Ein sicheres und sauberes Rio de Janeiro?
Mit „Ordnungsschock“ und Mauern um Armenviertel - weg vom schlechten Image.
Der alte Mann schaut ängstlich in unsere Kamera. José Segio Rodrigues ist vor wenigen Augenblicken unsanft geweckt worden. Drei Polizisten standen vor ihm, als er unter einem Vordach auf der Avenida Rio Branco geschlafen hatte.
Ein Pappkarton diente ihm als Matratze, eine dreckige Decke als Schutz vor der Kälte. Ein ungemütlicher Morgen in Rio de Janeiro, es regnet. „Die kommen hierher mit unglaublicher Aggressivität. Wie Hunde behandeln sie uns, vertreiben uns wie ein Stück Vieh“, sagt uns José. Dann wendet er sich ab, seine Blicke sind müde, verzweifelt. Die Polizisten führen den 58jährigen in einen Bus, der ihn mit anderen Obdachlosen in eine Unterkunft bringt, wo er duschen und frühstücken kann. Anschließend wird man José Sergio Rodrigues und die anderen Männer, Frauen und Kinder wieder auf die Straße entlassen. Nächste Nacht werden sie sich wohl eine andere Bleibe suchen.
„Null Toleranz“ in Rio
„Choque de Ordem“ heißt die neue Parole in der cidade maravilhosa, der „wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro: Ordnungsschock. Die Verwaltung der Millionenmetropole meint damit ein hartes Durchgreifen, keine Toleranz mehr gegenüber kleinen – oder größeren – Gesetzesübertretungen. Morgens um fünf begleitet unser Kamerateam deshalb den Polizeieinsatz der Guarda Municipal im Zentrum der Stadt, bei dem Obdachlose aufgegriffen werden. Etwa 3.500 Menschen leben in Rio auf der Straße, ein Drittel davon sind Kinder unter 16 Jahren. Für sie alle stehen aber nur 500 Plätze in Unterkünften zur Verfügung. Mit anderen Worten: Rio geht mit neuer Härte gegen die Straßenbewohner vor, kann den allermeisten aber keine Alternative bieten. Die Polizei vertreibt die Menschen regelmäßig, löst damit aber nicht das Problem.{mospagebreak}
Bürgermeister Eduardo Paes und Gouverneur Sergio Cabral haben sich „Ordnungsschock“ auf ihre Fahnen geschrieben. Man will weg vom Image einer schmuddeligen und gefährlichen Metropole: Rio soll sicher und sauber werden. In den letzten Monaten wurden deshalb unzählige illegal errichtete Häuser, die meisten in den Armensiedlungen, dem Erdboden gleichgemacht. Nicht genehmigte Verkaufsstände im ganzen Stadtgebiet ebenso. Jeden Tag gibt es Kontrollen von Bussen und Minibussen, die illegal Personen befördern – 600 Fahrzeuge wurden in sechs Monaten bereits aus dem Verkehr gezogen. Dazu kommt ein hartes Durchgreifen gegen Falschparker oder gegen den Wirt, der zu viele Tische und Stühle auf dem Bürgersteig vor sein Lokal stellt. „Die Menschen müssen lernen, dass es Gesetze in unserem Land gibt und dass diese Gesetze auch eingehalten werden müssen“, drückt es Bürgermeister Paes aus. Die öffentliche Ordnung soll wieder hergestellt werden. „Sempre tem um jeitinho“, die typisch-brasilianische Art also, gegen hinderliche Auflagen, Bestimmungen und Gesetze einen eigenen Ausweg zu finden, gilt nicht mehr.
Mauern als „grüne Grenze“
In einigen Armenvierteln der Stadt ist die neue Politik besonders augenscheinlich. In Santa Marta zum Beispiel, einer Favela am Rande des Mittelklasseviertels Botafogo. Etwa 10.000 Menschen leben hier. Als wir die engen Gassen und Treppen am steilen Hang hinauf laufen, hören wir schon von weitem Betonmischmaschinen und sehen Bauarbeiter Zement schleppen. Santa Marta wird eingemauert. Drei Meter hoch und 634 Meter lang wird das Bauwerk um Hütten und Häuser, wenn es voll1endet ist. Die Mauer um Santa Marta soll den Wildwuchs weiterer illegal errichteter Behausungen beenden. Santa Marta darf horizontal, aber nicht mehr vertikal wachsen. Nach Ansicht der Regierenden ist die Mauer eine Art „grüne Grenze“, wie es Gouverneur Sergio Cabral im ZDF-Interview ausdrückt: „Sie ist keine Grenze zwischen armen und reichen Teilen der Stadt, sondern nur zwischen den Favelas und dem atlantischen Regenwald, sie sorgt also dafür, dass wir den Wald schützen.“ Dass Mauern generell auch eine hohe symbolische Kraft haben – wie die Berliner Mauer oder die Mauer in Palästina – ist für Cabral dabei unerheblich.
Auch die meisten Bewohner von Santa Marta scheinen nicht unglücklich zu sein über die Begrenzung aus Stein und Beton, denn schließlich ist sie nur Teil eines umfassenden Urbanisierungsprojektes für die Favela, das 22 Millionen Reais – etwa acht Millionen Euro – kosten wird: Bis 2010 werden in Santa Marta 250 neue Häuser auf Staatskosten gebaut, mehr als 2000 Bewohner sollen in ihren Häusern an legale Stromzufuhr und Abwasserentsorgung angeschlossen werden und seit einem Jahr erspart eine Schienenbahn, der Bondinho, den Bewohnern den mühsamen Aufstieg. Familie Figueiredo hat wegen der Mauer umziehen müssen. Die Stadt hat der Familie eine neue Sozialwohnung angeboten. Die hat jetzt im Gegensatz zu früher eine eigene Adresse in einer Straße mit offiziellem Namen und eine Hausnummer. Und die 150 Euro monatliche Miete sind auch bezahlbar. „Es ist ein neues Leben hier in Santa Marta“, sagt uns Mutter Josefa de Figueiredo, „die Kinder können völlig sorglos auf der Straße spielen. Es gibt keine Querschläger mehr so wie früher, als die Patronen über unseren Köpfen hinweg flogen. Das ist vorbei. Wir sind früher mit Schießereien eingeschlafen und mit Schießereien aufgewacht. Jetzt ist es total ruhig.“{mospagebreak}
Auf den Gassen in Santa Marta patrouilliert jetzt eine „Friedenseinheit“ der Polizei (UPP, Unidade Policial Pacificadora). Seit die Militärpolizei das Kommando über Recht, Gesetz und öffentliche Ordnung in dem Viertel übernommen hat, ist die Kriminalität um 80 Prozent gesunken. Die Drogenhändler des „Comando Vermelho“, die Santa Marta über Jahre terrorisierten, sind verschwunden. Mit solchen Erfolgen sieht sich die Politik auf dem richtigen Weg, mit Mauern, Polizei und sozialen Verbesserungen der Kriminalität und der Armut in Rio Herr zu werden. Sergio Cabral: „Es gibt sozusagen eine parallele Macht in dieser Stadt, das sind die Drogenbanden und Milizen. Und wenn diese Leute darüber entscheiden, wie Du Dich zu Hause zu verhalten hast, ob Du am Leben bleibst oder nicht, dann ist das für mich Terrorismus. Und wir machen nichts anderes als Schluss mit dieser Form von Terrorismus.“
Widerstand der Einwohner
Die Mauern haben dennoch zu Kontroversen in Rio de Janeiro und weit darüber hinaus geführt. Literaturnobelpreisträger José Saramago verglich sie mit der Berliner Mauer. In Rocinha, der größten Favela der Stadt, stößt der Steinwall ebenfalls auf Widerstand. Antonio Ferreira de Mello, Präsident der örtlichen Anwohnervereinigung, sagt uns: „Eine drei Meter hohe Mauer bedeutet zweifelsohne eine soziale Ausgrenzung, eine Trennung. Eine Politik, die Mauern braucht und damit die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränkt, ist für mich eine Politik der Apartheid. Das ist eine Isolierung, eine Gettoisierung.“ Der vier Kilometer lange Steinwall, der derzeit um Rocinha gezogen wird, soll nach langen Verhandlungen mit der Stadt nun nicht mehr drei Meter, sondern im Schnitt lediglich sechzig Zentimeter hoch sein – ein kleines Mäuerchen also. Denn Steine und Beton alleine lösen keine Armut und Kriminalität. „Die Favela ist ein sozialer Brennpunkt. Aber die Menschen, die hier leben, arbeiten für die Allgemeinheit, für das Wohl der Stadt. Deswegen wäre eine bessere Integration der Bewohner für alle in Rio gut. Wenn sich unsere Lebensqualität verbessert, werden auch die menschlichen Beziehungen in der ganzen Stadt besser“, so Antonio Ferreira de Mello.
Es wird nicht leicht, diese schöne Stadt von ihrem unschönen Image zu befreien. Jeden Tag geschehen in Rio de Janeiro im Durchschnitt 15 Morde. Im vergangenen Jahr lag die Zahl mit 5717 Toten zwar so niedrig wie seit 17 Jahren nicht mehr. Aber immer noch liegt sie zum Beispiel fast elf Mal höher als in New York. In einem weitestgehend rechtsfreien und unkontrollierbaren Raum wie einem Armenviertel ist zwar das Regierungsprojekt „Favela Bairro“ ein erster und wichtiger Schritt der Stadt, die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern. Es beinhaltet Investitionen in Höhe von 300 Millionen US-Dollar in die Infrastruktur, Sicherheit und öffentliche Versorgung – Geld, mit dem auch das Armenviertel Santa Marta oder die berühmte „Cidade de Deus“ inzwischen zu einer Art „Vorzeigefavela“ gemacht wurden. Aber insgesamt werden nur rund 70.000 Menschen in etwa 40 Favelas von „Favela Bairro“ direkt profitieren. In Rio de Janeiro aber lebt jeder fünfte Einwohner – über eine Million Menschen – in einem Armenviertel. Logisch, dass die Stadt den Gegenden den Vorzug gibt, die nahe an den Mittel- und Oberschichtvierteln der Südzone um Copacabana, Ipanema und Leblon liegen. Dort, wo Favelas nicht die Postkartenidylle der cidade maravilhosa trüben, werden die Bewohner wohl noch länger auf ein besseres Leben warten.
Nr. 140-2009 Herbst