung der Nahrungsmittelpreise um 75% zur Folge gehabt. Ohne diesen Anstieg der Agrartreibstoffe wären die Weizen- und Maisbestände nicht so gesunken und die Preissteigerungen wären geringer ausgefallen. So hat die Biospritproduktion die Nahrungsmittelmärkte in dreifacher Form beeinflusst:
Nahrungsmittel und Öle wurden nicht zu Nahrung sondern für Biokraftstoff verwendet. Über ein Drittel des in den USA produzierten Mais wird zur Produktion von Ethanol und etwa die Hälfte der Pflanzenöle in der EU werden zur Produktion von Biodiesel genutzt.  Ferner wurden Bauern dazu ermutigt, Land zur Agrartreibstoffproduktion zu verwenden. Und drittens wurde die Finanzspekulation in Getreide angeregt, was die Preise weiter nach oben trieb.
Diese Fakten haben unterschiedliche Auswirkungen in verschiedenen Regionen und Ländern. Die Nahrungsmittelknappheit könnte sich durch die weitere Ausweitung der Biokraftstoffproduktion noch insofern verstärken, als diese in Konkurrenz mit dem Nahrungsmittelanbau um gute Böden und Wasser tritt. Dieser Wettlauf gefährdet nicht nur die Ernährungssicherheit in den Anbaugebieten, sondern auch in den Ländern, die auf Lebensmittelimporte angewiesen sind. So zeichnen sich für die Zukunft ein düsteres Perspektiven ab: Die Verwendung von Nahrungs- und Futtermitteln für Bioenergie könnte in Zukunft zu einem globalen Nahrungsmitteldefizit führen und die bisher nie völlig gelösten Verteilungsprobleme noch verstärken.
Wie oben bereits beschrieben hat Brasilien genügend Land, um sowohl den Anbau von Zuckerrohr und Soja als auch von Nahrungsmitteln auszuweiten. Der neueste Preisanstieg ist auch eine Folge des Anstiegs der Erdölpreise und der gestiegenen Nachfrage nach Nahrungsmitteln in China, Indien und anderen Entwicklungsländern.
Daher kann davon ausgegangen werden, dass die brasilianische Biokraftstoffproduktion einen allenfalls geringen Einfluss auf die Nahrungsmittelpreise hat.
Es bestehen allerdings auch in Brasilien Befürchtungen, dass die steigende Zuckerrohrproduktion zwecks Weiterverarbeitung zu Ethanol zwischenzeitlich eine Reduzierung der Flächen nach sich zieht, in denen vorher der Nahrungsmittel hergestellt wurden, und es so zu Engpässen in der Nahrungsmittelproduktion kommen kann. {mospagebreak}

Arbeitsbedingungen, Mechanisierung, Landkonflikte

Von der Zucker- und Alkoholindustrie leben direkt 1 Mio. und indirekt 6 Mio. Menschen, etwa 60 % von ihnen sind in Großbetrieben, 40% in kleinen und mittleren unabgängigen Betrieben tätig.
Die Arbeitsbedingungen im Zuckerrohranbau stellen sich sehr unterschiedlich dar, je nach Herkunft der Information und auch nach der Region, die untersucht wird. So liegen die Durchschnittslöhne von ungelernten Arbeitern in der Zuckerwirtschaft von São Paulo um 86% höher als in anderen Bereichen der Landwirtschaft, um 46%  höher als in der Industrie und 56% höher als die Löhne des Dienstleistungssektors. Die Zucker und Alkohol produzierenden Betriebe unterhalten landesweit mehr als 600 Schulen, 200 Tagesstätten und 300 Gesundheitsstationen. Aus einer Studie über 50 Unternehmen der Zucker- und Ethanolbranche, die für 60% der Zuckerrohrernte verantwortlich sind, geht hervor, dass über 90% dieser Unternehmen Kantinen und Kindertagesstätten besitzen, über 80% bieten Unterkünfte für Arbeitskräfte von außen und beteiligen ihre Mitarbeiter am Unternehmensgewinn. Das deutet daraufhin, dass in einigen Bereichen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen stattgefunden hat.
Von Regierungsseite wird versucht, die Arbeitsbedingungen zu überwachen und menschenunwürdige Bedingungen und Zwangsarbeit zu bekämpfen. Nach Unterlagen des Arbeitsministeriums wurden 2006 mehr als 2600 Betriebe besucht, davon 779 im Bundesstaat São Paulo, in denen 745.000 Arbeiter beschäftigt waren. Über 12.000 Arbeiter waren illegal tätig, und wurden noch im Zuge der Kontrollen legal angemeldet.
Gegenüber solchen Darstellungen von Regierungsseite gibt es Berichte über unmenschliche Lebensbedingungen in der Zuckerrohrproduktion: Niedrige Akkordlöhne, ausbeuterische und sklavereiartige Arbeitsverhältnisse, speziell bei den etwa 200.000 Wanderarbeitern, deren Lage speziell von den Großgrundbesitzern ausgenutzt wird. Sie müssen teilweise Schichten von 12 Stunden machen und sind in winzigen und überfüllten Unterkünften  untergebracht, für die sie dann auch noch überhöhte Preise zu zahlen haben. Amnesty International prangerte in den Bundesstaaten São Paulo, Mato Grosso do Sul und Pará verschiedene Fälle von Zwangsarbeit und unmenschlichen Arbeitsbedingungen im vergangenen Jahr an.
Insgesamt sind die Beschäftigungseffekte aufgrund der starken Mechanisierung gering, in Zukunft ist zumindest im Bundesstaat São Paulo mit einer starken Verminderung zu rechnen. Das Landesumweltministerium und die Zuckerrohrproduzenten haben sich darauf geeinigt, bis 2014 die Ernte auf Flächen, auf denen Maschinen eingesetzt werden können, auch maschinell zu betreiben. Viele kleine und mittlere Bauern können die Kosten der Mechanisierung nicht aufbringen und wandern daher in andere Regionen ab. Auch Wanderarbeiter bleiben nach Meinung des Präsidenten von Coplacana (Zuckerrohrbauernkooperative von São Paulo) ohne Beschäftigung. Schon dieses Jahr wurden 8000 Arbeitsstellen wegen der zunehmenden Mechanisierung abgebaut, gegenüber 1500 neu geschaffenen Arbeitsplätzen im mechanisierten Zuckerrohranbau. Die Tendenz geht dahin, dass auf der einen Seite Arbeitsplätze vernichtet werden, auf der anderen Seite die Qualität der neuen Stellen besser sein wird. Dieser Konzentrationsprozess führt zu einer Stärkung des Agroindustriellen Komplexes und festigt die bisherige ungleiche Struktur des Landbesitzes.
Neben diesen Lebensbedingungen der in der Zuckerrohrwirtschaft Tätigen führt die Ausweitung dieses Sektors zunehmend auch zu Landkonflikten. Um die Plantagen zu vergrößern, werden Kleinbauern, die häufig ohne Besitztitel die vorher ungenutzten Ländereien der Großgrundbesitzer bewirtschaftet hatten, zum Teil mit Gewalt verjagt. Auch dies führt zu einer Zementierung der bestehenden Landbesitzstrukturen. {mospagebreak}

Gütesiegel - Zertifikate mit Nachhaltigkeitskriterien

Bereits seit Mitte letzten Jahres spricht die brasilianische Regierung von der Schaffung eines Zertifikats für Biokraftstoffe, die eine nachhaltige Produktion dieser Treibstoffe unter Umwelt-, sozialen und technischen Kriterien garantieren soll. Sie reagierte hiermit auf die Vermutung, dass die Tropenwaldrodung in Verbindung mit der Ausweitung der Biotreibstoffproduktion steht. Bisher wurde jedoch ein solches Gütesiegel noch nicht kreiert. Es gibt lediglich einzelne Initiativen, die darauf hin arbeiten. Ferner ist man auf Landesebene, z. B. des Bundesstaates von São Paulo, wo die Zuckerrohrproduktion und –verarbeitung konzentriert ist,  dabei, eine Zoneneinteilung vorzunehmen, wo die landwirtschaftliche Produktion und auch die industrielle Weiterverarbeitung erlaubt, bzw. verboten ist.
Auf europäischer Seite wurde eine NRO Plattform eingerichtet mit dem Ziel, durch Zertifizierung mit Nachhaltigkeitskriterien die Risiken der Produktion und des Handels mit Agrokraftstoffen vermindern zu können. Als Kriterien sollen Energie- und Arbeitsplatzbilanzen, die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Produktion und die sozialen Wirkungen dienen. Es wird erwartet, dass durch ein solches europäisches Zertifikat für nachhaltig erzeugte Bioenergieträger Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die eine nachhaltige Entwicklung auch in den Anbauländern zur Folge haben. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen ist zweifelhaft – die Erfahrungen mit Gütesiegeln etwa im Bereich der Erhaltung der Tropenwälder sind keineswegs gut, andere Beispiele wie etwa die Fair Trade Siegel sind positiv zu werten. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Zertifizierungen in die richtige Richtung gehen und es ermöglichen, die Weltöffentlichkeit zu sensibilisieren, Missstände anzuprangern und auch zu ihrer Abschaffung beizutragen.{mospagebreak}

Schlussbemerkungen

Aufgrund seiner besonderen Situation kann Brasilien kein Modell für die Welt sein. Es hat Voraussetzungen zur Produktion von Biokraftstoffen, wie sie kein anderes Land besitzt. Das Problem ist, sie in einer nachhaltigeren Form zu nutzen.
Die Ökobilanz von Ethanol auf Zuckerrohrbasis ist positiv, die von Biodiesel auf der Basis von Soja weniger. Hier findet eine geringere Reduktion von Treibhausgasen statt. Bei der Produktion von beiden  agrarischen Treibstoffen ist die Voraussetzung einer positiven Ökobilanz, dass bei ihrer Produktion keine Umwidmung von vorher landwirtschaftlich ungenutzter Fläche stattfindet.
Bei der Ethanolherstellung könnten die kritischen Punkte hinsichtlich Umwelt und sozialen Bedingungen gelöst werden, wenn die Produktion entsprechend reguliert, kontrolliert und die bestehenden Gesetze befolgt würden. Dies ist ohne Zweifel schwierig, aber die bereits existierenden Zoneneinteilungen und die Ansätze von Zertifikaten und Gütesiegeln mit sozialen und ökologischen Kriterien könnten als Voraussetzung zur Verkaufserlaubnis eine Basis dafür sein, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Einhaltung dieser Kriterien achten und Missbrauch national und international anprangern. Die Ethanolproduktion kann unter diesen Umständen einen positiven Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen und auch für die Luftqualität in Brasilien leisten. Perspektiven in Richtung auf Belieferung der Welt mit Bioethanol in größerem Umfang sind demgegenüber kritisch zu sehen. Hier müssten Obergrenzen der Produktion für den Export definiert werden.
Im brasilianischen Kontext kann davon ausgegangen werden, dass die Biokraftstoffproduktion selbst keine nennenswerte und langfristige Erhöhung der Nahrungsmittelpreise zur Folge hat. Bisher hat der kleinbäuerliche Sektor immer etwa 70% der Grundnahrungsmittel produziert, und davon kann auch in Zukunft ausgegangen werden.
Die Systemfrage lässt sich im Zusammenhang mit der Biokraftstoffdiskussion sicherlich nicht stellen. Die bestehende Landbesitzstruktur wird allenfalls gefestigt, der agroindustrielle Komplex wird gestärkt. Die Tendenz zur weiteren Mechanisierung sowie der Ausweitung der Zuckerrohrproduktion zur Ethanolherstellung hält an. Dies hat durchaus auch insofern positive Züge, als die Arbeitsbedingungen der in der mechanisierten Zuckerrohrwirtschaft Tätigen besser sein dürften als es die der Zuckerrohrschneider waren und sind. Andererseits werden hierdurch Arbeitskräfte freigesetzt, für die neue Arbeitsplätze zu schaffen sind. Auch die Sojaproduktion zur Biodieselherstellung wird ausgeweitet. Ob die Inklusion des kleinbäuerlichen Sektors zur Produktion von Biodiesel auf der Basis von andern Ölfrüchten in nennenswertem Umfang gelingt, ist unklar. Die Durchsetzung der vorgesehenen Maßnahmen sollte in jedem Fall von der Regierung eingefordert werden; wobei die Regierung Lula sicherlich eher ansprechbar für soziale Belange ist als für solche im Umweltbereich. Die Schaffung von Gütesiegeln mit sozialen und ökologischen Kriterien ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Nr. 139-2009