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Menschenrechte in Brasilien? Weiterhin Fehlanzeige

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva erhält am Ende der zweiten Amtszeit wegen seiner Politik geradezu überschwängliches Lob aus Europa, darunter Ländern wie Deutschland, sowie internationale Ehrenpreise.

Spaniens Ministerpräsident und amtierender EU-Ratspräsident José Zapatero, nennt Lula „ehrlich, integer und bewundernswert, ein Beispiel für alle Politiker.“Auch gemäß den Wertekriterien des jüngsten Weltwirtschaftsforums von Davos macht Lula offenbar alles richtig – und wird mit dem „Global Statesmanship Award“ geehrt. Hintergrund der Auszeichnung sei die hervorragende Art, in welcher der Präsident das Land seit acht Jahren führe. Europäische Parteien, darunter die deutschen Grünen, betonen ausdrücklich die „fortschrittliche Regierungspolitik“ Brasílias, die zudem nicht selten als „links“ klassifiziert wird.
Derartige Einschätzungen stehen in interessantem Kontrast zu den Analysen brasilianischer, aber auch ausländischer Menschenrechtsexperten. So konstatiert der deutsche Lateinamerikawissenschaftler Rüdiger Zoller in einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung, dass Brasilien auch unter Lula kein Rechtsstaat sei – und nie ein Rechtsstaat war. Unter Hinweis auf den Abgeordneten- und Parteienkauf-Skandal „Mensalão“ argumentiert Zoller, dass politische Korruption Teil des Systems sei, und nicht die Ausnahme. „Weiterhin prägen klientelistische Netzwerke und persönliche Beziehungen die Politik, nicht Gesetze und Transparenz. Der notwendige Interessenausgleich erfolgt nicht gemäß der Verfassung sondern ‚informell‘, bei einem Cafézinho. Der hohe Grad an sozialer Ungleichheit in Brasilien ist die Folge dieser Machtstrukturen. Da die Oberschicht nie gewaltsam von der Macht und ihren Einflussmöglichkeiten getrennt wurde, kann sie sich bis heute einen erheblichen Teil des Sozialprodukts sichern.“{mospagebreak}
Der Menschenrechtsaktivist Helio Bicudo, der lange Jahre Staatsanwalt war und sogar die Interamerikanische Menschenrechtskommission in Washington leitete, weist unter anderem auf die auch unter Lula fortbestehende Folter und die Todesschwadronen hin. „In Brasilien haben die Slumbewohner Angst, Polizisten wegen Gewalttaten anzuzeigen – weil die Leute wissen, dass eine solche Anzeige ihnen das Leben kosten kann. Denn es gibt Killerkommandos, Todesschwadronen, zu denen Polizisten gehören. Die Leute haben sogar Angst vor der Justiz, weil sie die Polizei nicht kontrolliert, ´sondern eher für Straffreiheit sorgt.“ Theoretisch existieren für die öffentliche Sicherheit, die Verbrechensbekämpfung zahlreiche gut formulierte Gesetze, erscheinen Polizei und Justiz ähnlich strukturiert wie in Europa. Doch stutzig macht bereits, dass von den jährlich rund 50.000 in Brasilien verübten Morden nur wenige Prozent aufgeklärt werden. Nur wenige Täter werden auch tatsächlich gefasst und abgeurteilt. Das liegt laut Bicudo nicht zuletzt am Zeugenschutz. „Der ist eigentlich per Gesetz garantiert, funktioniert aber nicht. Zeugen sind in Brasilien überhaupt nicht geschützt. Nur zu oft ist es doch so: Kennt der Täter einen Zeugen, bringt er ihn um. Deshalb leben wir doch hier in Brasilien unter dem sogenannten Gesetz des Schweigens, denn niemand will aussagen. Das Schlimme ist zudem, dass unser Sicherheitsapparat aus der Militärdiktatur übernommen wurde. Wir haben in Brasilien Militärpolizisten auf den Straßen, die nicht wie Polizisten, sondern wie Militärs agieren, und das jedes Jahr tödlicher, wie die Statistiken zeigen. Doch ein Militärpolizist, der grundlos tötet, weiß, dass ihn die zuständige Militärjustiz nicht bestraft. Und an der Slumperipherie unserer Städte operieren auch noch Polizei und Verbrecherkommandos gemeinschaftlich, um diesen Schein-Frieden aufrechtzuerhalten.“ „Der Mehrheit der Brasilianer werden deren Rechte verweigert“, betont Paulo Sergio Pinheiro, langjähriger UNO-Berater. {mospagebreak}
Lateinamerikas reichste Megacity São Paulo zählt über 2.000 Slums  – doch die Favela Paraisópolis von Gemeindepfarrer Luciano Borges Basilio zeigt die schmerzhaftesten Kontraste. Denn Paraisópolis (Paradiesstadt) grenzt direkt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz- und Backsteinkaten 100.000 Menschen in Moder, Abwässer- und Müllgestank hausen. Zwar regiert São Paulos Gouverneur José Serra von seinem nahen Palast aus die führende lateinamerikanische Wirtschaftsregion mit ihren mehr als 1.000 deutschen Firmen – doch in Paraisópolis herrscht unangefochten Brasiliens mächtigstes Gangstersyndikat PCC (Primeiro Comando da Capital – Erstes Kommando der Hauptstadt). „Das organisierte Verbrechen ist oft viel besser organisiert als die Polizei, während die Polizei desorganisiert ist“, analysiert Priester Basilio. „Das Verbrechen, der massive Handel mit harten Drogen sind ein ernstes Problem in Paraisópolis – doch wie überall in Brasilien schützt der Staat die Slumbewohner nicht, sondern lässt sie in der Hand der Banditen.“
Für den Padre ist es an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, dass just der wichtigste Banditen-Geschäftszweig, nämlich der Drogenhandel, nur dank der reichen Großkunden von nebenan funktioniert. „Nachts kommen sie sogar in den Slum oder lassen sich das Rauschgift von hier bringen.“ Das symbolisiert die widersprüchliche Situation – auch in Rio de Janeiro ist es nicht anders. Anstatt dort – oder in Paraisópolis – jener kleinen Minderheit der Gangster das Handwerk zu legen und das hochlukrative Drogengeschäft zu stoppen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völlig unschuldigen Bewohnermehrheit.  Padre Basilio nennt jüngste Fälle: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, feuern die Beamten gewöhnlich blind drauflos. Ein Baby von 9 Monaten bekommt eine Kugel in den Arm, eine Sechzehnjährige in die Brüste. „Es wäre doch besser, die Banditen nicht zu kriegen, aber das Leben der Slumbewohner zu garantieren, anstatt wild herumzuballern!“{mospagebreak}
Der Priester macht es sich nicht so einfach wie manche politisch korrekten Menschenrechtsaktivisten, die nur Polizeiübergriffe anprangern, den Terror der hochbewaffneten Banditen aber verschweigen. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisópolis einen Bauchschuss – die Beamten haben ja auch Familie und sind natürlich unter Stress und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen.“ Täglich werden in Brasilien mehrere Polizeibeamte ermordet. „Aber Willkür rechtfertigt das nicht. Es gibt viel Elend und Hunger in Paraisópolis – trotz einer aufopferungsvollen Arbeit von Caritas. Die Arbeitslosigkeit ist hoch – und jene 15%, die weder lesen noch schreiben können, finden schwerlich einen Job. Slumbewohner kriegen meist nur Gelegenheitsarbeit. Für diese Menschen gebe ich mein Leben – denn mit Ermordung muss ich rechnen.“
Der Priester erhält seit Jahren immer wieder Morddrohungen, sogar per Internet, lässt sich aber nicht einschüchtern. Inzwischen hat er Amnesty International auf seiner Seite. Der Brite Tim Cahill,  Brasilienexperte von Amnesty, hat sich jetzt vor Ort über die Zustände informiert, mit zahlreichen Augenzeugen gesprochen. Dass die Polizei weiterhin nicht auf Folterungen verzichtet, hält Cahill für schwerwiegend. „Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier in Paraisópolis sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen. Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie eine Wegwerf-Bevölkerung behandelt.“
Cahill erinnert daran, dass die Lula-Regierung zu Beginn der Amtszeit 2003 sowohl den Vereinten Nationen als auch den Menschenrechtsorganisationen versprach, die eigenen Gesetze wie auch internationalen Abkommen strikt einzuhalten. Jetzt vermisst er indessen ebenso wie die Kirche echte Fortschritte: „Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und viel Sklavenarbeit. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert.“{mospagebreak}
Laut Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, ähnelt Brasiliens Gefängnissystem nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, dass tagtäglich außergerichtliche Exekutionen  und Blutbäder von Polizisten wie auch von Todesschwadronen verübt würden. Letztere agierten hemmungslos, es gebe „institutionalisierte Barbarei“.  Bei den Todeskommandos bestehe eine promiskuitive Allianz zwischen Vertretern des Staates („agentes publicos“) und Personen außerhalb des Staatsapparates.
Für Tim Cahill von Amnesty International ein unglaubliches Eingeständnis: „Dies zählt zu den absurden Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Das große Problem Brasiliens ist heute, dass der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat.“
Der Kampf der demokratischen Öffentlichkeit um eine angemessene Vergangenheitsbewältigung hat in jüngster Zeit erneut einen Rückschlag erlitten.
Staatspräsident Lula hatte sich bis zum Ende seiner zweiten Amtsperiode Zeit gelassen, um ein Dekret zu unterzeichnen, das die Schaffung einer Wahrheitskommission zur Aufklärung von Diktaturverbrechen vorsieht. Außerdem sollte ein Amnestiegesetz aufgehoben werden, dessen völkerrechtswidrige Auslegung es bisher unmöglich macht, berüchtigte Folteroffiziere oder Mörder von Diktaturgegnern zu bestrafen. Das Militär jedoch (Verteidigungsminister Nelson Jobim und die Kommandanten der Teilstreitkräfte reichten ihren Rücktritt ein) stellte  sich dagegen und Lula nahm eine Neuformulierung des Dekrets ganz im Sinne der Militärs vor, Schlüsselbegriffe wie „politische Repression“ sind nun gestrichen.  
Überraschend gab Lulas Menschenrechtsminister Vannuchi nach, der zusagte, dass das Amnestiegesetz nicht angetastet werde und eine künftige Wahrheitskommission nicht gegen die Militärs gerichtet sei. Dass diese den Putsch von 1964 stets an dessen Jahrestag öffentlich gar als „Revolution“ verteidigen, die Generalspräsidenten und deren Repressionsmethoden ausdrücklich würdigen, weist auf die besondere politische Situation in Brasilien auch unter der Lula-Regierung hin. {mospagebreak}
Der deutschstämmige Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo hält die Bestrafung von während der Diktatur begangenen politischen Verbrechen für unverzichtbar und hat deshalb 2008 sein  Land vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS in Washington angeprangert: „Der brasilianische Staat erfüllt auch seine internationalen Verpflichtungen nicht. Er kann Verbrechen gegen die Menschlichkeit gar nicht amnestieren – wie es in Brasilien aber geschehen ist. Wenn man jene davonkommen lässt, die gestern Verbrechen gegen die Menschenrechte begingen, und wenn man solche Taten sogar vertuscht, stärkt man jenen den Rücken, die heute im Staatsapparat Menschenrechte verletzen wollen. Man beschützt Mörder, Folterer, Vergewaltiger und Entführer aus der Zeit des Militärregimes. Leider gibt es in Brasilien die Auffassung, dass man die Wahrheit verbergen müsse und dass es vorteilhafter sei, über alle diese Probleme nicht zu reden. Das ist eine Frage der Werte und der Kultur. Käme die Wahrheit heraus, müssten Biographien völlig umgeschrieben werden.“
Als Zugpferd der Lula-Regierung wird gelegentlich das Anti-Hunger-Programm „Zero Fome“ betrachtet, welches laut Kirchenangaben den Hunger in der achtgrößten Wirtschaftsnation Brasilien, einem der führenden Nahrungsmittelexporteure,  längst nicht beseitigen konnte. Wie Brasiliens Medien unter Berufung auf den UNO-Sonderberichterstatter für Hungerfragen, Olivier de Schutter, betonen, zielen Lulas Sozialprogramme nur auf die Symptome von Armut und Elend, nicht auf deren Ursachen. Was die Regierung den Betroffenen mit der einen Hand gebe, nehme sie ihnen mit der anderen, da ein wichtiger Teil der Programme just durch ein Steuersystem finanziert werde, das den ärmsten Schichten 46 Prozent ihres Einkommens nehme, während die reichste Schicht lediglich mit 16 Prozent belastet werde.
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Autor bzw. Co-Autor von über dreißig Reportagebänden.
www.hart-brasilientexte.de