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Kampf ums Wasser

Christine Wollowski, Salvador da Bahia

 

Die Bewohner des Quilombo Rio dos Macacos im Großraum von Salvador da Bahia wollen ihre traditionelle Lebensweise bewahren. Doch damit stehen sie der brasilianischen Marine im Weg. Per Gerichtsbeschluss ist ihnen die Nutzung der Gewässer untersagt


Quilombolas sind Fischer und Bauern. Das waren sie schon immer. Die Nachfahren versklavter AfrikanerInnen haben das Recht auf ein Leben in ihren angestammten Gebieten, nach ihren traditionellen Sitten und Gebräuchen. So steht es in der brasilianischen Verfassung. Im Quilombo Rio dos Macacos bei Salvador da Bahia bemüht sich die brasilianische Marine den Quilombo-BewohnerInnen den Zugang zum Wasser gerichtlich zu verbieten.
Rosimeire sieht den Fluss täglich, seit Kindertagen hat sie hier geangelt, gebadet, Wasser geschöpft. Die Bambusangelrute hängt noch in ihrer Küche, doch im Gefrierschrank liegen keine Fische mehr. Im Oktober 2020 hatte eine Richterin per einstweiliger Verfügung entschieden, dass weder Rosimeire dos Santos, noch sonst ein Mitglied der mehr als 100 Familien der Gemeinschaft der Quilombolas vom Rio dos Macacos sich dem gleichnamigen Fluss oder dem Stausee auch nur nähern darf. Andernfalls droht ein Bußgeld von umgerechnet rund 150 Euro für die Privatperson und rund 8500 Euro für die Vereinigung der Quilombolas. Bewirkt hatte diese Verfügung die brasilianische Marine.
Quilombolas sind Nachfahren von versklavten Menschen, die weiterhin in ihren traditionellen Gemeinschaften leben. Die Quilombolas vom Rio dos Macacos sind die Enkel und Urenkel der Sklaven von drei Plantagen im Großraum der Millionenstadt Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Ihre Vorfahren waren über Generationen leibeigene Landarbeiter, Kakaopflücker, Köchinnen, Putzfrauen, Wäscherinnen, Kinderfrauen. Lohn bekamen sie keinen. Allenfalls durften sie sich Lehmhäuschen auf dem Farmgelände bauen, zur Selbstversorgung im Fluss angeln und in ihrem Garten Maniok, Bananen und andere Früchte anbauen. Selbstversorgung praktizieren sie bis heute. Ihre Pflanzungen sehen im 21.Jahrhundert fast unverändert aus, die Lehmhäuser sind allerdings fast alle durch Backsteinbauten ersetzt. Davor blühen Rosen und Nelken, hängen Mangobäume voller Früchte. Auf den Feldern sprießt Mais, üppige Bananenstauden stehen neben dunkelgrün leuchtenden Maniokpflanzen. Mit den Pflanzungen, den gewundenen Lehmwegen und den kleinen Häuschen wirkt der Quilombo wie ein idyllisches Überbleibsel aus alten Zeiten.
Mehr als 200 Jahre leben die Quilombola-Familien schon auf dem fruchtbaren Land vor den Toren der Großstadt Salvador, dort wo heute die Vorstadt Simões Filho beginnt. Der letzte Gutsherr der Plantage Macacos, Coriolano Bahia hatte ihnen die Parzellen, die sie seit Generationen bewirtschafteten, als eine späte Wiedergutmachung ihrer Leistungen übertragen wollen. Doch er hatte reichlich Grundschulden beim Staat aufgehäuft. So wurde er 1916 enteignet, bevor die Schenkung offiziell registriert werden konnte. In den 1960er Jahren überschrieb die Regierung die Ländereien der Marine, die ganz in der Nähe die Militärbasis von Aratu baute. Für deren Wasserversorgung im Notfall, so hieß es, errichtete sie eine Staumauer im Fluss.
Ab 1971 beginnt, so klingt es in den Erzählungen der Quilombolas, mit der Errichtung der Wohnsiedlung Vila Naval da Barragem für Marineangehörige ein Krieg. „Soldaten überfielen unsere Häuser, rissen den Maniok aus unseren Pflanzungen und verprügelten uns, sogar Frauen und Kinder“, sagt Olinda Oliveira, die damals selbst fast noch ein Kind war. Militärs versteckten sich im Wald, um den Frauen aufzulauern, sie zu bedrängen oder gar zu vergewaltigen. „Wir mussten einen Ausweis tragen, der uns als „Eindringlinge“ kennzeichnete, und der jährlich zu erneuern war“, erinnert sich die heute 63Jährige. Frei bewegen konnten sie sich trotzdem nicht. Wachtposten verweigerten Kindern den Durchgang, die zur Schule in die nächste Stadt wollten, hielten Ärzte auf, die Notfälle im Quilombo versorgen wollten, manchmal verwehrten sie den Zutritt auch einem Anwalt oder Vertretern einer NGO. „Wegen der Militärs konnte ich nicht die Schule besuchen“, stellt die 43jährige Rosimeire dos Santos in sachlichem Ton fest. Sie steht vor ihrem unverputzten Backsteinhaus, dessen Fenster mit schweren Eisengittern gesichert sind. „Die sind notwendig, weil wiederholt Militärs nachts in unsere Häuser eingedrungen sind“, sagt sie, und fügt hinzu: „Selbst mit den Gittern kann ich keine Nacht richtig schlafen“. Mehr als die Hälfte der einst 300 Familien sei in umliegende Stadtviertel weggezogen, um den Aggressionen zu entgehen.
Es ist ein ungleicher Kampf, der bis heute kaum Öffentlichkeit findet. Auf der einen Seite bewaffnete Soldaten, Angehörige der angesehensten Klasse des brasilianischen Militärs, die in der acht Kilometer entfernten Militärbasis von Aratu regelmäßig den brasilianischen Präsidenten oder andere hochgestellte Persönlichkeiten zu Besuch haben. Auf der anderen Seite Enkel von Sklaven, die kaum lesen und schreiben können, und die auf der Polizeiwache eingeschüchtert werden, wenn sie Anzeige erstatten wollen. „Wir haben uns immer wieder um einen Gesprächstermin beim Gouverneur von Bahia bemüht, aber leider antwortet er nicht auf unsere Anfragen“, sagt Rosimeire dos Santos.
Im Jahr 2009 erwirkte die Marine einen Gerichtsbeschluss, der sie offiziell zur – auch gewaltsamen - Räumung des Geländes ermächtigte. Hunderte von Männern seien daraufhin in das Quilombola-Gebiet eingedrungen, hätten ihre Waffen auf die Bewohner gerichtet und deren Lehmhäuser zerschlagen, erzählt Rosimeire. „Durch ihre soziale Herkunft sind Richter häufig Erben von Besitztümern und Farmland – die mangelnde soziale Vielfalt unter Vertretern der Judikative beeinflusst deren Entscheidungen“, kommentiert Anwältin Adriane Ribeiro. Laut dem brasilianischen Grundgesetz haben Nachfahren von Sklaven und deren Gemeinschaften ein Anrecht auf Besitztitel für das von ihnen besetzte Land. Anthropologen des Incra-Instituts für Landreform untersuchen die Berechtigung der jeweiligen Ansprüche und vermessen die Größe der Gebiete. Nach dem Räumungsurteil suchten die Bewohner der Gemeinschaft vom Rio dos Macacos Hilfe, allen voran Rosimeire dos Santos und Olinda Oliveira. So fanden sie zur ATR, einer Anwaltsvereinigung, die sich vor allem mit Landrechtsfragen beschäftigt, und der auch Adriane Ribeiro angehört.
„Der Landbesitz ist ein Mittel, um neben dem reinen Überleben die kulturelle Identität der Quilombolas zu garantieren“, erklärt sie. Beides, der Besitztitel für ihre Gebiete sowie der Schutz der eigenen Identität, sind in der brasilianischen Verfassung aus dem Jahr 1988 verankert. Binnen sechs Jahren, so hieß es damals, sollten alle traditionellen Gebiete vermessen und registriert werden. Tatsächlich sind bis heute nur wenige Prozent offiziell überschrieben. „Die Politiker sorgen nicht dafür, dass die Gesetze eingehalten werden“, urteilt Adriane Ribeiro.
Im Jahr 2015 bestätigt das Gutachten des Incra, der Quilombo Rio dos Macacos umfasse 301 Hektar. Doch dessen Bewohner müssen sich auch danach weiter identifizieren, wenn sie an der Wache der Militärsiedlung vorbei wollen. Nicht immer werden sie durchgelassen. Das Recht auf Bewegungsfreiheit sei nicht das einzige Grundrecht, das ihnen vorenthalten würde, berichten sie. Der verwehrte Zugang zum Wasser sei lebensbedrohlich. Aber auch ihr Recht auf Sicherheit der Person, auf Gesundheitsversorgung und würdigen Wohnraum würde durch die Angehörigen der Marine verletzt. Die Mitglieder der Quilombola-Gemeinschaft erzählen von niedergeschlagenen Verwandten und von anderen, die mangels medizinischer Versorgung ihren Krankheiten erlegen seien. Belegen können sie die Vorwürfe nicht. Auf Nachfrage gibt die Presseabteilung der 2. Division der Marine an, es seien seit sieben Jahren keinerlei Gewalttaten verzeichnet. Ältere Fälle seien ordnungsgemäß verfolgt worden. Sämtliche Anträge auf die Einfuhr von Medikamentenlieferungen oder medizinischer Versorgung ins Quilombolagebiet seien bewilligt worden, allein im Dezember 2020 in 69 Fällen.
Die Anwaltsvereinigung ATR beantwortet diese Angaben mit Gegenbeispielen, die belegbar sind. Etwa dem nächtlichen Eindringen bewaffneter Soldaten ins Gebiet der Quilombolas im August 2020. Darüber sei eine Anzeige bei der Polizei erstattet worden, bislang ohne Ergebnis. Und sogar mitten in der Corona-Pandemie hätten Mitarbeiter der öffentlichen Gesundheitsversorgung sich beim Gesundheitsministerium von Bahia über die Schwierigkeiten beim Zugang zum Quilombo beschwert.
Tatsache ist: Die Kinder laufen täglich fünf Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Schule und ebenso viele wieder zurück. Die Frauen füllen ihre Eimer an einer weit entfernten Wasserstelle, zu der sie einen steilen Pfad hinabsteigen müssen. Am Stausee, wo sie immer Fische gefangen haben, verkündet ein weißes Schild mit großen Lettern: „Eigentum der Marine“.
Für eine wie auch immer geartete Nutzung des Wassers im Stausee lägen keinerlei Hinweise vor, erklärt die Marine. Rechtsanwältin Ariane Ribeiro sagt: Die traditionelle Nutzung des Stausees und der Flüsse durch die Quilombolas sei sogar im RTID-Dokument belegt, eine der Grundlagen für die Vermessung des Gebiets durch das Institut für Landreform Incra. Ribeiro hatte sofort Einspruch gegen die einstweilige Verfügung eingelegt, der wurde zunächst abgelehnt und später nach einer Neubeurteilung der Entscheidung durch mehrere Richter, aufgehoben. Doch die Marine ging sofort in die nächste Instanz. Dabei haben die BewohnerInnen des Rio dos Macacos  ihren Landtitel im Juli 2020 sogar bekommen. Allerdings nur über 104 Hektar anstatt 301. Unter einem Präsidenten, der angekündigt hatte, er werde „keinen Zentimeter“ Land an Quilombolas oder Indigene überschreiben, kann sogar das als Erfolg gewertet werden. Eine Nachfrage, warum der Besitztitel sechs Monate später in der zuständigen Notarkanzlei noch nicht registriert ist, lässt die Notarin unbeantwortet.
Der Lehmboden leuchtet golden in der Abendsonne. Aus Rosimeires Haus duftet es nach gekochten Süßkartoffeln vom eigenen Feld. Zwei Nachbarsmädchen spielen Hüpfekästchen auf dem Weg. Rosimeires Mutter gießt ihre Pflanzen mit dem Wasser, das ihre Tochter auf dem Kopf hergetragen hat. „Das ist ihre Therapie, seit mein Vater gestorben ist. Die ständige Gewalt durch die Soldaten hat im Jahr 2015 zu einem tödlichen Herzanfall geführt“, erklärt Rosimeire. Es ist ihr anzusehen, wie tief sie der Verlust des Vaters getroffen hat. „Wir werden nie aufhören zu kämpfen“, sagt sie mit Nachdruck, „unsere Eltern haben diese Welt für uns bewahrt und wir werden sie für unsere Kinder verteidigen.“ Sie ruft ihre Töchter ins Haus, wenig später folgt die Mutter ihr nach. Auch die Nachbarn ziehen sich in ihre Häuser zurück, der eben noch belebte Weg leert sich innerhalb von Minuten. „Nachts verstecken sich Soldaten hier im Wald hinter dem Haus“, erklärt Rosimeire, „sie tragen schwarze Kapuzen über dem Kopf und sind bewaffnet“. Über eine NGO bekamen sie Spenden, um Kontrollkameras und Straßenlaternen auf dem Weg aufzustellen: Die Finanzmittel der Gemeinschaft sind knapp, die meisten Familien leben von den Erträgen ihrer Felder. Aus Angst vor Überfällen schließen sich meist mehrere Familien zur Feldarbeit zusammen. Rosimeire verlässt das Haus grundsätzlich nie allein, auch nicht, wenn sie nur innerhalb des Quilombos unterwegs ist. „Ich weiß, dass sie mich aus dem Weg haben wollen“, sagt sie, „schützen kann mich eine Begleitperson auch nicht, aber immerhin kann sie mit dem Handy filmen, falls etwas passiert.“ Dann schließt sie die Türen und die Eisengitter, legt den Riegel vor und dreht den Schlüssel im Vorhängeschloss.

Ausgabe 164/2021