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Schmutzigweiß, sonnenverbrannt und nussbraun

Die Mär, Brasilien kenne keinen Rassismus, hält sich hartnäckig. Dabei gibt es reichlich Beispiele für Diskriminierung.
von Christine Wollowski, Recife

Maria de Fátima schüttelt ihr Haar, dass es ihr nur so um die Schultern fliegt. Schüttelt es gleich nochmal zur anderen Seite und strahlt. Das fliegende Haar hat Maria de Fátima zwei stinkende Stunden beim Frisör und ungefähr einen Wochenlohn gekostet. Maria de Fátima ist Küchenhilfe, 48 Jahre alt, Mutter von vier Kindern, ein bisschen dicklich und eigentlich nicht besonders eitel. Aber ihr Haar ist kraus. „Ruim“ sagt Maria wie viele Brasilianer dazu, und das bedeutet schlecht. Deswegen gilt es, dieses schlechte Erbe der afrikanischen Vorfahren zu bekämpfen, etwa mit reichlich Formaldehyd. Das heißt dann „Alisamento progressivo“ lässt die Augen jucken, die Haut brennen und manchmal die Haare ausfallen. So gesehen hat Maria de Fátima Glück gehabt.
Camila Pitanga ist 32 Jahre alt, einer der beliebtesten Telenovela-Stars Brasiliens, und hat mit ihren natürlich glatten Haaren, der schmalen Nase und den Mandelaugen auch als Model Erfolg. Unter Rassismus hat die Tochter des schwarzen Schauspielers Antônio Pitanga und des Ex-Models, der Mulattin Vera Lúcia Manhães, nie gelitten. Allerdings sprechen die hellhäutige Schauspielerin manchmal Fans auf der Straße an und wollen wissen, warum sie sich öffentlich als Schwarze bezeichnet, wo sie doch „so hübsch“ sei. „Ich kann nur wiederholen: Ich bin schwarz“, beharrt Camila.
In Brasilien hat es nie offiziell legitimierte Rassentrennung gegeben: schon zu Kolonialzeiten haben sich Europäer, Indianer und Afrikaner gemischt. Heute haben 87 Prozent der Brasilianer mindestens zehn Prozent afrikanischer Gene, gelten als Schwarze oder Mestizen. Die Bedeutung des afrikanischen Beitrags zur brasilianischen Kultur hat zuerst der Soziologe Gilberto Freyre in seinem Standardwerk „Herrenhaus und Sklavenhütte“ betont – und wurde seitdem interpretiert als Beschreiber des friedlichen Zusammenlebens ohne Rassismus. Diese Mär vom Rassenparadies Brasilien hält sich hartnäckig in Reiseführern, Reportagen und klugen Köpfen - von Stefan Zweig, der Brasiliens Umgang mit der Rassenfrage für beispielhaft hielt, bis zu Peter Scholl-Latour, der in der gleichen Tradition erst kürzlich das „Vorbild freundschaftlichen Beisammenseins von Menschen verschiedener Herkunft, Rassen, Kulturen und Mentalitäten“ zitiert hat.{mospagebreak}
Vermutlich würde er staunen, wenn er Maria de Fátima hören würde. Die kommentiert gerne, wenn sie irgendwo auf einen Kaffee eingeladen wird: „Das einzige, was ich richtig schwarz mag, ist der Kaffee!“ Folgerichtig giftet sie ihre Jüngste, deren Haut besonders dunkel ist, besonders häufig an. „Du bist eben nur eine nichtsnutzige, hässliche Schwarze, aus dir wird sowieso nie was“, klingt es dann durch die ganze Straße. Dass sie selbst, wie ihr Mann und Vater der Tochter, schwarz ist, scheint ihr nicht aufzufallen. Auch als rassistisch sieht sie sich nicht. Das taten in einer Untersuchung der Abramo-Stiftung aus dem Jahr 2003 nur vier Prozent der Brasilianer. Gleichzeitig fanden 87 Prozent, sie lebten in einem rassistischen Land.
 „Brasilien lebt mit dem Vorurteil, keine Vorurteile zu haben“, urteilte der Soziologe Florestan Fernandes bereits vor einem halben Jahrhundert. Vor 15 Jahren gab die Regierung Fernando Henrique Cardosos erstmals öffentlich zu, dass Rassismus im Land existiere. Seit zehn Jahren kann sich der Senat nicht über einen Entwurf zu einem Quotengesetz einigen: Sollen bis zu 50 Prozent aller Plätze an den staatlichen Universitäten für Absolventen öffentlicher Schulen reserviert und so auch mehr Schwarzen Zugang zu den kostenlosen Universitäten verschafft  werden? Oder doch Rassenquoten eingeführt werden, wie das einige Universitäten bereits seit 2001 getan haben?
Bildungsspezialisten werfen der Regierung vor, mit den Rassenquoten eine populistische Lösung für ein Problem zu suchen, dessen Wurzeln im maroden öffentlichen Schulsystem liegen: Bislang schafft die Zugangsprüfungen zu den besten öffentlichen Unis nur, wer vorher auf teuren Privatschulen war. Die Intellektuellen diskutieren eifrig darüber, ob das Gesetz ein Fortschritt ist – weil es bessere Chancen für Afro-Brasilianer garantiert. Oder ein Rückschritt – weil damit die Existenz unterschiedlicher Rassen erst juristisch zementiert wird. {mospagebreak}
Außerdem würden durch Rassenquoten sozial schwache Weiße benachteiligt und sie seien überhaupt gegen die in der Verfassung garantierte Gleichbehandlung, befinden manche Juristen. Aktivisten aus der Anti-Rassismus-Bewegung halten dagegen, wer nicht die gleichen Chancen habe, müsse auch anders behandelt werden. Dabei wird von Befürwortern wie von Gegnern der Quoten gerne das Beispiel Vereinigte Staaten zitiert, das die einen als deren Erfolg, die anderen als Scheitern anführen. Einige Optimisten meinen, mit der Wahl Obamas sei ohnehin amerikaweit die post-rassistische Ära angebrochen, schließlich habe auch Brasilien mit der Grünen Marina Silva jetzt eine schwarze Präsidentschaftskandidatin.
Schwarze Identifikationsfiguren gibt es, keine Frage. Angefangen bei Fußball-Legende Pelé und seinen Nachfolgern Ronaldo und Roberto Carlos über Musiker wie Seu Jorge oder dem Ex-Kultusminister Gilberto Gil bis zur jüngsten Riege schwarzer Schauspieler, allen voran Taís Araujo und Lázaro Ramos, die längst sogar Hauptrollen in Telenovelas spielen dürfen. „Meine Karriere ist eine Ausnahme“, glaubt Ramos dennoch. Im größten TV-Sender Rede Globo sind bis heute in keiner Telenovela mehr als ein Viertel Schwarze vertreten gewesen – meist sind es deutlich weniger, in den üblichen Rollen als Hausangestellte, Chauffeur oder Verbrecher.{mospagebreak}
Beispiele für Diskriminierung gibt es reichlich. In öffentlichen Schulen werden schwarze Kinder seltener angesprochen und gelobt aber öfter beschimpft als weiße, heißt es etwa in einer pädagogischen Dissertation zum Thema. Schwarze, wie der Soziologe und Anwalt José Vicente, werden gerne vor Nobel-Restaurants von weißen Gästen als Personal des Einpark-Services angesprochen oder in Shopping-Zentren von misstrauischen Sicherheitskräften verfolgt. Die Mutter des Fußballers Ronaldo wurde gar vom Portier an den Dienstboteneingang verwiesen, als sie Ihren Sohn in seinem Penthouse in Rios Nobelviertel Barra da Tijuca besuchen wollte. Und im vergangenen Dezember sind im Bundesstaat São Paulo drei Medizinstudenten mit dem Schlachtruf „nimm das, Nigger“ auf einen Schwarzen losgegangen, einfach so.
Ist es also tatsächlich ein Zeichen für schwarzes Selbstbewusstsein, wie die Zeitschrift Veja vermutet, wenn es in São Paulo inzwischen eine Sprachschule extra für Schwarze und einen ebensolchen Kontaktservice gibt? Oder doch nur eine Art Selbstausgrenzung? Tatsächlich sind inzwischen 22 Prozent der Unternehmer Schwarze – gegenüber elf Prozent noch vor zehn Jahren. 7,5 Millionen Schwarze haben es in die Mittelklasse geschafft und bewegen jährlich umgerechnet 20 Milliarden Euro. Allerdings werden laut Daten des Wirtschaftsforschungsinstituts Ipea nur ein Prozent der strategisch wichtigen Posten auf dem Arbeitsmarkt mit Schwarzen besetzt, und bei gleichen Voraussetzungen haben Schwarze ein Drittel weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz als Weiße. Der Einkommensunterschied zwischen Weißen und Schwarzen ist zwischen 2004 und 2008 sogar leicht gestiegen, und in Stellenanzeigen verlangen Arbeitgeber immer noch „angenehmes Äußeres“ und meinen damit: Die Kandidaten sollen weiße Haut haben.{mospagebreak}
Vielleicht machen sich deswegen viele Brasilianer gerne weißer als sie sind. In einer Umfrage des brasilianischen Instituts für Statistik IBGE durften die Befragten ihre Hautfarbe selbst benennen: Mehr als hundert verschiedene Farben kamen dabei heraus – darunter so vielsagende Neuschöpfungen wie Zimtbraun, Weizenbraun, Sonnenverbrannt, Schmutzigweiß, Fastweiß, Hellbraun, Gebrochen Weiß oder Nussbraun. Alle nicht schwarz. Fallen nun Zimtbraune und Schmutzigweiße auch unter die Quotenregelung? Die Universität von Brasília wollte diese Entscheidung nicht den Studienbewerbern überlassen, und hatte mit Einführung ihrer Rassenquote auch eine Art Rassenjury eingerichtet, welche über die Bewerbungen auf Quotenplätze entscheiden sollte. Die Juroren stützten sich auf eingereichte Passfotos und kamen so zu dem Schluss, dass Alex Teixeira da Cunha weiß sei, und Alan Teixeira da Cunha schwarz. Die beiden sind eineiige Zwillinge. Alex ging gerichtlich gegen das Urteil vor, vermutlich der erste Fall, in dem ein Brasilianer auf das Recht klagt, als schwarz angesehen zu werden.
Die Historikerin Emilia Costa hat festgestellt, dass üblicherweise „Schwarze, die in eine höhere Gesellschaftsschicht aufgestiegen sind, sich selbst als Mitglieder der weißen Gemeinschaft ansehen.“ Selbst wenn sie so hoch gestiegen sind wie Star-Fußballer Ronaldo: „Ich denke, dass alle Schwarzen im Fußball unter Rassismus zu leiden haben“, sagte er in einem Interview. „Ich als Weißer leide unter so viel Ignoranz.“ Die Geschichte mit seiner Mutter und dem Portier hatte er da wohl verdrängt.
Christine Wollowski ist freie Korrespondentin in Recife und Mitglied bei www.weltreporter.net
Unter http:// alltag-in-brasilien.blogspot.com berichtet sie aus ihrem Alltag im Nordosten.