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Make Brazil great again?

Corona-Krise, dramatisch steigende Staatsverschuldung und jetzt auch noch der Verlust des Vorbilds Donald Trump. Droht Jair Messias Bolsonaro nun etwa ein dunkler politischer Winter?
Das Jahr 2020 wird Jair Messias Bolsonaro sicherlich nicht als besonders gutes in Erinnerung bleiben. Noch weniger die vergangene Woche. (Ich schreibe dies am Tag nach der Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten und wenige Tage, nachdem die Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro eine Anklageschrift gegen Bolsonaros Sohn Flávio an das zuständige Gericht weitergereicht hat.

Die Niederlage seines Idols Donald Trump trifft Bolsonaro hart. Nicht nur hatten er und seine Söhne, allen voran Eduardo, der Beinahe-Botschafter Brasiliens in Washington, offen für Trumps Wiederwahl Werbung gemacht. Zuletzt hatte man US-Außenminister Mike Pompeo in Roraima gegen den venezolanischen Diktator Nicolás Maduro wettern lassen. Dabei ging es weniger um die US-amerikanischen Beziehungen zu Brasilien, sondern darum, die Stimmen von Exil-Venezolanern in Florida für Trump zu gewinnen.
Trump und Bolsonaro - das war von Anfang an eine unerfüllte Liebesbeziehung gewesen. Auf Bolsonaros „Trump, I love you“ hatte dieser nie reagiert. Und Bolsonaro war es nicht gelungen, bei Trump etwas für Brasilien herauszuholen. Die Quoten und Zölle auf brasilianische Produkte hat Trump natürlich nicht aufgehoben, trat er doch für „America first“ an. Verstanden hat das der Bolsonaro-Clan, der die US-amerikanische Südstaatenmentalität liebt, ohne Englisch zu sprechen, wahrscheinlich nicht.
Deprimierend muss Trumps Wahlniederlage auch auf viele Bolsonaro-Fans wirken. Während des tristen Corona-Jahres 2020 sah man sie regelmäßig sonntags vor dem Präsidentenpalast auf der Platz der Drei Gewalten demonstrieren, manche eingehüllt in eine US-amerikanische Flagge. Derweil verkauften Straßenhändler Corona-Masken mit dem Bolsonaro-Konterfei und T-Shirts, auf denen Trump und Bolsonaro gemeinsam als Rambo-Figuren posierten. „Make Brazil great again“ war darauf zu lesen.
Es ist nicht neu, dass in Brasilien das Interesse der USA an Südamerika überschätzt wird. Das entspringt wohl der Sehnsucht, sich an der Seite des erfolgreichen, großen Bruders im Norden sonnen zu dürfen. Jair Messias Bolsonaro hatte seinen Anhängern diese Illusion verkauft und damit bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 kräftig gepunktet. Der „Tropen-Trump“, der eher dem frustrierten Capitão Nascimento aus „Tropa de Elite“ als dem überheblichen Immobilienmagnaten aus New York gleicht, steht jetzt vor dem Scherbenhaufen seiner blinden Gefolgschaft gegenüber Trump.
Im Vertrauen auf einen guten Handels-Deal mit Trump hat Bolsonaro die Europäer mehrfach vor den Kopf gestoßen. Deren Drohungen, den Mercosul-EU-Vertrag wegen Brasiliens laschem Schutz der Urwälder platzen zu lassen, schlug Bolsonaro leichtfertig in den Wind. Denn im Stillen setzte er auf einen besseres Handelsvertrag mit den USA. Daraus wird unter dem Multilateralisten Joe Biden nichts, und auch die Träume, gemeinsam mit Trump die Bodenschätze der Amazonasregion zu fördern, sind geplatzt. Stattdessen wird sich Bolsonaro nun einer Allianz aus US-Amerikanern und Europäern stellen müssen, die auf den Schutz der Amazonaswälder drängen.
Trump und Bolsonaro - die beiden Rechtspopulisten haben sich über das Jahr 2020 ein Wettrennen darüber geleistet, wer schlechter auf die Corona-Krise reagiert. Letztlich war es beiden zu umständlich, sich wirklich mit dem Thema zu beschäftigen. Von Trump kopierte Bolsonaro die Idee, das Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wunderwaffe im Kampf gegen Covid-19 anzupreisen. Gepaart mit der Unsitte, als mutmaßliches Alpha-Männchen auf Schutzmasken verzichten zu können, zeichnete den Weg ins Verderben vor. Brasilien steuert mittlerweile auf 170.000 Corona-Tote zu.
Und noch sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise nicht voll zu spüren. Doch wenn die staatlichen Hilfsgelder Ende des Jahres auslaufen, wird sich das wahre Ausmaß der ökonomischen und sozialen Konsequenzen zeigen. Zudem stellt sich die Frage, wie Brasilien die rasant steigenden Staatsschulden in den Griff bekommen will. Vermutlich werden die staatlichen Devisenreserven, aufgehäuft unter der Linksregierung von Lula da Silva, herhalten müssen, um dringend benötigte Konjunkturprogramme zu finanzieren.
Der Stern des 2019 als Superminister für Finanzen und Wirtschaft gestarteten Paulo Guedes verblasst derweil zusehends. Bisher konnte Guedes kein überzeugendes Konzept vorlegen, wie die für Anfang 2021 erwartete Massenarbeitslosigkeit aufgrund der Corona-Krise zu bewältigen ist. Auch bei den Privatisierungen der angeblich maroden und verfilzten Staatsbetriebe kommt Guedes nicht voran. Angesichts der derzeit angeschlagenen brasilianischen Wirtschaft finden sich aktuell kaum Interessenten, die das Risiko von Investitionen in den angeschlagenen südamerikanischen Riesen eingehen würden.
Denn der Real hat im Verlauf des Corona-Jahres 2020 rund 40 Prozent seines Wertes gegenüber dem Euro und Dollar eingebüßt. Wohin die Reise von hier aus geht, ist ungewiss. Der dramatische Wertverlust wird Brasilien jedenfalls aus den weltweiten Top-10 der größten Volkswirtschaften werfen. Voraussichtlich rutscht das Land bis auf Platz 12. ab. Wie  bereits oben erwähnt - 2020 wird nicht als besonders gutes Jahr für Bolsonaro und Brasilien in Erinnerung bleiben.

Noch kein Ende in Sicht

Andererseits ist es verfrüht zu glauben, dass man jetzt bereits Anzeichen für das Ende der politischen Karriere des Ex-Militärs erkennen könnte. Parallelen zu Donald Trump und den USA greifen hier zu kurz. Zum einen verfügen Brasiliens Parteien nicht über vergleichbare Organisation wie die Republikaner und Demokraten in den USA. Statt zwei starke Parteien zu haben, fragmentiert sich die brasilianische Parteienlandschaft immer mehr. Das gilt sowohl im linken wie im rechten Spektrum. Im ersteren fehlt die einst einbindende Kraft der PT und Lula da Silva, während das gesittete rechte Spektrum keine Führungspersönlichkeit aus den Reihen der PSDB oder der DEM, also der ehemaligen PFL, mehr vorweisen kann.
Bolsonaro selber ist Zeuge dieser Fragmentierung. In den 30 Jahren als Parlamentarier diente er in rund zehn Parteien. Nun ist es ihm überraschend verwehrt geblieben, seine eigene „Aliança pelo Brasil“ ans Laufen zu bekommen. Gerade einmal ein paar tausend Unterschriften wurden vom Wahlgerichtshof bisher akzeptiert. So wird Bolsonaro wohl seinen Söhnen folgen, die es sich bereits in der nächsten etablierten Partei bequem gemacht haben: den Republicanos.
Der derzeit parteilose Bolsonaro unterstützt Kandidaten der Republicanos bei der Kommunalwahl Mitte November, wie Celso Russomanno in São Paulo und Marcelo Crivella in Rio de Janeiro. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels waren die Chancen der beiden Kandidaten auf einen Sieg eher gering. In beiden Städten hat der Präsident zuletzt deutlich an Beliebtheit verloren. Ob das mit seinem Corona-Missmanagement oder dem Auslaufen der Corona-Hilfen zusammenhängt, ist nicht sicher.
Erstaunlich wenig Widerhall in der öffentlichen Meinung scheinen jedenfalls die juristischen Probleme des Bolsonaro-Clans zu finden, allen voran Flávio Bolsonaros Verwicklungen in den „Rachadinhas“-Skandal in Rio de Janeiros Landesparlament Alerj. Anfang November hatte die Staatsanwaltschaft von Rio ihre Klageschrift an das zuständige Gericht TJRJ weitergereicht.
Dieses muss nun prüfen, ob der Senator und Präsidentensohn wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Veruntreuung, Unterschlagung und Geldwäsche angeklagt wird. Ebenfalls könnte der langjährige Handlanger des Bolsonaro-Clans Fabrício Queiroz sowie 15 weitere Personen angeklagt werden. Über Jahre soll ein Dutzend Assistenten zum Schein in Flávios Abgeordnetenbüro angestellt gewesen sein. Dafür sollen sie bis zu 80 Prozent ihres Gehalts an die Bande zurückgegeben haben. Die Ermittler gehen davon aus, das rund 6 Millionen Reais an öffentlichen Geldern veruntreut wurden.
Zwar ist Flávio nicht der einzige Parlamentar, der Mitte 2018 ins Fadenkreuz der Ermittler geriet. Gegen mehr als die Hälfte der Alerj-Abgeordneten wird ermittelt. Doch Flávio und seine Familie sollen kurz vor der Präsidentschaftswahl 2018 dafür gesorgt haben, dass die polizeilichen Ermittlungen nicht an die Öffentlichkeit gerieten. Als die Bombe dann kurz nach Bolsonaros Wahlsieg platzte, machte sich der Clan auf, die weiteren Ermittlungen zu blockieren.
So richtet sich das Augenmerk des Präsidenten seit zwei Jahren darauf, seinen Söhne, allen voran Flávio, vor der Justiz zu beschützen. Dafür hat Bolsonaro sogar seinen Justizminister Sérgio Moro ziehen lassen. Denn der als Anti-Korruptionsrichter gefeierte Moro weigerte sich, für Bolsonaro die Leitung der Bundespolizei Polícia Federal in Rio de Janeiro umzubesetzen. Flávio, der noch vor der Wahl 2018 gemeinsam mit seinem Vater Jair das Ende der parlamentarischen Immunität gefordert hatte, um korrupte Politiker hinter Gitter zu bringen, pocht seitdem vehement darauf, aufgrund seiner Immunität als Senator vor Strafverfolgung sicher zu sein.
Noch erstaunlicher als der Fakt, dass der harte Kern an Bolsonaro-Anhängern immer noch zu ihm hält, ist die Tatsache, dass sich Brasiliens Opposition nicht bewegt, um Bolsonaro politisch entgegenzutreten. Im Senat setzt sich nicht einmal die Opposition dafür ein, dass Flávio das Amt entzogen und er damit von der Justiz belangt werden kann. Der Korpsgeist reicht - das muss man erstaunt feststellen - von den notorischen Hinterbänklern über zynische Berufspolitiker bis hin zur Opposition.
So sitzt Bolsonaro, anders als sein soeben gefeuertes Idol Donald Trump, derzeit fest im Sattel. Die Unterstützung des Centrão hat er sicher. Und damit eine Sperrminderheit gegen ein mögliches Impeachmentverfahren. Dafür muss er ein weiteres Versprechen aus dem Wahlkampf 2018 opfern: das des rein nach technischen Kompetenzen besetzte Kabinett. Neben den bereits zahlreich vertretenen Militärs gesellen sich nun wieder politische Figuren, die für das alte, korrupte Politsystem in Brasília stehen. Sie sind die wirklichen Gewinner dieses auch so verrückten Corona-Jahres 2020.

Thomas Milz lebt und arbeitet als Journalist in Rio de Janeiro.

Ausgabe 162/2020