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Die Handlanger der Agrarindustrie

Bis zum Auftauchen von Jair Bolsonaro hieß der Schrecken des überwiegenden Teils der brasilianischen Linken, aber auch derjenigen, die sich in der Mitte verorten, aus gutem Grund Geraldo Alckmin. Er versprach, eine der empfindlichsten Gegenden des Amazonasgebietes in eine „Baustelle“ zu verwandeln. Für ihn ist die Agrarindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren, der zahlreiche Arbeitsplätze schafft.

Er will Privatinvestoren nach Pará locken, um Eisenbahnstrecken und Wasserstraßen zu bauen. Die Großprojekte, die schon die Arbeiterpartei PT während der 13 Jahre, in denen sie regierte, anstieß, hatten einen großen Verdienst: Sie sorgten dafür, dass sich indigene Völker, die sich über ein Jahrhundert lang misstrauisch gegenüberstanden, zusammentaten. Die Größenordnung der Bedrohung ließ die Indigenen alte, tiefe Differenzen überwinden und sich auf das gemeinsame Ziel konzentrieren: Indigene und Flussbewohner kämpfen heute Seite an Seite gegen jene, die ihr Zuhause zerstören wollen.
Die menschlichen und ökologischen Kosten der Großprojekte sind immens. Hinzu kommen Korruptionsvorwürfe, vor allem im Fall Belo Monte. Die geplanten Wasserkraftwerke am Amazonas-Nebenfluss Rio Tapajós wurden bislang nicht gebaut. Die Regierung von Michel Temer, Brasiliens unbeliebteste seit der Rückkehr zur Demokratie 1985, wollte eine Eisenbahnstrecke bauen, um vor allem Soja für den Export transportieren zu können. Geplante Länge: 1.142 Kilometer. Die Regierung Temer verringerte zu diesem Zweck die Größe von Naturschutzgebieten. Der Widerstand der indigenen Völker und internationaler Druck gegen die Zerstörung von Amazonas-Regenwald erzwangen jedoch eine Rücknahme, wenn auch an anderer Stelle geschütztes Gebiet freigegeben wurde. Die Umwidmung in eine Área de Proteção Ambiental (APA) lässt eine ganze Reihe menschlicher Aktivitäten zu. Das Land kann gekauft und verkauft werden. Grileiros, die sich unrechtmäßig große Flächen öffentlichen Landes unter den Nagel gerissen haben, können sogar eine Legalisierung beantragen. Verbrechen gegen Güter der Allgemeinheit und gegen die Umwelt werden somit vom Staat als rechtmäßig anerkannt. Öffentliches Land wird zu privatem Land.
Um die Soja-Produktion zu steigern, brauchen die Großgrundbesitzer mehr Land. Und welche Gegenden stehen für die private Ausweitung zur Verfügung? Der Regenwald des Amazonasgebietes und der Cerrado. Die beschleunigte Abholzung baut auf eine Lockerung der Schutzbestimmungen, die im Kongress auf dem Weg ist. Es handelt sich um den üblichen Prozess im Amazonasgebiet. Jeder in ihrem Sinne in Brasília ausgesprochene Satz lässt die Grileiros ihren Druck auf den Regenwald erhöhen, Bäume fällen und Vieh ansiedeln. Zugleich tauchen neue Eindringlinge auf, in der Gewissheit, dass ihr Verbrechen eine Legalisierung erfahren wird. Es gibt keinerlei Scham mehr.

Sojaanbau - ungebremste Ausdehnung

Laut Erklärung des Umweltministeriums vom Januar 2018 ist die Soja-Anbaufläche im Amazonasgebiet gegenüber dem Vorjahr um fast 30 Prozent angewachsen. Ministerium und sogar einige Umweltorganisationen indes feierten dies als einen Erfolg, da Soja illegal nur auf etwas über ein Prozent der gesamten Fläche angebaut wurde. Daraus wird gefolgert, dass Soja die Abholzung des Amazonasgebietes nicht wesentlich befördert. Was dabei vergessen wird: ein großer Teil der Anbauflächen, einst öffentliches Land, wurde einfach geplündert. Was heute legal ist, war gestern Diebstahl. Legalisiert von den letzten Regierungen und vom korruptesten Kongress der jüngeren Geschichte Brasiliens.
In Regierung und Kongress dominiert die Agrarlobby. Schon unter der Regierung Lula erhielten Grileiros nachträglich das staatliche Gütesiegel. Temer hat einfach noch ausgeweitet, was unter den Regierungen der Arbeiterpartei bereits begann: die Legalisierung von Verbrechen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Soja-Anbaufläche im Amazonasgebiet vervierfacht. Dabei ernährt Soja nicht einmal die Brasilianer: Rund 80 Prozent der Produktion gehen in den Export, als Viehfutter. Sprich, für die Fleischproduktion. Die Viehwirtschaft trägt am meisten zur Abholzung des Regenwaldes bei, sie macht 65 Prozent der Fläche aus. 85 Millionen Stück Vieh bedeuteten im Jahr 2016 fast 40 Prozent des gesamten Viehbestandes in Brasilien. Das Vieh ist aufgrund von Verdauungsprozessen für die Freisetzung großer Mengen an Methan verantwortlich. Dieses steigt in die Atmosphäre auf. Methan trägt zum Treibhauseffekt bei, sein Erwärmungspotenzial ist 25mal größer als jenes von Kohlendioxid. Fleischverzehr ist somit nicht nur für das Amazonasgebiet ein sehr schlechtes Geschäft, sondern auch für unseren Planeten und den Menschen. Ganz abgesehen vom Leiden der Tiere. Soja und Viehzucht tragen in erheblichem Maße zur Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet bei.
Einer Schätzung zufolge wird die Soja-Nachfrage aus China bis zum Jahr  2024 mit 180 Millionen Tonnen pro Jahr mehr betragen als die drei größten Produzenten USA, Brasilien und Argentinien zusammen herstellen können. In einem Land wie Brasilien, das noch im 21. Jahrhundert vom Export von Rohstoffen abhängt, birgt das Gewicht von Soja in der Handelsbilanz ein enormes Erpressungspotenzial. Dies hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer schamloser manifestiert. Erinnert sei an die Demontage der Indigenenbehörde Funai und die systematische Schwächung von Institutionen, die Menschen und Natur schützen sollen. Die Agrarindustrie muss kaum Kontrollen fürchten, Umweltauflagen werden gelockert. Es war kein Zufall, dass Präsident Michel Temer in einem Interview mit der „Folha de São Paulo“ Geraldo Alckmin als jenen Präsidentschaftskandidaten bezeichnete, der sich am stärksten mit seiner Regierung identifiziere.
Die Mehrheit der Fazendeiros und auch der Agrarlobby jedoch unterstützte den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro, der zudem auch versprach, den Waffengebrauch zu vereinfachen - zum Selbstschutz. Das Amazonasgebiet ist längst bewaffnet. Viel dringlicher wäre eine Entwaffnung. Die Gewalt richtet sich nicht gegen Landbesitzer, sondern gegen Bauern, Indigene, Quilombolas und Uferbewohner und nimmt in letzter Zeit weiter zu.
Brasilien ist heute nicht mehr das Land der Zukunft. Aber damit es zumindest eine Zukunft haben kann, muss es wieder dazu in der Lage sich, sich eine Zukunft vorzustellen. Aber das geht nur, wenn Schluss ist mit der Plünderung des größten Regenwaldes der Welt: seiner Ressourcen, seiner Bäume und Völker, die in ihm leben und behandelt werden wie Abfall, der weggefegt werden muss, um Soja und Weiden Platz zu machen. Es geht längst nicht mehr um die Wahl eines Entwicklungsmodells. Eine Wahl ist in Zeiten des Klimawandels nicht mehr möglich. Auch nicht für die Agrarindustrie.

Bolsonaro ist eine Bedrohung für unseren Planeten

Jair Bolsonaro, der in den sozialen Netzwerken als „o coiso“ („Dingsda“) bezeichnet wird, ist nicht nur eine Bedrohung für Brasilien, sondern für unseren Planeten. Der neu gewählte Präsident der extremen Rechten hat bereits erklärt, dass er Donald Trump folgen und aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen wird. Er und seine Unterstützer haben außerdem verschiedene Maßnahmen angekündigt, um das Amazonasgebiet für die Abholzung freizugeben. Der Kampf gegen die Erderwärmung würde somit fast unmöglich.
Bolsonaro, der mit dem Faschismus flirtet, hat angekündigt, das Umweltministerium im Agrarministerium aufgehen zu lassen. Wer Minister dieser Abirrung werde, bestimme der „Produktivsektor“. Damit sind sowohl die Agrarindustrie gemeint, als auch Grileiros – Kriminelle, die sich mit Waffengewalt öffentliches Land unter den Nagel reißen. In Brasilien wird ein Teil der Agrarindustrie mit den Grileiros verwechselt. Im Kongress trägt die mächtige Agrarlobby den Beinamen „Viehfraktion“. Dieser Front gehören Parlamentarier verschiedener konservativer Parteien an. Sie übte in den vergangenen Jahren Druck aus, um in die geschützten Regionen des Amazonasgebietes vordringen zu können. Indigenen-Land und Naturschutzgebiete sollen nicht länger als Hindernisse im Weg stehen. Regenwald soll in Weideland umgewandelt und Soja-Anbau und Bergbau ermöglicht werden.
Bolsonaros Partido Social Liberal (PSL) stellte bislang nur einen Abgeordneten, nach der Wahl werden es künftig 52 sein – und somit die zweitgrößte Fraktion. Bolsonaro erklärte, es werde keinen einzigen Zentimeter zu viel indigenes Land geben. Bereits demarkiertes Land werde verkauft werden können. Als Anhänger der Militärdiktatur, die in Brasilien von 1964 bis 1985 herrschte, will Bolsonaro dem „schiitischen Umweltaktivismus“ ein Ende setzen. Er lobt Folter und fordert, dass sich die Minderheiten den Mehrheiten unterwerfen – oder „einfach verschwinden“.
Schon die Möglichkeit der Wahl Bolsonaros zum Präsidenten erwies sich als eine Art Genehmigung, Regenwald abzuholzen und jene umzubringen, die ihn schützen. Es kam während des Wahlkampfes zu zahlreichen Fällen von Gewalt. Brasilien ist ohnehin bereits das tödlichste Land weltweit für Umweltaktivisten. Unter einem Präsidenten Bolsonaro dürften die Konflikte explodieren.

Ausgabe 158/2018