Schwere Zeiten für Brasiliens Demokratie
Drei Jahrzehnte nach einer mit vielen Opfern erkämpften Demokratisierung hat Brasiliens Demokratie mit einem umstrittenen Verfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff schweren – und wie zu befürchten ist – nachhaltigen Schaden genommen.
Am 31. August 2016 hat der brasilianische Senat mit 61 zu 20 Stimmen für die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff gestimmt. Gleichzeitig stimmten nur 36 Senatorinnen und Senatoren dafür, der Präsidentin gleichzeitig für acht Jahre die politischen Rechte zu entziehen, was die vorgesehene Strafe für ein der Amtsenthebung zugrundeliegendes „Verbrechen gegen die Verfassung“ wäre. 42 Senatorinnen und Senatoren votierten dafür, dass sie ihre politischen Rechte behalten kann – ein offensichtliches Zeichen schlechten Gewissens bei denjenigen, die noch 2014 auf derselben Liste wie Rousseff kandidierten. Diese vollkommen inkohärente Entscheidung dokumentiert, was kritische Stimmen schon lange behaupteten. Eine „ehrliche Frau“ – wie sie die österreichische „Kronen Zeitung“ nannte, die zu den wenigen Politikerinnen und Politikern Brasiliens gehört, gegen die keine persönlichen Vorwürfe erhoben werden, wird für ihre – durchaus zahlreichen – politischen Fehler bestraft. Doch die brasilianische Präsidialverfassung erlaubt dem Parlament nicht, unliebsame Präsidenten per Misstrauensvotum loszuwerden. Aus diesem Grund wurde die Verfassung gebeugt und nicht haltbare Vorwürfe – insbesondere das „schwere Verbrechen“ von in Brasilien weit verbreiteten Haushaltstricks – vorgeschoben. Brasiliens Demokratie hat damit einen nicht leicht zu reparierenden Schaden genommen. Da diese Verfassungsbeugung erwiesenermaßen bewusst passierte, ist der Vorwurf, es handele sich um einen parlamentarischen Putsch, gerechtfertigt.
Schwächen und Stärken der Arbeiterpartei wurden ihr zum Verhängnis
Die wesentlichsten politischen Fehler Rousseffs waren zum einen ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit, im Parlament politische Tauschgeschäfte durchzuführen, die die Geschäftsgrundlage von Koalitionen in Präsidialsystemen sind. Politik betreiben heißt verhandeln und Kompromisse finden. Das konnte Rousseff, die zu autoritären und einsamen Entscheidungen neigt, schlecht. Zum anderen verfolgte sie eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die sie ihrer Basis entfremdete und die von der politischen Rechten als halbherzig und unprofessionell diskreditiert wurde. Der daraus folgende politische Boykott hat die wirtschaftliche Krise verschärft und ihre Beliebtheit in den Keller rasseln lassen. Doch zeigt sich schon wenige Tage nach ihrer Amtsenthebung, dass es vor allem die Erfolge der 13 Jahre amtierenden Regierungen unter Leitung der Arbeiterpartei (PT) waren, die letztlich zu ihrer Absetzung führten. So waren Lula, aber insbesondere Rousseff, die ersten Präsidenten, die Justizermittlungen nicht boykottierten. Viele hochrangige Mitglieder der Arbeiterpartei fielen deshalb Korruptionsermittlungen zum Opfer. Als die Ermittlungen sich auch auf wichtige Persönlichkeiten anderer Parteien auszuweiten drohten, radikalisierte sich das Parlament. Das Amtsenthebungsverfahren wurde Ende 2015 umgehend nach einer Entscheidung der Abgeordneten der Arbeiterpartei eingeleitet. Diese hatten in der Ethikkommission dafür gestimmt, die Ermittlungen gegen den damaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha fortzuführen. Dilma Rousseffs politisches Todesurteil war auch, ihre Koalitionspartner nicht vor der Justiz zu schützen.
Andere Töne unter Temer
Geschäftsgrundlage der neuen Regierung des ehemaligen Vizepräsidenten Michel Temer ist es nun, die Korruptionsermittlungen einschlafen zu lassen. Abgesehen vom Bauernopfer Eduardo Cunha wird voraussichtlich keiner der zahlreichen neuen Regierungsmitglieder, gegen die ermittelt wird, bestraft werden. Die „Haushaltstricks“, also die interne Kreditaufnahme zwischen verschiedenen öffentlichen Stellen, werden gegenwärtig vom Parlament legalisiert. Ebenso ist geplant, per neuem Gesetz illegale Parteienfinanzierung, die nicht zu persönlicher Bereicherung geführt hat, als Kavaliersdelikte zu behandeln. Justiz, Medien, Polizei, Parlament und Regierung ziehen hier an einem Strang. Wohl wird es weiter Dissidenz geben: Engagierte Richterinnen und Richter werden weiterhin versuchen, Prominente hinter Gitter zu bringen; kommerzielle Medien werden über den einen oder anderen neuen Korruptionsskandal berichten. Aber nur ein einziges Verfahren wird mit exzessivem Einsatz weiterverfolgt; Und es ist angesichts der mittlerweile offensichtlichen Parteilichkeit der Justiz wahrscheinlich, dass der ehemalige Staatspräsident Lula verurteilt wird.
Ein weiterer Grund für Rousseffs Amtsenthebung ist die Sozialpolitik des vergangenen Jahrzehnts, die weitgehend Hunger und extreme Armut beseitigen konnte und erstmals versuchte, Gleichstellungspolitik zu institutionalisieren. Vielen Mitgliedern der oberen Mittelschicht sowie konservativen, oftmals freikirchlichen Gruppen gingen Quoten für Schwarze auf den Universitäten, Rechte für Hausangestellte, indigene Forderungen nach Reservaten und Aufklärung über Rassismus und Sexismus zu weit. In einem Kulturkampf, der sehr systematisch auch frauenfeindliche Züge aufwies, wurde nicht nur die erste Frau an Brasiliens Staatsspitze abgesetzt, sondern auch das Staatssekretariat für Frauen sowie das Ministerium für Menschenrechte aufgelöst. Keine Frau ist Mitglied der neuen Regierung.
Trotz der vielen von sozialen Bewegungen heftig kritisierten Fehler Rousseffs – zum Beispiel die Sanktionierung eines Anti-Terror-Gesetzes – hatte diese zwei Vorzüge: Die sozialen Bewegungen wurden von ihr nicht kriminalisiert. Gewalt und Repressionen gingen vorrangig von Landesregierungen aus. Trotz neoliberaler Wirtschaftspolitik wurde versucht, wesentliche sozialstaatliche Leistungen aufrechtzuerhalten. Das ist nun Geschichte. Die neue Regierung plant eine Verfassungsänderung, um bei Bildung und Gesundheit sparen zu können. Neben einer Schuldenbremse soll auch weniger Geld aus den Öleinnahmen für Soziales, mehr hingegen für den Schuldendienst zur Verfügung stehen.
Politischer Machtkampf um Brasiliens Entwicklung
Ein dritter Erfolg der von der Arbeiterpartei angeführten Regierungen war der große internationale Bedeutungsgewinn Brasiliens. Die Fußballweltmeisterschaft von 2014 und die Olympischen Spiele von 2016 waren nur der – zutiefst missglückte – Versuch, auch auf symbolische Weise zu dokumentieren, dass Brasilien nun Weltspitze sei. Doch davor hatte Lula eine Afrikapolitik begonnen, bei der er sich auch für die Mitverantwortung Brasiliens für die Sklaverei entschuldigte. Brasilien war treibende und immer vermittelnde Kraft eines lateinamerikanischen Integrationsprozesses, dessen beide letzten Erfolge der Waffenstillstand in Kolumbien und die Entspannung gegenüber Kuba waren. Es war interessant, dass gerade als Brasilien intern seine Vergangenheit als Sklavenhaltergesellschaft ein Stück weit aufzuarbeiten begann, es an weltpolitischem Gewicht gewann. Sowohl die Wahl für den Vorsitz der Welternährungs- als auch der Welthandelsorganisation konnte die brasilianischen Kandidaten für sich entscheiden.
Diese moderierende, ausgleichende und sich gleichzeitig dem übermächtigen Einfluss der USA ein Stück weit entziehende Außenpolitik war nicht unumstritten. Rousseff hatte anders als die allermeisten Staatschefs den Mut, Konsequenzen aus der Snowden-Affäre zu ziehen und sagte einen Staatsbesuch in den USA ab. Brasilien stärkte die BRICS-Staatenallianz, diversifizierte seine Handelspartner und Rüstungslieferanten. Wiewohl sich die US-amerikanische Außenpolitik in Brasilien viel mehr zurückhielt als bei den parlamentarisch-juristischen Staatsstreichen in Honduras und Paraguay, sind die Gewinner des Regierungs- und Politikwechsels klar. Die US-amerikanische Ölindustrie hofft auf Beteiligungen am angeschlagenen staatlichen Ölkonzern Petrobras. Der US-amerikanische militärisch-industrielle Komplex wird versuchen, Brasilien wieder näher an die NATO-Allianz heranzuführen, Konzerne hoffen, vielleicht doch Freihandelsabkommen mit Südamerika abschließen zu können. Und schließlich erfreut sich das internationale Finanzkapital daran, dass die obszöne Hochzinspolitik, die acht Prozent des Volkseinkommens für den Schuldendienst abzweigt, nun in einen Verfassungsrang gehoben werden soll. Der impulsive, fachlich unvorbereitete neue Außenminister Serra hat in kurzer Zeit klargemacht, was geplant ist: Die Phase eigenständiger, vermittelnder und ausgleichender Außenpolitik ist vorbei. Stattdessen wird das Bündnis mit jenen Gruppen im Westen gesucht, die die neoliberale Globalisierung und geopolitisch motivierte Militarisierung vorantreiben wollen. TTIP-Gegnern, Abrüstungsbefürwortern, Agrobusiness- und Geheimdienstkritikern sowie Frauen-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen ist mit dem Wechsel in Brasilien nun eine Stimme abhandengekommen, die zumindest gelegentlich und in Teilbereichen für Interessen von sozialen Bewegungen zugänglich war.
Mit dem parlamentarischen Putsch hat sich ein Machtkartell festgesetzt, das das archaische Brasilien repräsentiert. Es stimmt, dass die Arbeiterpartei und Rousseff eben dieses Machtkartell niemals bekämpft hatten. Als „Lulismo“ bezeichnete der Politologe André Singer den sanften Reformismus Lulas, der mit dem Slogan „Frieden und Liebe“ genau darauf beruhte, den vorherrschenden Politikstil nicht zu verändern, sondern den Opportunismus der Abgeordneten zu nutzen, um ein ambitioniertes Sozialprogramm umzusetzen. Genau dies glückte auch. Der Preis war jedoch, das auf legalem und illegalem Stimmenkauf beruhende System nicht anzutasten. Es gibt die bezeichnende Aussage eines Politikers aus dem 19. Jahrhundert, die bis heute Gültigkeit hat: „Ich ändere mich nie. Ich bin immer auf der Seite der Regierung.“ Viele Koalitionspartner der Arbeiterpartei, aber auch Politikerinnen und Politiker der Arbeiterpartei selbst haben auch sozial- und umweltpolitisch problematische Maßnahmen umgesetzt – das Kraftwerk Belo Monte und die städtischen Immobilienprojekte stehen hier stellvertretend für viele.
13 Jahre blieb die PMBD (Partido do Movimento Democrático Brasileiro) aus diesem Grund auf der Seite Lulas und Rousseffs, die die notwendigen Mehrheiten an den Urnen sicherstellten. Vier Mal besiegte die Arbeiterpartei in Wahlkämpfen ein neoliberales Programm. Doch die vierte Niederlage akzeptierte die rechte Oppositionspartei PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) nicht länger. Der Wahlsieg Rousseffs mit über drei Millionen Stimmen Vorsprung wurde schlicht nicht anerkannt. 2016 nahm die PMDB, die seit dreißig Jahren in allen Regierungen vertreten ist, einen fliegenden Wechsel vor. Zum dritten Mal – in nur 30 Jahren – stellt sie nun einen nicht gewählten Präsidenten: Michel Temer.
Was kommt nach Rousseff?
Mit dem Ausschluss der Arbeiterpartei, die als Sündenbock für ein korruptes System diskreditiert ist, ist die Oberschicht Brasiliens nun wieder unter sich. Während harte Sparpakete angekündigt werden, bekommen die Richter saftige Gehaltserhöhungen. Doch das Machtkartell aus Justiz, Medien, Parlament und Regierung agiert nicht einheitlich. Die Regierung steht keinesfalls auf festen Beinen. Da ist zum einen die große Unbeliebtheit des neuen Präsidenten Temer, die sich nicht von derjenigen Dilmas unterscheidet. Und während es im Anti-Rousseff-Lager Einigkeit gibt, was ein Ende der Korruptionsermittlungen für andere Parteien als die Arbeiterpartei betrifft, wird die geplante neoliberale Wende nicht einfach durchzusetzen sein. Mit zwei Problemen muss die Regierung umgehen.Zum einen sind die in den letzten Jahren durchgesetzten sozialen Rechte selbstverständlich geworden. Ihr Abbau wird nicht ohne Widerstand erfolgen können. Überraschend ist, dass die Anti-Temer-Demonstrationen nach der Absetzung Dilma Rousseffs nicht verebbten, sondern stärker geworden sind. Gleichzeitig nimmt die Repression zu und es ist eine tragische Wende im Justizsystem zu befürchten. Dieselbe Justiz, die von den Medien zur Retterin der brasilianischen Werte gemacht wurde, ist ein höchst privilegierter Berufsstand, der in den letzten Jahrzehnten in Menschenrechtsfragen zaghafte Lernprozesse eingeleitet hat. Doch weiterhin sind die Zustände in Gefängnissen ein Skandal, ist die Klassenjustiz und Gewalt insbesondere gegen schwarze junge Männer systematisch und wird die Polizei bei Menschenrechtsverletzungen vor Verfolgung geschützt. In genau diesem Umfeld nimmt die Repression gegen die vielfach jungen Demonstrierenden mit sehr hohem Frauenanteil zu. Noch demonstriert vor allem die Mittelschicht. Wenn die Einschnitte im Sozialsystem aber offensichtlich werden, können die Proteste durchaus breiter werden.
Zum anderen basiert das Politikmodell der Mehrzahl der Abgeordneten auf einer Klientelpolitik, die den Wählerinnen und Wählern klare materielle Vorteile anbieten kann. Die geplante Sparpolitik untergräbt damit auch die Machtbasis der Abgeordneten, weshalb die Abstimmungen im Parlament keine garantierten Mehrheiten bringen werden.
All dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem „Lulismo“ der Weg des sanften, konfliktminimierenden Reformismus zu einem Ende gekommen ist. Einiges wurde erreicht, viele Fehler begangen. Doch es war zehn Jahre lang genau die Stärke Lulas, den Klassenkampf nicht zu führen, sondern breite Mehrheiten sicherzustellen. Selbst dies war aber einer Elite, die sich nicht vom Erbe der Sklaverei und vom Standesdünkel verabschieden will, zu viel. Eine Rückkehr zu einer Politik der Reformen ohne Konflikte ist versperrt. Doch was ist die Alternative? Hier hinterlässt die diskreditierte und innerlich gespaltene Arbeiterpartei ein Vakuum. Eine Zerreißprobe ähnlich derjenigen der britischen Labour Party ist nicht ausgeschlossen. Unter den demokratischen und progressiven Kräften ist jedoch niemand – keine Organisation und keine Person – in Sicht, der die Arbeiterpartei und Lula ersetzen könnte.
Die sozialen Bewegungen forderten nach den Protesten von 2013 im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft eine Radikalisierung der Reformpolitik. Das überrascht nicht angesichts der weiterhin gravierenden Mängel des brasilianischen Sozialsystems. Doch aufgrund der vorherrschenden Kräfteverhältnisse fragt man sich schon, wie realistisch diese Forderungen sind. Es ist zu befürchten, dass der für viele und auch für mich überraschende Schub in Richtung universeller Teilhabe und Sozialstaatlichkeit, der ein Jahrzehnt lang in Brasilien – und Lateinamerika – gegen den weltweiten neoliberalen Trend hin zu steigender Ungleichheit umgesetzt wurde, für längere Zeit zu einem Ende gekommen ist. Es bleibt aber zu hoffen, dass die Zukunft für Überraschungen gut ist.
Andreas Novy ist Universitätsprofessor am Institut für Regional- und Umweltwirtschaft an der WU in Wien und wissenschaftlicher Leiter des dortigen Paulo Freire Zentrums.
Ausgabe 154/2016