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Ein Freiburger in der Favela Wie ich Brasilien von unten erlebe

Aufgewachsen bin ich in Freiburg-Littenweiler und in Staufen im Breisgau, jetzt lebe ich in der Favela Tavares Bastos von Rio de Janeiro. Ein gewisser Kontrast lässt sich nicht leugnen. Wie kam es dazu?

Leben ist für mich Sammeln von interessanten Erfahrungen. Schon von klein auf zog es mich in die Ferne, auch deshalb wählte ich den Beruf des Journalisten, weil der dafür vergleichsweise viele Möglichkeiten bietet. So lebte ich sechs Jahre in Russland, zwei Jahre in den USA, zehn Jahre in China und jetzt seit Anfang 2013 in Brasilien. Immer wieder arbeitete ich auf gut dotierten Posten, etwa als Spiegel-TV-Reporter in Moskau, als Korrespondent des Stern in Peking oder als Geschäftsführer von Gruner + Jahr in Shanghai. Das hat mich aber nie davon abgehalten, immer wieder erneut das Weite zu suchen, auf eigenes Risiko, ohne zu warten, bis mich jemand entsendet.
So kam ich mit zwei Koffern in Rio de Janeiro an. Erste Aufgabe: Wohnungssuche – und das anderthalb Jahre vor der WM. In der begehrten Zona Sul, nahe zum Strand, dem Zuckerhut und der Jesus-Statue, liegen die Mieten mittlerweile höher als in Manhattan. An der Copacabana werden mir 20 Quadratmeter kleine Wohnklos für umgerechnet 1.000 Euro angeboten – ohne Nebenkosten, und die sind gewaltig in Rio, wo die Gebäude in besseren Vierteln mehrere porteiros haben, eine Mischung aus Wachmann und Hausmeister. Betrüger bieten mir Apartments an, die man angeblich erst besichtigen kann, wenn man die Kaution überwiesen hat.
Da kommt mir die Idee, in eine Favela zu ziehen, oft auch als Slum oder Armenviertel bezeichnet, also in eine der einfachen und ursprünglich illegalen Ansiedlungen. Hier lebt ein Drittel der Bewohner von Rio, meist Zuwanderer aus anderen Teilen Brasiliens, die sich die Mieten in den „offiziellen“ Häusern noch viel weniger leisten können als ich.
Schon immer ging es mir darum, die anderen Länder von innen und unten kennenzulernen. Deutsche Stammtische und Ausländergettos umgehe ich weiträumig. Aber kann man als Deutscher in einer Favela wohnen? Die Häuser liegen oft an den Hängen und stürzen bei Erdrutschen in die Tiefe, heißt es, und viele Favelas werden noch von Drogengangs beherrscht. 15-jährige Jungs in Flip-Flops und Bermudashorts ziehen mit russischen Kalaschnikows und American Rifles durch die Gassen – das habe ich mit eigenen Augen bei früheren Brasilien-Besuchen gesehen, als ich für Reportagen in solchen Gegenden unterwegs war. Andererseits: Für mich als Autor muss das doch ohne Ende Stoff zum Schreiben liefern.
Ich spreche darüber mit Anja Kessler, einer der besten deutschen Kennerinnen Rio de Janeiros. Sie kam 1990 hierher und arbeitete als Assistentin des brasilianischen Fotografen Gilson Ribeiro. Seit vielen Jahren wirkt sie als freie Fotografin und arbeitet gleichzeitig für das ARD-Studio in Rio. Sie schlägt mir vor, gemeinsam Bob Nadkarni zu besuchen, eine legendäre Persönlichkeit in Rio. Bob lebt hier seit den 1970er-Jahren, war Kameramann der BBC, Korrespondent, Dokumentarfilmer. Jetzt gehört ihm “The Maze” (englisch für „Labyrinth“), ein Guesthouse mit Jazz- und anderen Musikveranstaltungen – mitten in der Favela Tavares Bastos!
Es ist Samstagabend, und in der ganzen Favela kracht die Party. Mädchen in Miniröcken und coole Jungs, alle mit Bierflaschen in der Hand, bevölkern die Gassen. MPB, Música Popular Brasileira, traditionelle Musik mit Rock- und Reggae-Elementen, und internationale Hits dröhnen aus den Häusern. „Wäre dir das nicht zu laut?“, sorgt sich Anja. Ach, ich habe in China mit Baulärm rund um die Uhr gelebt – im Vergleich dazu ist diese Musik ganz angenehm.
Diese Favela sieht noch aufregender aus als alle, die ich bisher besucht habe, denn sie ist ein Labyrinth aus schmalen Gassen und engen Treppen. Ein Gebäude ist ans andere gebaut, quasi ein endloses Reihenhaus, nur dass die Bauten mal höher und mal niedriger ausfallen, die Dächer mal flach und mal schräg liegen, ein kreatives Durcheinander. Die Bauweise wirkt solide, es gibt keine Wellblechhütten, wie sie leider in manchen anderen Favelas noch existieren. Auch ist der Boden hier nicht so übersät mit den Exkrementen freilaufender Hunde und weggeworfenen Plastikbechern wie anderswo. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass diese Favela mit 6.000 Einwohnern relativ klein ist und die Müllcontainer für jeden in drei Minuten Fußweg zu erreichen sind.
Wir kommen bei Bobs Guesthouse an, dem “Maze”, von dem ich jetzt verstehe, woher es seinen Namen hat. Es gibt keine Klingel, weit und breit ist niemand zu sehen, aber die Tür ist nicht verschlossen. Wir gehen einfach in die Eingangshalle, auch die ist leer. Wie? Offene Türen in der Favela? Wo doch sonst in Rio ein Wachmann vor der Tür sitzt und jeder Eingang drei Schlösser hat. An den Wänden hängen Kunstwerke, Gemälde, die Bob Nadkarni selbst gemalt hat, wie mir Anja erzählt, Bilder, die abstrakt sind und doch Gesichter und Geschichten erkennen lassen. Er ist, so erfahre ich, einer der letzten universal gebildeten Menschen dieser Erde. Von ihm stammen die Kulissen für Stanley Kubricks Science-Fiction-Film “2001 – Odyssee im Weltraum”, er berichtete aber auch aus dem Bürgerkrieg im Libanon und kam dort beinahe ums Leben.
Ungehindert gelangen wir auf die Terrasse – und es glänzt in meinen Augen: Vor mir sehe ich die Guanabara-Bucht, den Zuckerhut, die Scheinwerfer der Schiffe und die Lichter der Millionenmetropole Rio de Janeiro – einen der schönsten Ausblicke der Welt.
In diesem Moment treffen Bob und seine brasilianische Frau Marluce ein, sie sind noch durch die Favela spaziert. „Die Portugiesen scheuten die Mühe, an den Hügeln zu bauen“, spottet der Brite. „Sie überließen die Hänge den Armen, sollten die selbst sehen, wie sie hier Unterkünfte aufgestellt bekommen. Darum ist hier in Rio alles verdreht: An den Orten mit der besten Aussicht, wo in anderen Ländern nur Millionäre wohnen, siedelte sich das einfache Volk an.“
Ich frage den 70-Jährigen mit weißem Bart und zerzaustem Haar, wie er als wohlhabender Brite hierherkam – ein Wohlstand übrigens, den der Hotelbesitzer geschickt zu verbergen weiß, denn er trägt kurze Hosen und ein farbverschmiertes T-Shirt, sein Markenzeichen als Maler, wie er lachend erklärt. „Ich lebte unten auf dem Asphalt, wie sie hier sagen, genauso wie die anderen Ausländer. Und wie diese hatte ich eine Hausangestellte, die meine Hemden bügelte. Eines Nachmittags fühlte sie sich nicht wohl, ich wollte sie nach Hause bringen. Aber mein Freund warnte mich: ‚Geh da nicht hoch – das ist eine Favela!‘” Mit schrillem Ton imitiert Bob die Angst in der Stimme. Er ging trotzdem. Und verliebte sich sofort in die Aussicht. Auch faszinierten ihn Land und Leute hier oben. „Das ist eine ehemalige Fazenda, die vor knapp hundert Jahren verlassen worden ist. Eine 98-Jährige lebte in den Überresten eines Melkstalls, sie war auf dieser Farm als Sklavin geboren worden. Es standen noch Steinhäuser, die Sklaven errichtet hatten.“ Es war 1981, als Bob das zum ersten Mal sah. Ohnehin brauchte er einen Platz zum Malen. Noch im gleichen Jahr baute er sich hier ein Atelier – und zog bald ganz nach oben.
Von der Kriminalität bekam er damals noch nicht viel mit: „Einmal klopfte bei mir einer aus einem besseren Viertel an die Tür und fragte, wo es den Stoff gibt. Ich verstand erst gar nicht, was er meinte.“ Ein Drogendealer arbeitete hier mit seinen Leuten auf eigene Rechnung, er gehörte zu keiner der großen Gangs. Doch eine von ihnen eroberte die Favela Anfang der 1990er-Jahre, und damit änderte sich das Leben völlig. Auch für Bob wurde es unerträglich: „Als Erstes erschossen sie den bisherigen Chefdealer. Dessen Familienangehörige überwältigten die drei Mörder, begruben sie lebendig und riefen in deren Favela an: ‚Die liegen erst eine halbe Stunde unter der Erde, wenn ihr euch beeilt, könnt ihr sie noch lebend ausbuddeln. Aber finden müsst ihr sie schon selbst.’ Von da an herrschte Krieg zwischen den verschiedenen Drogenbanden. Kinder zogen mit Maschinenpistolen durch die Gassen.“
Das Problem sei gewesen: Sobald eine Drogengang da war, kam auch die korrupte Polizei. Als Fernsehkollege hat er das sogar gefilmt: „Wir versteckten uns und konnten so aufnehmen, wie Polizisten zu den Drogenhändlern sagten: ‚Wenn ihr uns nicht genug von den Erlösen abgebt, erschießen wir ein paar Leute in eurer Favela.’ Sie nahmen die Früchte im Obstladen, ohne zu bezahlen, ließen sich gratis die Haare schneiden und riefen die anderen Polizisten an, sodass alle für einen kostenlosen Haarschnitt kamen.“
Bob zeigt auf den fünfstöckigen Betonklotz, der die Favela überragt: „Hier sollte ein Kasino entstehen, daraus ist aber nie etwas geworden, das Gebäude stand leer.“ Im Jahr 2000 gab der damals gerade ins Amt eingeführte Gouverneur von Rio, Anthony Garotinho, seine erste Pressekonferenz. Bob regte in einer Frage an, das leer stehende Gebäude als Hauptquartier der BOPE zu nutzen. Diese Elitetruppe mit dem Totenkopfsymbol ist wegen ihrer Brutalität gefürchtet, gilt aber als weniger korrupt, auch weil ihre Soldaten besser bezahlt werden als andere Polizisten. Am 28. November des Jahres marschierte die BOPE in der Favela ein, begleitet von einer Blaskapelle. Die Drogenbosse waren bereits zuvor in andere Teile Rios geflohen. So wurde die Favela Tavares Bastos „befriedet“, bevor es diese Kampagne der Regierung und diesen schrecklichen Ausdruck dafür gab. Nach dem Vorbild dessen, was hier erprobt wurde, entstand später die Befriedungspolizei, die seit 2008 mehrere Dutzend Favelas von den Gangsterbanden befreite. Leider geht es dabei nicht immer so unblutig zu wie in Tavares Bastos. „Verirrte Kugeln“ treffen Unbeteiligte, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, darunter viele Kinder.
Ich möchte mehr wissen und darüber berichten – und deshalb hier wohnen, wo das alles begonnen hat. Ich frage Bob nach den Möglichkeiten, hier zu leben. „Meine Frau hat eine Wohnung zu vermieten, 100 Meter von hier, ein ganz normales Haus in der Favela“, sagt er.  Was kostet das? 700 Reais im Monat – das sind zum damaligen Zeitpunkt 270 Euro.
Wir besichtigen das Apartment: eine Wohnküche mit einem Sofa, das eigentlich eine Matratze auf Stein ist, ein separates Schlafzimmer mit einem Wandschrank und einem gemauerten Bett. Dahinter finde ich ein kleines Badezimmer mit Toilette und Dusche – das Ganze erstreckt sich über etwa 60 Quadratmeter, mehr als alles, was ich bisher in Rio gesehen habe.
Das Kabelgeflecht vor dem Fenster wartet noch auf die Abnahme durch den TÜV. Den Fliesenboden mit seinen vier- und achteckigen Mustern hätte es in Deutschland nicht einmal in den 1970er Jahren gegeben. Der Putz der ursprünglich einmal weißen Decke verdunkelt sich langsam und bröckelt zum Teil ab. An der Decke des Badezimmers wächst Schimmelpilz. Nein, eine schöne Wohnung ist das nicht, aber sie ist sehr günstig, für Rio allemal – und ich bin hier mitten im echten brasilianischen Leben und werde viele spannende Geschichten hautnah miterleben. Zwei Tage später ziehe ich ein.
Ich gehe durch das Labyrinth der engen Gassen und Treppen der Favela, meiner neuen Heimat. Hier trainieren die UNO-Friedenstruppen für den Häuserkampf, habe ich mittlerweile erfahren. Es sieht gefährlich aus, wie in einem Film – und tatsächlich ist es eine Filmkulisse. Brasilianische Seifenopern wurden hier gedreht, und im Jahr 2007 der Spielfilm “Der unglaubliche Hulk”. Spezialeinheiten jagten das grüne Ungeheuer durch die Gassen von Tavares Bastos – fast wie einige Jahre vorher im echten Leben Sonderpolizisten die Drogengangster. Doch das Grauen zeigt sich von der netten Seite. Alle Bewohner grüßen sich gegenseitig, wie in Brasilien üblich mit erhobenem Daumen. Hühner gackern durch die Gassen. Eines Morgens kräht ein Hahn mit wunderschönen grünen Federn vor meiner Tür. Wohlgemerkt, ich lebe in Rio de Janeiro, einer Metropole mit mehr als sechs Millionen Einwohnern.
Direkt hinter meinem Haus führt eine steile Treppe zwischen den Häusern nach unten. Die Stufen enden an einem Gittertor. Ich höre Schreie. Als ich das Tor öffne, finde ich mich auf einem Sportplatz wieder. Mädchen und Jungen spreizen ihre Beine und strecken eine Hand nach vorne, trainieren mit einem Lehrer Karate.
Das Ausgangstor des Sportplatzes führt durch eine weitere enge Gasse mit Treppenstufen zu einem Platz, auf dem Kinder schaukeln und rutschen. Seit man hier nicht mehr um sein Leben fürchten muss und sogar Besucher von außen kommen, versuchen viele Bewohner ihr Glück mit kleinen Geschäften. In der Lavanderia, der „Wäscherei“, gebe ich meine schmutzige Kleidung ab. Die nette Besitzerin fragt mich nach meinem Namen und stellt sich selbst als Daluz vor.
Überallhin muss ich weniger als hundert Meter laufen, ich fühle mich wie in einem kleinen Dorf, aber mit gutem Service und ohne Spießigkeit. In der Padaria, der „Bäckerei“, verkaufen zwei Schwestern ab sechs Uhr morgens frische, warme Brötchen.
Die Energie für den Herd kommt hier nicht von einem Konzern wie E.ON oder RWE. Ein Mann schiebt mit Handwagen eine Gasflasche durch die Gassen und ruft im monotonen Takt „Alugas!“, die Abkürzung für Gasflasche aus Aluminium. Auf Zuruf verkauft er das Gas und montiert die Behälter auch, wenn er darum gebeten wird.
Alle paar Hauseingänge stößt man in der Favela auf eine Boteco, einfache Eckkneipen, die oft in die Häuser eingebaut sind, nach außen offen, klein wie eine halbe Garage, darin eine Theke und ein paar Plastiktische und –stühle. Manchmal sitzen nur zwei, drei Leute dort beim Bier, von denen einer der Wirt ist. An Wochenenden wiederum bilden sich davor Trauben mit Dutzenden von Leuten. Mittlerweile kenne ich fast jeden hier, man ist sofort eingeladen mitzutrinken, abwechselnd gibt jeder eine Flasche eisgekühltes Bier aus.
Niemand hier lehnt mich als Fremden ab, im Gegenteil: Die Leute finden es gut, wenn Ausländer in Favelas gehen oder sogar hier wohnen und damit zeigen, dass sie nicht die gleichen Vorurteile pflegen wie Angehörige der brasilianischen Oberschicht, von denen viele noch nie eine Favela betreten haben.
Man sieht den Häusern hier an, dass sie ohne Beteiligung eines Architekten erbaut wurden, meist von den Bewohnern selbst. Doch drinnen liegen Teppiche, laufen mehrere Breitbildfernseher und tippen die Bewohner etwas in ihre Computer.
Mein Nachbar Adriano jobbt bei Bobs Jazzfesten, mixt dort Caipirinha. Am Abend verdient er Geld als Motorradtaxifahrer, tagsüber studiert er Management. Nach dem Abschluss will er ein Internetunternehmen gründen. Adriana, eine andere Nachbarin, hat ihre Haare rot gefärbt und perfekt gezupfte Augenbrauen, kein Wunder, sie besitzt einen Schönheitssalon – in der Favela.
Ich möchte die Verhältnisse hier nicht idealisieren. Als Reporter bin ich viel in Rios Slums unterwegs und weiß, dass Favela nicht mehr gleich Favela ist. In einigen wird jede Nacht geschossen, andere sind friedlich. Im Norden Rios kann es passieren, dass sich dünne Kinder mit nackten Oberkörpern und schmutzbefleckten Hosen an einem festkrallen und um etwas zu essen betteln. In Tavares Bastos hingegen sind die Kinder nicht anders gekleidet als in Berlin oder auch in Freiburg. Diese Favela liegt nahe am Zentrum Rios, an Copacabana und Ipanema, die Bewohner arbeiten dort als Sekretärinnen, kellnern oder fahren Taxi. Vieles widerspricht den Stereotypen, die man von Favelas hat. Und es ist gut, das selbst zu erleben.
Adrian Geiges (www.adriangeiges.com) arbeitet als
Journalist und Dokumentarfilmer in Rio de Janeiro für den WDR und weitere Sender. Ferner schreibt er Reportagen für bekannte Magazine und Zeitschriften. Eine Rezension seines neuesten Buches „Brasilien brennt“ finden Sie auf Seite 38 dieser Ausgabe.

Ausgabe 150/2014