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Gewerkschaftliches Engagement ist gefährlich

Doch, sagt Meire Alves dos Santos, ihr Job als Kassiererin sei ganz gut gewesen. Aber nun sei sie entlassen, „wegen der Krise, denk‘ ich“, und deshalb müsse sie sich jetzt schleunigst etwas anderes suchen. Jetzt in die Krise, ist das nicht schwer? „Man darf eben die Hoffnung nicht verlieren“, sagt sie. Nein, darf man nicht: Sie kriegt noch eine Abschlagszahlung und anschließend fünf Monate Arbeitslosengeld. Aber dann sollte sich die Hoffnung bitteschön erfüllt haben. Denn dann ist Schluss.


Ein ganz guter Job? Die Arbeitsverhältnisse im brasilianischen Einzelhandel sind ein Skandal – hunderttausendfache Skandale, die so üblich, so anhaltend, so alltäglich sind, dass sich nicht einmal Betroffene wie die 35-jährige Meire klarmachen, wie skandalös sie sind. Erst am Ende des Interviews ändert sie ihre Meinung: „Nein, das ist mies bezahlt, das langt nicht mal fürs Leben.“
1.115 Reais hat sie im Monat bei „Guanabara“ an der Kasse verdient, das sind 312 Euro – in einem Land, in dem beispielsweise eine U-Bahnfahrt 1,15 Euro und ein Liter Milch 1,38 Euro kosten. Die Billig-Supermarkt-Kette legt allerdings noch Naturalien drauf: Reis, Bohnen, Zucker, Nudeln und Milchpulver. Außerdem haben die 24 Filialen in und um Rio Kantinen, in denen den Angestellten Mittagessen ausgegeben wird. Normalerweise zahlt die Firma auch einen Fahrtkostenzuschuss, der bei Meire wegfiel, weil sie nahe an ihrem früheren Arbeitsplatz wohnt.
„Ja, sicher kann man auf die Toilette gehen“, sagt Meire. Aber die Zeiten sind festgelegt, „auch wenn die Blase manchmal anderer Meinung ist.“ Und die Wochenendarbeit? „Ich hab‘ oft am Sonntag gearbeitet, von 11 bis 17 Uhr, dafür gibt’s dann unter der Woche frei“, sagt sie. Sonntagszuschläge? Fehlanzeige.
Und wie lief die Kündigung ab? „Na ja, du kommst zur Arbeit und dann sagen sie dir, geh, tschau, tschau“, schildert sie ihren letzten Arbeitstag, „und das war’s dann. In meinem Fall nach fünf Jahren und sechs Monaten.“ In Brasilien ist es üblich, dass derjenige, der entlassen wird, sofort die Arbeit einstellen muss.
Die junge Frau sitzt im rappelvollen Wartesaal der Einzelhandelsgewerkschaft SECRJ von Rio, die ihren Mitgliedern ebenso wie nicht organisierten Arbeitnehmern Rechtshilfe anbietet, insbesondere bei der Feststellung der Abschlagszahlung, die in Brasilien bei Entlassung Pflicht ist. Was die anderen Wartenden sagen unterscheidet sich nicht sehr von Meires Erfahrung.
Zum Beispiel Rafael Serfim de Araújo: Er hat bei einem anderen Supermarkt-Imperium als Lagermeister gearbeitet. „Jaja, es gibt Kantinenessen und Krankenversicherung, aber dafür ziehen sie dir Geld ab“, sagt er. Von den 1.086 Reais Gehalt seien dann „nur Achthundert und ein paar Zerquetschte“ übriggeblieben. Für drei Sonntage Arbeit im Monat habe er nur Freizeitausgleich, aber keinen Zuschlag bekommen. Was ihn jedoch  am meisten wurmt, ist „nicht die Bezahlung, sondern die fehlende Anerkennung“. Vor allem im Moment der Entlassung – nach 14 Jahren – und Rafael ist 56.
Die „Gewerkschaft der Verkäufer im Einzelhandel Rio de Janeiros“ ist 1908 gegründet worden. Vor 50 Jahren setzte die Militärdiktatur den damaligen Gewerkschaftspräsidenten ab und einen Neuen ein. Kaum zu glauben: Dieser Agent der Diktatur hielt sich nicht nur im Amt als vor 30 Jahren wieder demokratische Verhältnisse einkehrten, sondern war so stark, dass nach seinem Tod die Gewerkschaft an seinen Sohn überging. Die Familie, die die Aktiva der Gewerkschaft plünderte, zugleich aber Schlachtereien und zwei Lufttaxi-Firmen besaß, verlor vor ein paar Jahren dank einer Intervention der Justiz ihre beherrschende Stellung.
Erst seit ein, zwei Jahren tut die Gewerkschaft wieder das, was eine Gewerkschaft tun soll: die Arbeitnehmer vertreten. „Mit dieser Geschichte ist es natürlich nicht leicht, Vertrauen zu erlangen“, sagt Márcio Ayer, der letztes Jahr zum Vorsitzenden gewählt wurde. 400.000 Menschen arbeiten in Rios Einzelhandel, aber mehr als 6.000 Mitglieder hat die Gewerkschaft nicht.
Wie Rios Einzelhändler mit ihren Leuten umspringen kann man aus einer Zahl schließen, die Ayer nennt: 63,9 Prozent aller Jobs im Einzelhandel werden innerhalb eines Jahres neu besetzt, 41,4 Prozent durch Entlassung. Und was sind die klassischen Konflikte im Einzelhandel? Die Soziologin Carolina Gagliano, die für ein gewerkschaftsnahes Forschungsinstitut arbeitet, nennt schnell auch die Klagen, die Meire und Rafael hervorgebracht haben: die nicht gezahlten Sonntagszuschläge, die Überschreitungen der gesetzlichen Wochenarbeitszeit von 44 Stunden, das Toilettenverbot für Kassiererinnen.
Hinzu kommen schwarze Listen, auf den Arbeitnehmer stehen, die sich mit der Gewerkschaft einlassen. Viele Verkäuferinnen und Verkäufer bekommen kein Gehalt, sondern arbeiten ausschließlich auf Kommissionsbasis und werden gefeuert, wenn sie zu wenig Umsatz bringen. „Frauen und Schwarze verdienen weniger“, sagt Gagliano, „und schwarze Frauen am allerwenigsten.“
Gagliano führt noch Ungeheuerlicheres an: „In Schuhgeschäften ist es üblich, dass der Wert der Schuhe, die im Schaufenster ausbleichen und nicht mehr verkauft werden können, auf alle Verkäufer umgelegt wird.“ Wie bitte? Als Abzug vom Gehalt? „Ja, oder auch, wenn zum Beispiel irrtümlich zwei linke oder zwei rechte Schuhe geliefert wurden!“
Eine Modekette zwinge die Verkäuferinnen, die Modelle zu kaufen und im Geschäft zu tragen – „und zwar immer die neueste Kollektion“. Als die Gewerkschaft das auf ihrer Facebookseite veröffentlichte, hätten das fünf Verkäuferinnen mit einem „like“ kommentiert. Alle fünf seien entlassen worden.
Der Unternehmensverband Fecomércio wollte auf Anfrage zu keinem der Vorwürfe Stellung nehmen.

 

Ausgabe 154/2016