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Die Wirtschaftspolitik Brasiliens im ersten Jahr der Regierung Bolsonaro

In den ersten zehn Monaten setzte die Regierung Bolsonaro ein neoliberales Wirtschaftsprogramm in Gang, das ganz im Sinne der Wirtschaft war. Es zielt auf eine Marktöffnung, auch im Hinblick auf den EU-Mercosur-Vertrag. Die Rentenreform wurde durch beide Häuser des Kongresses, das Abgeordnetenhaus und den Senat verabschiedet, die Privatisierung staatlicher Unternehmen wurde forciert und Arbeits- und Steuerreformen sind unterwegs im Kongress. Amazonien soll den Großagrariern und den Bergbauunternehmen weiter geöffnet werden.

Wirtschaftslage

Nach der Rezession in den Jahren 2015 (-3,5%) und 2016 (-3,3%), der Stagnation der Wachstumsraten 2017 (1,1%) und 2018 (1,2%) scheint sich im ersten Jahr der Regierung Bolsonaro nicht viel zu ändern. Im ersten Quartal 2019 fiel das reale BIP in Brasilien saisonbereinigt um 0,2 % gegenüber dem Vorquartal und im zweiten Quartal 2019 stieg es saisonbereinigt um 0,4 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Im Oktober 2019 wird ein Wachstum von 0,9% (vgl. FMI) für 2019 prognostiziert und bleibt weit hinter den Prognosen des Jahresanfangs zurück. Im September ist allerdings der Vertrauensindex der Industrieunternehmer (ICI) stark gestiegen. Für die Jahre 2020 bis 2023 wird ein Wachstum von über 2% vorhergesagt.
Die Inflationsrate liegt sehr niedrig, bei 2,6% im Jahr. Der Leitzins ist Ende Oktober von der Zentralbank zum dritten Mal seit Juli 2019 herabgesetzt worden und liegt jetzt bei 5,0 %.  Anfang 2017 war er noch auf 13%  gelegen. Auch diese geldpolitischen Maßnahmen laufen auf ein unternehmerfreundlicheres Investitionsklima hinaus. Die Arbeitslosigkeit lag im ersten Quartal 2019 bei 12,7% und ist im zweiten Quartal leicht auf 12% gesunken (vgl. IBGE). Dies ist nach wie vor sehr hoch und lässt vorläufig jedenfalls noch keine wesentliche Inlandsnachfragesteigerung erwarten.

Neoliberale Reformen

Die Rentenreform ist schließlich nach jahrelangen Diskussionen im Oktober von beiden Häusern des Kongresses angenommen worden. Eine ganze Reihe von Privilegien wird beschnitten. Die Mehrzahl der Brasilianer kann erst später in Rente gehen und muss auch länger Beiträge zahlen. Beamte und Beschäftigte in der Privatwirtschaft werden vergleichbar behandelt, wobei es Ausnahmen bei Lehrern und Bundespolizisten gibt, die auch weiterhin früher pensioniert werden können. Auch über die Behandlung des Militärs wird noch speziell verhandelt werden.
Durch die Reform soll das Defizit des Staatshaushaltes um 1% verringert werden. Mit ihr findet ein Systemwechsel von einem Verteilungs- auf ein Kapitalisierungssystem statt. Im Verteilungssystem bezahlen de facto die einzahlenden Arbeitstätigen die Rente der bereits Pensionierten. Im Kapitalisierungssystem bestimmt jeder Arbeiter über die Höhe seiner eigenen Rente. Der Einzahlungsbetrag wird durch öffentliche und private Träger verwaltet, ganz nach Wahl des Einzahlers. Das Modell richtet sich nach dem chilenischen Rentenmodell, bei dem das Geld durch private Träger verwaltet wird, die auch in die Finanzmärkte investieren können. Bei den Demonstrationen der letzten Monate in Chile ist das dortige Rentenmodell sehr stark kritisiert worden.
Anfang November fanden die bisher größten Auktionen von Offshore-Öl-  und Gas-Lizenzen statt, die über 17,5 Mrd. US$ in die  Staatskasse spülten. Die negativen Folgen von Öltransporten zeigen sich allerdings im Nordosten Brasiliens, wo ein Ölteppich seit September 2019 Hunderte von  Stränden verschmutzte und inzwischen auch Espirito Santo erreicht hat. Unklar ist allerdings nach wie vor, woher das Öl wirklich kommt. Die Regierung machte nichts oder wenig zur Aufklärung und Beseitigung des Öls und kam jetzt zum Ergebnis, dass ein griechisches Schiff mit venezolanischem Öl die Ursache des Ölpest ist. Satellitenbilder indizieren auch als mögliche Herkunft des Öls Bohrungen im Meer vor Brasilien. Für den Tourismus im Nordosten ist bereits in diesem Jahr die Ölpest ein Desaster.
Die Regierung legte ferner ein Gesetz zur Privatisierung des Elektrizitätsunternehmens Eletrobras vor. Weiterhin vorgesehen ist eine Verfassungsänderung zum Zwecke der Dezentralisierung des öffentlichen Haushalts und zur Festsetzung eines Ausgabenlimits der öffentlichen Hand. Im Zuge der Verwaltungsreform sind Lohnsenkungen und der Abbau von Arbeitsplatzgarantien im öffentlichen Sektor geplant. Durch die Flexibilisierung der Arbeitsverträge sollen staatliche Angestellte leichter entlassen werden können.
Die ebenfalls  vorgesehene komplizierte Steuerreform und Steuervereinfachung wurde seit Oktober aus taktischen Gründen hintangestellt, da die Spaltung der offiziellen Regierungspartei es schwieriger machte, Mehrheiten im Kongress zu finden. Daher beschloss die Regierung erst einmal ein Maßnahmenpaket im Kongress  bewilligen zu lassen, das eine Ausgabenminderung von 30 Mrd. Reais (6,5 Mrd €) zur Folge haben sollte.
Amazonien soll weiter den Interessen der Großagrarier und der Bergbauunternehmen geöffnet werden. Die Regierung strich Mittel für die Umweltbehörde IBAMA, deren Aufgabe genau darin bestand, die Abholzung Amazoniens zu verhindern und das Amazonasgebiet zu schützen. Entsprechend unternahm die Regierung keine wirksamen Maßnahmen, um die Brände einzuschränken, die dieses Jahr bis Oktober wesentlich verstärkt (plus 29%) im Vergleich zum Vorjahr wüteten. Außerdem hob sie ein am Amazonas und im Pantanal wirksames Dekret auf, das den Zuckerrohranbau in den dortigen Feucht- und Waldgebieten verbat. Somit stehen weitere Gebiete der Agrarlobby zur Verfügung.
Das Mercosur-Abkommen mit der Europäischen Union ist nach vielen Verhandlungsjahren im Juni 2019 unterschrieben worden. Zum Mercosur gehören Brasilien, Argentinien, Paraguay und Urugay. Es muss nun noch von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Die Regierung Bolsonaro wird ihre extrem umweltfeindlichen Positionen zu Amazonien, Regenwald und Klima modifizieren müssen, falls sie wirklich an diesem Vertrag interessiert ist. Diese bieten den europäischen Regierungen, die neben der ökologischen Kritik auch eine teilweise ablehnende Haltung der eigenen Agrarlobby zu überwinden haben, einen Grund, dem Abkommen nicht zuzustimmen.

Ausblick

Inwieweit sich die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Bolsonaro insgesamt durchsetzt, ist noch offen. Negative Konsequenzen einer solchen Politik zeigen sich in Ländern wie Chile und Ecuador, wo es massive Gegenbewegungen gegen die Folgen dieser Politik gibt, welche die sozialen Diskrepanzen unerträglich verschärft haben. Da Bolsonaro nach Auseinandersetzungen in der Regierungspartei im November beschloss, eine eigene Partei (Aliança pelo Brasil / Allianz für Brasilien) zu gründen, ist zur Zeit auch noch nicht klar, wie er im Kongress parlamentarische Mehrheiten findet.
Die Freilassung Lulas nach 580 Tagen Haft könnte der Opposition zu einer stärkeren Position verhelfen.

Ausgabe 160/2019