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Quilombo – Zwischen Gewalt und Fortschritt

Viviane de Santana Paulo

Historisch gesehen waren Quilombos Orte der Freiheit und des Widerstands, an denen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Gemeinschaften geflüchteter Sklaven lebten. Die ersten Quilombo-Gemeinschaften entstanden bereits 1570.

Mutter Bernadete Pacífico, wie sie in der Quilombo-Gemeinde Pitanga dos Palmares in Bahia genannt wurde, war eine 72-jährige Quilombola-Anführerin und Yalorixá. Sie wurde    im August erschossen. Ihre brutale Ermordung schockierte die Gemeinde und das ganze Land. Die UNO verurteilte den Mord und forderte eine gründliche Untersuchung. Zuvor hatte Bernadete Pacífico der Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Rosa Weber, von Drohungen örtlicher Landbesitzer berichtet und Gerechtigkeit für ihren Sohn gefordert. Vor sechs Jahren wurde Flávio Gabriel Pacífico dos Santos, besser bekannt als „Binho do Quilombo“,  ebenfalls ermordet. Dieses Verbrechen wurde bis heute nicht aufgeklärt. Wellington dos Santos, ein Sohn Bernadetes, sagte gegenüber der Bahia-Presse: „Meine Familie wird verfolgt. Im Jahr 2017 wurde mein Bruder auf die gleiche Weise ermordet und gestern wurde meine Mutter hingerichtet, während sie mit ihren drei Enkelkindern zusammen war. Ich würde gerne wissen, was wir diesen Menschen getan haben. Mir war nicht klar, dass Gutes zu tun die Eliten so sehr ärgern."
Historisch gesehen waren Quilombos Orte der Freiheit und des Widerstands, an denen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Gemeinschaften geflüchteter Sklaven lebten. Die ersten Quilombo-Gemeinschaften entstanden bereits 1570. Die von Bernadete geleitete Pitanga dos Palmares Quilombo besteht aus rund 289 Familien und umfasst 854,2 Hektar. Sie wurde 2017 vom Nationalen Institut für Kolonisierung und Agrarreform (INCRA) als Quilombo anerkannt. Die Gemeinschaft wurde bereits von der Palmares-Stiftung zertifiziert, aber der Prozess der staatlichen Anerkennung des Quilombo ist immer noch nicht abgeschlossen.
Seit 2013 hat die CONAQ (Nationale Koordination für die Artikulation der Quilombos) dreißig Hinrichtungen von Quilombolas registriert. Die meisten Opfer waren Anführerinnen und Anführer und die meisten Morde fanden innerhalb der Quilombos und unter Verwendung von Schusswaffen statt, ohne dass die Opfer eine Chance zur Verteidigung hatten. In der Regel wird das Verbrechen nicht verfolgt und die Täter bleiben deshalb straffrei. Die Staaten mit den meisten Fällen sind Bahia (11), Maranhão (8) und Pará (4).
In Brasilien leben 1,3 Millionen Menschen, die sich selbst als Quilombolas bezeichnen, d. h. als Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer, die durch ihre Geschichte und ihre Vorfahren mit der Gemeinschaft und dem Land, auf dem sie leben, verbunden sind. Das zeigt vor Kurzem eine zum ersten Mal vom brasilianischen Institut für Geographie und Statistik (IBGE) durchgeführte Volkszählung. Im Nordosten leben 68,19 % der Quilombolas. Bahia und Maranhão sind die Bundesstaaten mit der höchsten Anzahl. Dort sind zusammen genommen 50,16 Prozent der Quilombola-Bevölkerung Brasiliens ansässig.
Die Volkszählung ist wichtig für die Ausrichtung der öffentlichen Politik und der Maßnahmen zur Ratifizierung von Landtiteln. Denn zur Zeit leben fast 88 % der Quilombola-Bevölkerung auf nicht demarkiertem Land, und nur 4,3 % auf Gebieten, die im Zuge der Landregulierung bereits einen staatlichen Titel erhalten haben. Die Daten zeigen, dass von den 3.583 selbsterklärten Quilombola-Gemeinden in Brasilien nur 147 offiziell anerkannt sind. Darüber hinaus sind beim Nationalen Institut für Kolonisierung und Agrarreform (INCRA) 1.802 Landregularisierungsverfahren für Quilombolas anhängig.
Für die Anerkennung der Quilombola-Gebiete sind verschiedene staatliche Stellen zuständig. Es ist Aufgabe der Bundesstaaten und Gemeinden, Eigentumsurkunden für Quilombola-Gemeinden auszustellen, die sich auf die auf staatlichem bzw. kommunalem Land liegen. Jeder Bundesstaat hat spezifische Gesetze zur Legalisierung von Quilombola-Gebieten.
Im Oktober 2023 erklärte das Nationale Institut für Historisches und Künstlerisches Erbe (IPHAN) die beschleunigte Erfassung der Quilombos in Brasilien zu einer Priorität und stellte einen entsprechenden Verordnungsvorschlag zur öffentlichen Konsultation. Ziel ist es, die in der Verfassung vorgesehene Auflistung der Quilombos zu nutzen, um den Prozess des Vergabe von Titel zu beschleunigen. Im Bereich des Kulturerbes gibt es eine Geschichte des Rassismus, denn trotz der seit 1988 gültigen ausdrücklichen Festlegung in der Verfassung, dass „alle Dokumente und Stätten, die das historische Erbe der ehemaligen Quilombos enthalten, als Kulturerbe aufgeführt werden sollen“, hat die Auslegung des Textes durch den brasilianischen Staat es den Quilombos in der Vergangenheit schwer gemacht, den Status eines Kulturerbes zu erhalten. Es ist kein Zufall, dass von den 18 Verfahren, die seit den 1990-er Jahren für die Aufnahme von Quilombos in die Liste des IPHAN eingeleitet wurden, nur ein einziges - das des Quilombo Ambrósio in Ibiá (Mato Grosso) - genehmigt wurde.
Anderseits wachsen in den Großstädten die sogenannten kulturellen Quilombolas. Dabei handelt es um Zentren für Unterhaltung und anti-rassistische Bildung, die dazu beitragen sollen, die künstlerischen Ausdrucksformen der schwarzen Kultur sichtbar zu machen und das Selbstwertgefühl dieser Bevölkerungsgruppe zu stärken. Sie stützen sich dabei auf das Konzept des Aquilombamento, eine Art Philosophie der gegenseitigen Unterstützung und der Einheit der Schwarzen. Oder es gibt das Konzept des Quilombismo: Gemeint sind damit, so wie Abdias do Nascimento es ausdrückt, die „brüderliche und freie Wiedervereinigung oder die Begegnung, die Solidarität, das Zusammenleben, die existenzielle Gemeinschaft“ der afrobrasilianischen Bevölkerung.Eines dieser Zentren ist das Casa do Nando im Rio de Janeiro. Der Quilombo cultural bietet verschiedene Kurse an, z. B. Capoeira Angola, Tanz, Perkussion, Disco, Flechten und Afro-Carioca-Küche. Außerdem finden hier Buchvorstellungen, runde Tische und ein berühmter Samba-Kreis mit der Gruppe Poeira Pura statt. Der Besitzer der Casa do Nando, Fernando Luiz dos Santos, sagt: „Quilombo ist der Ort, an dem wir zusammenkommen, um Widerstand zu leisten. Casa do Nando ist ein Quilombo. Palmares ist ein Quilombo. Die Favelas sind Quilombos. Candomblé-Häuser sind Quilombos. Wir verwandeln unseren Schmerz in Unterhaltung und Kunst. Daraus entsteht Samba.“ Er fördert nicht nur kulturelle Aktivitäten, sondern beteiligt sich auch an Initiativen für aus dem Gefängnis entlassene Schwarzen. Seine Absicht ist es, ihnen Möglichkeiten für einen Neuanfang zu schaffen.
Der Clube Renascença, der als einer der letzten städtischen Quilombos in Rio de Janeiro gilt, organisiert jährlich das Literaturfestival Renascença (FLIRENA), das Schriftsteller*innen, Dichter*innen, Pädagogen, Sambatänzer*innen und Unternehmer*innen mit Interesse an der afro-brasilianischen Kultur zusammenbringt. Es fand Anfang Oktober zum zweiten Mal statt, und mit Unterstützung des städtischen Bildungsministeriums (SME) wurden die Schülerinnen und Schüler    des städtischen Schulsystems zum Besuch der Literaturmesse eingeladen.
Joel Rufino dos Santos erhielt für sein Engagement und seine akademische und künstlerische Laufbahn als Autor auf dem Festival einen Preis. Der Historiker, dessen Werke während der Militärregierungen zensiert wurden, ist eine Referenz im Kampf für soziale Gerechtigkeit und die Verteidigung der schwarzen Volkskultur. Die Wahl von Rufino dos Santos könnte deshalb nicht passender sein.

Viviane de Santana Paulo (São Paulo/Berlin) ist Dichterin, Übersetzerin und Essayistin. Seit fast 30 Jahren lebt Viviane de Santana in Berlin. Ihre Gedichte wurden in verschiedenen Magazinen und Zeitungen in Lateinamerika veröffentlicht. Inzwischen hat sie Lyrikbände sowie einen Roman veröffentlicht.


BN  168/2023