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Die Gefahr Temer

Nachfolgend Auszüge aus einem Interview des Magazins Carta Capital mit Guilherme Boulos
Übersetzung: Bernd Stoeßel

Das Wiedererstarken der sozialen Bewegungen verdankt sich in hohem Maße dem Aktivismus von Guilherme Boulos, dem Anführer der Frente Povo Sem Medo („Volk ohne Angst“). Er tauschte die bequemen Möglichkeiten, die sich einem Akademiker aus der Mittelklasse auftun, gegen eine kämpferische Tätigkeit für den Movimento dos Trabalhadores Sem Teto  (MTST – Bewegung der Obdachlosen). Boulos hält die Regierung Temer die für Brasiliens Arbeiter Schädlichste seit Beginn der Neuen Republik im Jahr 1985, da sie sich der Wählerschaft nicht verpflichtet fühle.
Carta Capital: Was bedeutet die neue Klage gegen Lula?


Guilherme Boulos: Den Vollzug einer Farce, die bereits vor einiger Zeit vorbereitet wurde. Nach monatelangen Ermittlungen stellt sich ein Staatsanwalt hin um zu sagen, dass der Ex-Präsident von oberster Stelle aus die Korruption in Brasilien steuert. Um diese Behauptung zu untermauern, verweist er auf die Umgestaltung eines Appartements. Brasilien hat ein  Problem mit der Korruption, richtig? Und das Beste: Sie schaffen nicht, es zu beweisen. Es ist an den Vorwürfen einfach nichts dran. Es geht hier um nichts weniger als einer wahren Verfolgungsjagd gegen Lula, es wird nicht über seine Fehler geurteilt. Selbstverständlich ruft dies eine Reaktion hervor.

 


CC: Glauben Sie, dass diese Reaktion erfolgreich sein wird?


GB: Die Farce ist gut konstruiert, sie setzen sehr viel Geld ein. Dennoch glaube ich an eine erfolgreiche Reaktion. Allmählich fällt der Groschen. Diese Lynchjustiz ist nicht zu trennen von dem Versuch, Lula politisch zu zerstören. Die Bürger beginnen aber zu verstehen, worum es bei diesem Prozess eigentlich geht, vor allem, wenn Projekte auf die politische Agenda kommen, die das soziale Netz zerstören, mit dem Abbau von Arbeiter- und Pensionsrechten. Das, was als nationale Rettung verkauft wurde im Kampf gegen die Korruption, ist in Wahrheit ein dreister Raub. Das Klima in Brasilien verändert sich.


CC: Wieso nehmen Sie es so wahr?


GB:  Ich ging durch die Straßen und mir schlug Feindseligkeit entgegen, in São Paulo, in Brasília und an den Flughäfen. Derzeit sind jene, die sich mit aller Kraft für diesen Prozess einsetzten, die Beschämtesten. Jene, die sich aus Überzeugung anschlossen, sind misstrauisch. Und jene wiederum, die bereits misstrauisch gewesen sind, beginnen, sich dagegen zu wenden.


CC: Sie erwähnten Lulas Fehler. Welche waren das?


GB: Ich würde sagen, der Hauptfehler bestand darin, auf eine Verständigung mit denen zu setzen, die in Brasilien oben sind, den gleichen, die den Putsch betrieben. Als Lula 2003 an die Regierung kam schlug er einen großen nationalen Pakt vor. Er sagte: „Unter meiner Regierung können alle gewinnen.“ Dann rief er alle an einen Tisch. Er gab den sozialen Bewegungen eine Stimme, erhielt aber den Dialog mit Unternehmern und dem Finanzsektor aufrecht. Lula entwickelte eine geschickte Technik, die es eine Zeit lang allen ermöglichte zu gewinnen. Die Banken erzielten Rekordgewinne in den vergangenen 13 Jahren. Die Agroindustrie, die Bauunternehmen, der Bergbau. Die Arbeiter gewannen auch etwas, für die Sklavenhütte fiel etwas ab. Eine Zeit lang funktionierte das.


CC: Warum funktionierte es am Anfang und scheiterte danach?


GB:  Es funktionierte aufgrund des erheblichen Wirtschaftswachstums, das diese Win-Win-Situation ermöglichte und eine Politik der Kreditvergabe an die breite Bevölkerung stützte. Der Konsum der Arbeiter stieg, Sozialprogramme wurden aufgelegt, die Ärmsten und schwarze Brasilianer konnten Universitäten besuchen. Dies geschah, ohne dass es irgendeinem Privileg an den Kragen gegangen wäre. Es wurde allerdings übersehen, dass es sich um eine Politik mit Haltbarkeitsdatum handelte. Das hat mit den Rohstoffen zu tun und mit dem Wachstum in China. Dann gab es noch die Krise im Jahr 2008 und den Versuch einer antizyklischen Politik. Doch das Wachstumsniveau ging deutlich zurück. Dies verringerte den Spielraum für eine Win-Win-Politik. Es musste irgendwo gekürzt werden. Außerdem setzten die Regierungen der Arbeiterpartei ausschließlich auf das Parlament und verbündeten sich hierbei mit konservativen Kräften, ohne Mobilisierung auf den Straßen Brasiliens. Die breite Bevölkerung wurde in diese politische Einigung nicht einbezogen.

CC: Gab es eine Demobilisierung der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen?

GB: Ja, und heute zahlen wir den Preis dafür. Es stellte sich der Glaube ein, die Regierung werde schon Lösungen finden, und große Mobilisierungen seien daher gar nicht mehr notwendig. Der Rost frisst sich in die Maschinerie von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Der sozialen Bewegung gelingt insgesamt gesehen keine Mobilisierung mehr, denn sie hörte damit auf, Basisarbeit zu betreiben. Hinzu kam, dass Dilmas Haltung nach 2014 sehr schädlich war. Sie nahm das Programm des Gegners an.

CC: Sie berief für das Finanzministerium einen Fanatiker der Apokalypse.

GB: Das stimmt (Lachen). Auf jeden Fall bestand der grundlegende Fehler der Regierungen der Arbeiterpartei, sowohl jener von Lula als auch der von Dilma, darin zu glauben, man sitze mit am Tisch der Gutsherren, wobei eine stillschweigende Abmachung darüber bestand, dass keine der dringend notwendigen Strukturreformen angepackt würde, wie die Agrarreform, die Reform der Stadtpolitik und die Steuerreform.

CC: Wie bewerten Sie diese Haltung?

GB: Ich denke, dass es an Mut zum Konflikt fehlte. Außerdem gab man sich Illusionen über die historische Mission des brasilianischen Bürgertums hin. Die Regierenden meinten, dass das Bürgertum sie dulden würde, doch sie täuschten sich in dessen ganz eigenem Wesen, das in seiner Herrenhaus-Mentalität besteht. Die sozialen Fortschritte unter der Regierung Lula verliefen nur sehr langsam und blieben begrenzt. Es handelte sich um einen fragilen Reformismus in der Definition des Ökonomen André Singer (Anmerkung: Dieser war Lulas Sprecher in dessen erster Amtszeit von 2003 bis 2007). Für die brasilianische Elite jedoch waren schon diese kleinen Fortschritte zu viel, sie wurde von Panik und Furcht ergriffen. Für sie war das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia bolivarisch, es erinnerte sie an das Venezuela von Hugo Chávez. Schwarze, die auf einmal an der Universität studieren, Arme, die mit dem Flugzeug reisen - das ist für die Elite einfach zu viel. Das geht ans Eingemachte.

CC: In Brasilien scheint nur eine Verständigung der Eliten untereinander möglich zu sein, niemals aber mit der Straße.

GB:  Genau so ist es. Das ist das Wesen des brasilianischen Bürgertums. Die Eliten duldeten die Regierungen der Arbeiterpartei eine Zeit lang. Nicht nur, weil sich ihre Gewinne unter diesen wie gewohnt fortsetzten, sondern auch deshalb, weil diese Politik über einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte. Was die Bedingungen und die soziale Basis für den Putsch schuf, das war die finanzpolitische Anpassung, die Dilma vornahm. Als sie sich gegen die Basis wandte, die sie gewählt hatte, war die große Chance für das Bürgertum gekommen. Dilma verlieh dieser abgestandenen und zurückgebliebenen Rechten Kraft.

CC: Der Rapper Mano Brown hat beobachtet, dass die Peripherie Dilma den Rücken zugekehrt hat. Stimmen Sie dem zu?

GB: Ja, das sehe ich auch so, seine Feststellung trifft zu. Wenn wir uns die Demonstrationen von 2015 bis heute ansehen, sowohl jene, zu denen von der Zeitung „O Globo“ leidenschaftlich aufgerufen wurde, und die der Industrieverband FIESP (Federação das Indústrias do Estado de São Paulo) finanziert hat, als auch die Demonstrationen gegen den Putsch, so wird klar, dass nirgends die großen Massen der städtischen Peripherien dabei waren. Vielmehr sah die Peripherie den Ereignissen gleichgültig zu. Den Menschen war klar, dass es sich um den üblichen politischen Streit handelte. Die große Herausforderung besteht heute darin, die Peripherie, diesen großen sozialen Protagonisten, wieder auf Brasiliens Straßen zu bringen.

CC: Wie kann dies der brasilianischen Linken gelingen?

GB: Magie wird da nicht helfen. Die Linke hat lange Zeit keine Basisarbeit mehr gemacht: von Tür zu Tür gehen, den Menschen offen gegenüber zu stehen, versuchen, ihre Probleme zu verstehen. Wer all dies heute in der Peripherie tut, das sind die evangelikalen Kirchen. Nicht ohne Grund sind sie in den vergangenen Jahren so stark angewachsen.

CC: Warum hat sich die Linke nicht mehr um die Basisarbeit gekümmert?

GB: Die Linke wandte sich zu sehr der institutionellen Politik zu. Ihre Sorge galt dem Wählen von Stadträten, Bürgermeistern, Abgeordneten, Gouverneuren, um dann am Ende die Präsidentschaft zu erlangen.

CC: Die Linke hat es sich also in Kabinetten bequem gemacht.

GB: Genauso ist es. Wer in den 1980-er Jahren noch auf Lehm lief, der wurde im Jahrzehnt darauf Parlamentsberater.

CC: Spricht hieraus nicht ein großer Mangel an Überzeugung?

GB: Um ehrlich zu sein, kommt hierin eine andere Art Glauben zum Ausdruck: Nämlich der, dass die institutionelle Politik allein dazu in der Lage sei, die Probleme zu lösen. Das ist sie aber nicht. Die Arbeiterpartei eroberte die Präsidentschaft und behielt sie 13 Jahre lang. Aber ohne den Rückhalt einer Mobilisierung des Volkes wurde sie zur Geisel der üblichen schmutzigen Geschäfte. Nach und nach verlor das Projekt die Fähigkeit, mit dem Volk einen Dialog zu führen.

CC:  Lange bevor der Senat die Verhandlung gegen Dilma abschloss, war klar, dass sie nicht die geringste Chance haben würde, ihr Präsidentenamt zu retten. Die Linke allerdings versuchte weiterhin, zu einem Konsens zu kommen. Sogar das Bekenntnis zu „Diretas Já“ wurde von vielen abgelehnt.

GB: Die Leute erleben das Ende des Zyklus der brasilianischen Linken. Es fehlt ein Regenschirm, unter den die Menschen zusammenkommen. Unter diesen Umständen ist eine Fragmentierung fast unvermeidlich. Es gibt Versuche, eine neue brasilianische Linke ins Leben zu rufen. Die Arbeiterpartei ist noch immer stark in der sozialen und in der Gewerkschaftsbewegung, sie verfügt aber nicht mehr über die politische und die moralische Autorität, um die Hegemonie zu übernehmen. Was „Diretas Já“ betrifft so verstehe ich nicht, wie man mit dieser Losung den Putsch legitimieren kann, der durch den Kongress und den Obersten Gerichtshof legitimiert wird.

CC:  Ist „Diretas Já“ objektiv überhaupt möglich?

GB: Ich glaube, ja. Wir haben einen unrechtmäßigen Präsidenten, der den Willen der Wähler nicht achtet. Das für sich genommen würde schon die Ausrufung neuer Wahlen rechtfertigen, um die Volkssouveränität wiederherzustellen. Die Typen haben es geschafft, eine gewählte Präsidentin abzusetzen, mit der Begründung fiskalischer Trickserei. Sie haben Brasiliens Verfassung mit der Zustimmung des Obersten Gerichtshofs zerrissen. Das Ganze lief nach Abmachung. Wer das nicht sieht, will es nicht sehen. Aber es gibt brasilianische Linke, die glauben, dass eine zerbrechliche Regierung Temer interessanter sein könnte als eine eventuell gewählte Regierung des PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira). Meiner Meinung nach jedoch handelt es sich bei der Regierung Temer um die für die Arbeiter gefährlichste seit Beginn der Neuen Republik.

CC: Und warum?

GB: Wegen ihrer eigenen Zerbrechlichkeit. Temer wurde weder gewählt, noch strebt er eine „Wiederwahl“ an, und er sieht sich in keiner Weise der Wählerschaft verpflichtet. Er muss niemandem Rechenschaft ablegen. Wenn Temer will, kann er verbrannte Erde hinterlassen.
Das Interview für das Magazin Carta Capital führten Mino Carta und Rodrigo Martins. Wir bedanken uns bei Carta Capital für die Übersetzungserlaubnis.

 

Ausgabe 154/2016