Zum Hauptinhalt springen

Brasilien vor den Wahlen - stramm nach rechts?

Brasilien ist ein föderativer Bundesstaat (26 Einzelstaaten und der Bundesdistrikt Brasília) mit einem Zweikammersystem (Kongress und Senat) und einem vom Volk direkt gewählten Präsidenten. Dieser wird alle vier Jahre gewählt. 2018 finden diese Wahlen am 7. Oktober (erster Wahlgang) und am 28.Oktober (zweiter Wahlgang) statt. Wahlberechtigt sind in Brasilien alle Personen ab 16 Jahren, es besteht vom 18. bis zum 70. Lebensjahr Wahlpflicht. Die Parteienlandschaft Brasilien ist vielfältig. Im Wahljahr 2018 gibt es 32 registrierte Parteien, fast 80 Parteien warten auf ihre Anerkennung durch den Obersten Gerichtshof. Es gibt keine Sperrklausel. Dies führt dazu, dass im Kongress derzeit 25 Parteien vertreten sind, davon bilden acht Parteien die Regierung.

Wer in den letzten Monaten die Entwicklung in Brasilien verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses größte lateinamerikanische Land zunehmend unruhigen Zeiten entgegensieht. Begonnen hatte alles mit dem Sturz der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016. Sie wurde Opfer einer Kampagne, die den unter Korruptionsverdacht stehenden augenblicklichen Präsidenten Michel Temer an die Macht spülte und es konservativen Kräften ermöglichte, ein noch stärkeres Mitspracherecht in Politik und Wirtschaft zu erlangen. Dilma Rousseff wurden Unregelmäßigkeiten im Haushalt nachgewiesen: Sie hatte Etats umgeschichtet, was bis heute in den einzelnen Bundesstaaten als nicht verwerflich gilt. Maßgeblichen Anteil an der Amtsenthebung Dilma Rousseffs hatte der inzwischen im Gefängnis sitzenden Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha (PMDB, jetzt MDB). Dies war eine seiner letzten Amtshandlungen, und gemeinsam mit Temer gelang es ihm, im Parlament hierfür die erforderliche Stimmenmehrheit zu erreichen.
Die nach dem Amtsantritt Temers verstärkt einsetzende Verfolgung von Politkern der Arbeiterpartei im Zuge des Lava-Jato-Skandals, im Zusammenspiel mit den vom Globo-Konzern kontrollierten Medien und Juristen – gipfelte im Verfahren gegen den Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) von der Arbeiterpartei PT. Seit dem 7. April verbüßt dieser nun eine 12-jährige Gefängnisstrafe. Die Inhaftierung führte zu einer Politisierung und Polarisierung in der brasilianischen Gesellschaft. Unzählige Solidaritätskundgebungen fanden und finden seither statt. Während die einen Freudenböller anlässlich seiner Gefangennahme in die Luft jagen, fordern die anderen die unverzügliche Freilassung aus Mangel an Beweisen. Die Anklage beruhte vor allem auf einem angeblich stattgefundenen Deal mit einer Baufirma, in dessen Gefolge Lula ein Appartement in der Küstenstadt Guarujá bei Santos überlassen worden sein soll. Lula selbst beteuert bis heute, dass dieses Appartement nicht ihm gehört. Es gibt kein einziges schriftliches Dokument. Die ihm zugeschriebene Immobilie wechselte nun Mitte Mai den Besitzer, und als Eigentümer ist das Unternehmen OAS eingetragen. Eine nach der Inhaftierung durchgeführte Besetzung des Appartements durch Angehörige der Obdachlosenbewegung MTST zeigte zudem, dass diese Wohnung über keinerlei luxuriöse Ausstattung – wie in den Medien kolportiert wurde - verfügt. Jeder Richter dürfte komfortabler wohnen.
Politische Reformen überfällig
Jeder weiß es, niemand unternimmt etwas dagegen: Die Vielzahl der kleinen und Kleinstparteien verhindert eine berechenbare Politik, sind doch Zusammenschlüsse von derzeit vielen Parteien notwendig, um überhaupt eine Mehrheit zusammenzubekommen. Jede Partei versucht sich in die Regierungsverantwortung zu bringen, bedeutet dies doch, am Pfründetopf mit dabei zu sein. Fraktionszwang wie in Deutschland existiert nicht. Mehrheiten müssen deshalb von der Regierung immer neu gewonnen werden, es gibt keine festen ideologischen Blöcke. Eine fehlende Prozentklausel begünstigt diese Politik, die vom ständigen Verhandeln lebt. Anders als in Deutschland waren bisher Parteienwechsel während der Legislaturperiode üblich. Mehrheiten bilden sich nicht per Koalitionsvertrag für eine Legislaturperiode, sondern zuweilen jeden Tag neu. Erstmals gab es jetzt im Jahr 2018 ein Zeitfenster. Vom 8. März bis zum 7. April  hatten die Abgeordneten durch das Einrichten  eines „Parteienfensters“ (janela partidária) die Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu einer Partei zu überdenken, in eine andere Partei einzutreten oder selbst eine neue Partei zu gründen. Von 513 Kongressabgeordneten nahmen 57 diese Möglichkeit in Anspruch. Nicht selten wurden sie durch finanzielle Angebote anderer Parteien dazu angelockt. Neu ist zudem, dass eine Unterstützung von Seiten eines Unternehmens für die Finanzierung des Wahlkampfes verboten ist und dass die Parteien je nach Anzahl ihrer Abgeordneten für den Wahlkampf staatliche Gelder erhalten. So verkündete der Parteivorsitzende der PTB, Roberto Jefferson, dass er jedem Abgeordneten, der sich um eine Wiederwahl in seiner Partei bewirbt, einen sechsstelligen Betrag aus dem Wahlkampffonds seiner Partei zur Verfügung stellt.  Das Anwerben von Abgeordneten hat noch eine weitere Bedeutung: Je größer eine Partei ist, umso mehr Sendezeit bekommt sie in den Medien wie Fernsehen und Radio. Und umso mehr Geld erhält sie erstmals aus dem staatlichen Wahlkampffonds, der schätzungsweise bei umgerechnet ca. 400 Millionen € liegen soll.
Der Parteienwechsel selbst ist nichts Neues: Immer schon geschah dies, ohne dass man mit Sanktionen rechnen musste. Zwischen 2015 bis Februar 2018 erfolgten 185 Parteienwechsel, einzelne Abgeordnete wechselten mehrmals die Seiten. Einer der Spitzenreiter ist der jetzt als Präsidentschaftskandidat antretende 62-jährige rechtsradikale Jair Bolsonaro (derzeit PSL) der bisher mit  neun Parteiwechseln die „Rangliste“ anführt!
Die in Deutschland üblicherweise verwendeten Begriffe wie „links“, „rechts“, „liberal“ oder „sozialdemokratisch“ sind nicht einfach übertragbar. Ein Beispiel ist die für das Präsidentenamt kandidierende Marina da Silva: Einst war sie ein ein grünes „Aushängeschild“. Von 2003 bis 2008  leitete sie unter der Lula-Regierung das Umweltministerium und galt lange als politisch links. Seit ihrem 2004 erfolgten Eintritt in die „Assembleia de Deus“ (eine der in Brasilien an Bedeutung gewinnenden Pfingstkirchen) äußert sie umstrittene Meinungen und macht zunehmend mit den Konservativen gemeinsame Sache. Sie lehnt gleichgeschlechtliche Partnerschaften ab, ist gegen eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und stimmte 2016, zusammen mit den Erzkonservativen,  für die Amtsenthebung von Dilma Rousseff. Auch sie hat mehrmals die Partei gewechselt und gründete vor kurzem eine eigene, das „Netz der Nachhaltigkeit“ (Rede Sustentabilidade). Sie wird im Oktober wieder als Präsidentschaftskandidatin antreten. Eigentlich weiß man inzwischen nicht mehr, wofür sie wirklich steht, wenn man einmal von ihrem Thema Umweltschutz absieht.
Aus dem Geschilderten ergibt sich zwangsläufig, dass eine Reform des politischen Systems überfällig ist. Ein erster Schritt wäre die Einführung einer Sperrklausel. Ein Schrumpfen der Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien wäre die Folge, würde ein konstruktives Arbeiten erleichtern und notwendige politische Entscheidungen vereinfachen.
Korruption – ein tiefsitzendes Übel
Die Affäre um den staatlichen Ölkonzern Petrobras beschäftigt die brasilianische Politik seit Jahren. (s.Beitrag „Lula, Temer…“ in dieser Ausgabe) Im Zuge des Lava-Jato-Verfahrens ernteten die Strafverfolger anfangs viel Lob, scheuten sie sich nicht, auch hochrangige Politiker wie den ehemaligen Gouverneur von Rio, Sergio Cabral (MDB, bisher PMDB), in Haft zu nehmen. Zugleich gibt es eine Anzahl von Politikern, die seit langem auf einen Prozess „warten“, wo der Tatbestand der Korruption offenkundig ist. Dutzende von Ministern, Gouverneuren und Senatoren sind bereits „vorgemerkt“ und müssen mit einer Anklage rechnen. Bezeichnend ist die Äußerung des Abgeordneten Nelson Leitão (PSDB): „Wenn all diejenigen hier im Parlament, die sich Anklagen gegenübersehen, von ihren Parteien ausgeschlossen werden, bleiben nur noch wenige übrig.“
BBC Brasil hat dies konkretisiert. Der Sender veröffentliche eine Liste von 48 Politikern (drei Gouverneure, zehn Senatoren, 34 Kongressabgeordnete) - darunter der amtierende Präsident Temer -, die, falls sie nicht wiedergewählt werden, ihren Status des „foro privilegiado“ verlieren würden. Gegen sie könnte dann im Rahmen von Lava-Jato bereits in erster Instanz der Prozess durch den Obersten Gerichtshof eröffnet werden. Folglich sind viele Abgeordnete damit beschäftigt, sich durch eine Wiederwahl einer drohenden Strafverfolgung zu entziehen.
Ein Irrtum jedoch ist es zu glauben, dass Korruption sich nur in höheren Etagen abspielt. Korruption prägt den Alltag, sie ist bei alltäglichen Behördengängen genauso anzutreffen wie beim Handwerker um die Ecke. Artverwandt ist die in ganz Brasilien anzutreffende Lebenseinstellung des „jeitinho,“ der Art und Weise, für alles eine, wenn auch nicht immer moralisch saubere Lösung zu finden.
Wahl 2018: ohne Lula?
2018 ist in Brasilien ein „Superwahljahr“ (siehe Kasten): Einer der Präsidentschaftskandidaten ist der brasilianische Ex-Präsident Lula von der Arbeiterpartei PT. Seit dem 7. April 2018 sitzt er jedoch im Gefängnis. Bis zum Redaktionsschluss blieb unklar, ob er zur Wahl antreten kann. Im Juli wird er offiziell seine Kandidatur verkünden: Es obliegt dann dem Obersten Wahlgerichtshof (Tribunal Superior Eleitoral) in Brasília zu entscheiden, ob er als Präsidentschaftskandidat antreten kann. Wird ihm eine Kandidatur verwehrt, besteht für die PT die Möglichkeit, einen Ersatzkandidaten zu benennen. Innerhalb der PT möchte man Lula auf jeden Fall im Wahlkampf im Spiel halten. Vorbild könnten die Ereignisse in den 70er Jahren in Argentinien sein. Dort konnte Juan Perón aus dem Exil heraus nicht bei den Wahlen 1973 kandidieren, stattdessen trat für ihn José Cámpora an. Er gewann die Wahl mit dem Slogan „Cámpora an die Regierung, Perón an die Macht“. Kaum an der Macht, amnestierte er Perón und trat zurück. Die anschließenden Neuwahlen gewann Perón deutlich. Vorstellbar wäre, dass die PT mit dem Ex-Bürgermeister von São Paulo, Fernando Haddad, antritt. „Haddad an die Regierung, Lula an die Macht“ wäre ein möglicher Slogan. Allerdings würde Haddad nach letzten Umfragen landesweit gerade mal 4,4% der Stimmen erreichen.
Für viele ist die Verurteilung des Ex-Präsidenten Lula die  Folge politischer Ränkespiele. Seit dem Sturz Dilma Rousseffs waren sich die erzkonservativen Kräfte, angeführt von  Vertretern der Agrarlobby, der Evangelikalen und der „Bancada da bala“ („Gruppe pro-Bewaffnung“) einig, dass es nicht mehr zu einer Regierung unter einem PT-Präsidenten kommen dürfe. Entsprechend wird seither im Zusammenspiel mit Vertretern der Judikative agiert. Als Lula im Herbst 2017 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen ankündigte, sorgte dies für entsprechende Unruhe. In sämtlichen Umfragen lag er sogleich deutlich an der Spitze. Gerade die arme Bevölkerung hatte nicht vergessen, dass während seiner Amtszeit (2003 bis 2010) eine Reihe sozialer Verbesserungen verwirklicht wurde. Das Land erlebte damals ein starkes Wirtschaftswachstum, die Regierung legte Sozialprogramme wie „Bolsa Família“ gegen die Armut auf, der Mindestlohn stieg signifikant, 30 Millionen Menschen entkamen dem Elend. Mit seiner Verhaftung im April und des damit voraussichtlichen Verbots einer Kandidatur wähnen sich seine politischen Gegner nahe am Ziel.
Breite Solidarität
Lulas Verhaftung bewirkte eine bisher nicht gekannte Solidarisierungswelle aus allen Bereichen der brasilianischen Gesellschaft:
• Tausende von Briefen und Postkarten trafen beim Sitz der Bundespolizei in Curitiba, wo Lula in Haft ist, ein. Darunter waren auch Briefe von Analphabeten aus dem Nordosten. Diese nutzten eine Aktion des Schriftstellers Cláudio Ferrário, um ihre Solidarität mit Lula auszudrücken. Ferrário hatte sich mit einem Tischlein im Zentrum Recifes niedergelassen und die Menschen mit dem Plakat „Schreibe einen Brief an Lula“ aufgefordert, ihm die Zeilen zu diktieren.
• Über einhundert brasilianische Juristen erhoben ihre Stimme und vertraten die Ansicht, dass die Verurteilung Lulas nicht auf Beweisen beruhe, sondern auf der persönlichen Überzeugung der Richter.
• Es finden unzählige Besuchsgesuche aus dem politischen und kirchlichen Bereich statt. Oft werden diese ohne Begründung abgelehnt oder nur mit Verzögerung gestattet. Der Befreiungstheologe Leonardo Boff erhielt erst nach vier Wochen die Erlaubnis, mit Lula reden zu können.
• Seit Beginn seines Haftantritts gibt es in der Nähe auf Initiative der Landlosenbewegung MST das Zeltlager „Lula livre“. Morgens wird Lula mit einem „Bom dia, Lula“ begrüßt und abends mit einem „Boa noite“ lauthals verabschiedet.  
Dass die brasilianische Gesellschaft tief gespalten ist, zeigte sich in der Nacht zum 28.April. Unbekannte gaben Schüsse auf das Lager ab. Es gab zwei Verletzte. Lulas Anhängern stehen bedeutende Kräfte aus der Politik, Wirtschaft, Justiz gegenüber. Diese sind nicht bereit, kampflos ihren „rechten“ Weg aufzugeben.
Augenblicklich scheint es, dass auch bei der traditionell uneinigen Linken ein Umdenken stattfindet. Es gibt Bestrebungen, sich auf gemeinsame politische Inhalte zu verständigen, die Kräfte zu bündeln um bei den anstehenden Wahlen eine starke Rolle spielen zu können. Nicht zuletzt gilt es einen rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro zu verhindern. Lula liegt trotz der Inhaftierung nach einer im Mai von DataFolha veröffentlichten Umfrage mit 37 Prozent weiterhin in Führung. Allerdings zeichnet sich ohne ihn ein Schreckensszenario ab: Bolsonaro liegt mit 18,3% vor Marina da Silva mit 11,2 %, die Stichwahl könnte zwischen diesen beiden stattfinden.
Fast nebensächlich scheinen derzeit die restlichen Wahlen. Dabei ist gerade auch die neue Zusammensetzung des Kongresses von Bedeutung. Umfragen zeigen auch hier eine Tendenz zugunsten der rechtsorientierten Parteien.  
Rolle der Judikative
Immer bedeutender wurde in den letzten Monaten die Judikative. Es begeht fast kein Tag, ohne dass der Oberste Bundesgerichtshof oder andere Organe der Judikative in den Schlagzeilen sind. Die Judikative ist auf dem besten Weg, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Mit einer vergleichsweise atemberaubenden Geschwindigkeit wurde Lula da Silva von seinem Intimfeind Richter Sérgio Moro aus Curitiba angeklagt, der Prozess gemacht, verurteilt und nach der Bestätigung des Urteils in zweiter Instanz in Haft genommen. Ein Gesuch auf Haftverschonung wurde am 4. April mit 6:5 Richterstimmen abgelehnt. Die Verhandlung wurde im Fernsehen übertragen, und die Bevölkerung konnte sich ein Bild davon machen, wie umstritten das Verfahren gegen Lula war und ist. Auch der zeitweise unsachliche Umgang untereinander war beeindruckend und zeigte, wie die Judikative zunehmend nicht mehr versucht, aufgrund von Fakten sachlich zu urteilen. Immer stärker bestimmen die persönlichen Sichtweisen bzw. die politische Orientierung  und Stellungnahmen der Richter deren Verhalten. Es verwundert nicht, dass eine von der Tageszeitung Folha de São Paulo, die ganz bestimmt nicht der Arbeiterpartei nahesteht, ergab, dass inzwischen über zwei Drittel der Bevölkerung die Unabhängigkeit der Justiz bezweifeln. Die Justiz macht auch außerhalb des Lava-Jato-Skandals von sich reden: Im Februar 2005 wurde die amerikanische Nonne Dorothy Stang (74) von Auftragskillern ermordet. Der Auftraggeber Regivaldo Pereira Galvao wurde zwar 2010 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, aufgrund von Habeas Corpus (bei Lula abgelehnt) blieb er bis August 2017 auf freiem Fuß da noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren. Ende Mai 2018 verfügte nun Minister Marco Aurélio Mello vom Obersten Bundesgericht erneut dessen Freilassung.
Kein Vertrauen mehr in die Demokratie
Immer wieder in den letzten zwei Jahren durchgeführte Meinungsumfragen zeigen einen permanenten Vertrauensverlust der Bevölkerung in das demokratische System. Dachte man zuerst mit Beginn der Aufarbeitung von Korruptionsfällen, es würde mit Brasilien bergauf gehen, hat sich das durch die Ungleichbehandlung der angeklagten Politiker und Geschäftsleute radikal verändert: Je nachdem, vor welchem Richter verhandelt wird, kommt man davon oder die Eröffnung des Prozesses wird verschoben. Es kann aber auch eine drakonische Bestrafung erfolgen. Nur noch knapp 20% der befragten Bevölkerung sind heute noch mit der Demokratie zufrieden. Zu diesem Vertrauensverlust trug natürlich auch das inszenierte Schauspiel bei, das 2016 zur Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff führte. Sie wird bis heute nicht der Korruption verdächtigt, und kein einziger Strafprozess wurde gegen sie eröffnet. Angesichts dieser Tatsachen erstaunt es vielleicht auch nicht, dass ein Politiker wie der Evangelikale Bolsonaro, der vor einigen Monaten Dilmas Folterer während der Militärdiktatur öffentlich lobte, der gegen Indigene und Homosexuelle drastische Worte der Ablehnung von sich gibt - dass dieser Mann, sollte Lula nicht kandidieren dürfen, die Präsidentschaftskandidatur anführt! Auch seine rassistischen Bemerkungen bleiben ohne großen Widerspruch. Er markiert den starken Mann, lässt populistische Sprüche los und gewinnt derzeit immer mehr Anhänger.
Brasilien blickt einer Wahl entgegen, deren Ausgang völlig offen ist, allerdings mit einer klaren Tendenz nach rechts. Keiner der Präsidentschaftskandidaten wird im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen. Im entscheidenden zweiten Wahlgang stehen sich dann nur noch zwei Kandidaten gegenüber. Sollte Lula nicht antreten dürfen, bleibt zu hoffen, dass die fortschrittlichen Kräfte sich auf einen Kandidaten einigen, der einem möglichen Gegner namens Bolsonaro die Stirn bieten kann. Eine Regierung Bolsonaro würde Brasilien in eine autokratische Richtung führen, ein Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten. Leidtragender wäre der Großteil der brasilianischen Bevölkerung. Brasilien geht unruhigen Zeiten entgegen.

 

Ausgabe 157/2018