Sisyphos im Slum
In einer medienwirksamen, kriegsähnlichen Aktion haben Polizei und Militär in Rio de Janeiro zwei Slums für den Staat zurückerobert – die auf langfristige Wirkung angelegte Arbeit des Kommandanten einer Einheit der Befriedungspolizei UPP wirkt dagegen unspektakulär.
Am 28. November 2010 ist Rio de Janeiro neu gegründet worden. Das sagt Rios Bürgermeister Eduardo Pães, und dieses Datum hat er auch gleich per Dekret in die Geschichtsbücher schreiben lassen: Weil am 28. November die Großaktion vorbei war, in der Hundertschaften von Polizisten aus Spezialeinheiten die Slums „Vila Cruzeiro“ und „Complexo do Alemão“ im Sturm erobert haben. TV-Bilder zeigten die Bilder eines Kriegs. Schwere Panzer überrollen Straßenbarrikaden, Dutzende Banditen flüchten zu Fuß durch enge Gassen wie aufgeschreckte Hühner. Die stolze Bilanz der Polizei verzeichnet nach vier Tagen: 39 Tonnen Marihuana beschlagnahmt, 235 Kilo Kokain und 222 Waffen. Der scheidende Präsident Lula verkündete zufrieden: „Wir werden den Krieg gegen die Drogenmafia gewinnen.“ Diesen Etappensieg, die Einnahme zweier der größten Favelas von Rio, in denen sich 1.500 Kriminelle mit schweren Waffen konzentrierten, halten viele für ein Kinderspiel. Weit schwieriger wird es, im ehemaligen Herrschaftsgebiet der Drogenmafia dauerhaft Frieden und einen geordneten städtischen Raum zu schaffen. Mehr als ein Jahr sollen 2.000 Militärs die beiden Slums besetzt halten, bevor auch „Vila Cruzeiro“ und „Complexo do Alemão“ ihre Einheit der Befriedungspolizei UPP bekommen, wie bereits 13 andere Slums der Stadt.
In den UPPs ist eine weniger medienwirksame Schlacht zu schlagen als bei den Sondereinsatztruppen, Befriedungspolizisten brauchen vor allem Geduld. Wie Glauco Schorcht. Bevor Glauco Polizist wurde, stand er bei McDonalds im Eingangsbereich, trug eine Weste mit der Aufschrift „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ und erklärte den Fastfoodfans, welche Burgerangebote gerade aktuell waren. Als 24-Jähriger hat er sein Physik- und Jurastudium abgebrochen und sich bei der Militärpolizei im Großraum von Rio de Janeiro beworben, weil das Geld trotz Burgerjobs nie so recht für die Studiengebühren reichte. Seitdem hat er alle Fortbildungen gemacht, die ausgeschrieben waren, und zuletzt perfektionierte er, was schon bei McDonalds seine Stärke war: Kommunizieren. Dann kam die Versetzung als Kommandant in Rios ältesten Slum Morro da Providência. Der Slum liegt hinter dem Hauptbahnhof Central; ein steiler Hügel, auf dem es nach Hundekot riecht, wo sich Abwässer faulig stinkend ihren Weg suchen und Häuserfassaden ihre Fensterhöhlen zu einem Blick auf Mülldeponien und Gestrüpp öffnen.
Seit April 2010 sitzt Schorcht in einem weniger als zehn Quadratmeter großen Büro, in dem ein Metallregal, ein Metallschränkchen und ein ziemlich leerer Schreibtisch stehen und die Klimaanlage altersschwach gegen den Tropensommer anrattert. Von hier aus leitet der inzwischen 34-Jährige mit den dunkelblonden Haaren und den sanften grünen Augen die Einheit der Befriedungspolizei, die den Hügel dauerhaft aus den Krallen der Drogenmafia befreien soll. Anstatt im akuten Notfall Sondereinsatz-Kommandos in die Slums zu schicken, die punktuell und brutal eingreifen, wie zuletzt im Complexo do Alemão, soll die Befriedungspolizei mit ihren UPP genannten Einheiten durch ständige Anwesenheit den bewaffneten Drogenhandel unterbinden und so das Territorium der Elendsgebiete für den Staat zurückgewinnen. Es werden ausschließlich frisch ausgebildete Soldaten eingesetzt, die weder Erfahrungen in bewaffneten Konflikten mit Drogenhändlern noch mit Korruption haben. Stattdessen sollen sie den Kontakt zur Bevölkerung suchen und sind dafür zusätzlich in Kommunikation und Mediation geschult.{mospagebreak}
Soweit die Theorie. In der Praxis eilen die Anwohner, meist nachlässig gekleidet, barfuß oder in Schlappen, grußlos und mit gesenktem Blick an den beiden Polizisten vorbei, die schwer bewaffnet am Fußballplatz Wache schieben. Hier tobten bis vor ein paar Monaten regelmäßig Funkparties, bei denen Drogen konsumiert wurden und es zu Schießereien kam. Heute ist es still, und eine seltsam angespannte Stimmung legt die Vermutung nahe, dass das vor allem an der Polizeipräsenz liegt. Die beiden athletischen Polizisten mit ihren Kindergesichtern lassen die Augen schweifen: Der Drogenhandel versteckt sich neuerdings besser. „Letztens haben wir eine Oma angehalten, weil die so nervös vorbei trippelte“, erzählt Laurentino, „ihre Handtasche war voller Koks.“ Ein anderes Mal fanden sie Drogen in einer Kinderwindel. Rund um den Fußballplatz haben Anwohner zu Partyzeiten ihre Häuser in Ausschänke und Kneipen verwandelt. In einem schäbigen Ausschank – dem früheren Hauptquartier des Drogenhandels - trinkt eine Grauhaarige im Trainingsanzug Bier. Neben dem Tor spielt eine Gruppe Kinder Karten. „Der da drüben ist der Sohn vom ehemaligen Boss“, flüstert Laurentino, „und obwohl sein Vater sozusagen wegen uns sitzt, redet der Kleine normal mit uns.“ Nach fünf Monaten auf dem Hügel sind solche Erfolge rar, und trotz der Extra-Kurse finden beide Befriedungspolizisten es viel schwieriger, den Psychostress der ständigen Ablehnung und des Werbens um Vertrauen in der Bevölkerung auszuhalten, als bei bewaffneten Konfrontationen dabei zu sein. Die sie allerdings nur aus Polizei-Filmen kennen.
Der Hügel Morro da Providência, auf dem mindestens 10.000 Menschen in handtuchschmalen Gassen und meist unverputzten Häusern mit der Grundfläche eines mittleren Wohnzimmers leben, galt bis vor kurzem als einer der gefährlichsten der Stadt: Schießereien waren an der Tagesordnung, statt spielender Kinder waren eher schwer Bewaffnete Bestandteil des Straßenbilds. Ein Großteil der Bevölkerung lebte von illegalen Geschäften, der Handel mit Drogen und Hehlerwaren blühte. Die anderen hielten still. Jetzt schafft Kommandant Glauco Schorcht mit 200 jungen Männern hier Ordnung. Dass Glauco mit seinen 34 Jahren diesen Rang runde zehn Jahre jünger erreicht hat als sonst bei der brasilianischen Polizei üblich, dient neben einer finanziellen Sonderzulage als Anreiz, die schwere Aufgabe zu übernehmen: Glauco hat in den ersten Wochen keine komplette Mahlzeit zu sich genommen, die Freundin nicht einmal flüchtig gesehen.
Beim Treffen mit den Kleinstunternehmern des Slums ist er freiwillig dabei. Deren Geschäfte laufen seit der Befriedung schleppend. Trotzdem oder deswegen drängen sich Dutzende an diesem Vormittag im Keller der Polizeistation auf niedrigen Schulstühlchen, manche noch heftig nach dem Zuckerrohrschnaps des Vorabends, andere nach Parfum duftend und frisch frisiert. Die gemeinnützige Förderorganisation für Kleinunternehmen Sebrae hat zu diesem Treffen aufgerufen, um zu registrieren, welche Unternehmer existieren, welche Fortbildungen sie benötigen und um ihnen zu helfen, die Legalisierung ihrer Mikrobetriebe in die Wege zu leiten. Statt Freude gibt es von den Unternehmern harte Worte: „Wir leben hier neuerdings wie in einer Ausgangssperre!“, „Nach 21 Uhr ist auf dem Hügel tote Hose, wie sollen wir als Barbesitzer da überleben?“, „ Kaum macht einer irgendwo ein bisschen Musik, kommen die Bullen und verbieten alles!“{mospagebreak}
Glauco steht breitbeinig und unbeweglich wie ein Beverly Hills Cop und hört sich die Tiraden an. Dann guckt er dem stämmigen aufgebrachten Barbesitzer Moacir provokant direkt in die Augen und sagt: „Natürlich kannst du deinen Funk spielen, solange du niemanden störst.“ Und: „Meine Leute verbieten nur dann Partys, wenn sich jemand beschwert. Wenn bei mir einer Drogenhandel und Lärmbelästigung anzeigt, dann muss ich dem nachgehen, das ist mein Job.“ Moacir murrt weiter. Unerwartet wendet sich jetzt ein anderer Kneipier an den Unzufriedenen. Romulo erzählt, seine Kneipe sei anfangs auch als Drogenhöhle denunziert worden. Bis der Kommandant nach mehreren Razzien gemerkt habe: Das war alles gelogen. Heute hat Romulo seinen Laden schallisoliert und macht da Party, solange er will. Und der Umsatz ist sogar gestiegen. Moacir guckt immer noch skeptisch. Da lässt Glauco seine Stimme eine Spur härter werden und sagt sehr leise und sehr deutlich: „Ich kann auch wieder Polizist sein. Für mich wäre es viel einfacher, eine allgemeine Regel aufzustellen, dass nach 22 Uhr allgemein Schluss ist!“
Tatsächlich muss er in einem nahezu gesetzlosen Niemandsland plötzlich Ordnungsregeln durchsetzen. Wo sogar die Kapelle aus dem 19. Jahrhundert voller Einschusslöcher ist und die Bewohner noch Monate, nachdem die Stadt am Fuß des Hügels eine endlose Reihe Mülltonnen aufgestellt hat, ihren Abfall lieber den Abhang hinunterwerfen. Als die Befriedungspolizisten kamen, hielten das viele für den Teil einer Wahlkampagne, und glaubten, nach der Wahl würde alles wie vorher. Manche halten Glaucos Job für Sisyphos-Arbeit, andere vergöttern den jungen Kommandanten, der so gut Zuversicht verbreiten kann. Der dünne Carlos etwa sitzt auf der sauber gefegten, menschenleeren Aussichtsterrasse seines Ausschanks hinter der Kapelle, und sagt zuversichtlich: „Glauco wird schon dafür sorgen, dass Touristen hierher kommen!“
Touristen sind vermutlich der Grund dafür, dass Stadt, Bundesland und Landesregierung beim Projekt der UPPs zusammenarbeiten: In den nächsten Jahren erwartet Rio de Janeiro mit der WM 2014 und den olympischen Spielen 2016 gleich zwei Mega-Events und Hunderttausende Besucher. Die sollen die Schandflecke nicht sehen, die sich jahrzehntelang nahezu ungehindert ausgebreitet haben, sodass heute jeder zehnte Bewohner von Rio in einem Slum lebt. Mehr als sechshundert dieser Favelas schieben sich wie besonders virulente Krebsgeschwüre die einst dicht bewaldeten Hügel der Stadt hinauf und verschlingen das Grün. Rund 450 werden von verschiedenen Drogenmafia-Gruppierungen dominiert, in manchen herrschen – ebenso brutal - Ex-Sicherheitskräfte und Polizisten als sogenannte Milizen. Versuche, diese Parallelmacht zu beenden, waren bis vor kurzem erfolglos; wurde ein Drogenboss festgenommen, wuchsen zwei nach. Investitionen in Infrastruktur und Sozialprojekte blieben meist von politischen Interessen abhängig und kurzlebig. {mospagebreak}
Bislang sind 13 Slums befriedet, darunter die aus dem gleichnamigen Film bekannte Favela „City of God“, wo seitdem der Handel floriert, und die zentral gelegene „Dona Marta“, die seitdem zur Touristen-Attraktion geworden ist. Bis 2014 sollen 150 Elendsviertel befriedet sein, bis 2020 am liebsten gar keine Slums in diesem Sinn mehr existieren. Die Idee der Befriedung stammt aus Kolumbien, wo Polizeipräsenz zu einer deutlichen – allerdings vorübergehenden - Verbesserung der Sicherheitslage geführt hatte. Gleichzeitige Berufsbildungs- und Wirtschaftsförderungsprojekte sollen in Rio mehr Nachhaltigkeit schaffen.
Auch auf der Providência sind die ersten Kurse angelaufen. Jiu-Jitsu und Karate sind zwar nicht berufsbildend, fördern aber den Kontakt zu den Polizisten - die in ihrer Freizeit den Unterricht im Polizeigebäude leiten. Demnächst sollen Computer- und Englischkurse dazukommen, weil die Providência mit ihrem touristischen Potential als eine der ältesten Favelas der Stadt bald zu deren Wahrzeichen gehören soll. Freiwillige unter den Männern zu finden, ist schwierig, denn sie arbeiten ohnehin ermüdend lange Schichten: Hat Glauco keine Angst, dass seinen Polizisten Korruptionsangebote gemacht werden? Der Kommandant setzt wieder sein unbewegliches Hollywood-Gesicht auf. Schließlich sagt er: „Ja, vermutlich wird es sogar passieren, dass Polizisten von uns sich auf Drogenhandel einlassen.“ Pause. Dann: „Aber wenn es so weit kommt, werden wir auch damit umgehen!“ Vielleicht müssen die Kommandanten der UPPs hartnäckige Idealisten sein. Damit sie nicht von vorneherein zurückschrecken vor den drohenden Hindernissen, unter denen korrupte Polizisten zu den geringeren zählen: Schließlich soll es Verflechtungen der Drogenmafia und Milizen bis in höhere Polizeiränge und in die Politik geben.
Früher flohen außerdem aus jeder neu befriedeten Favela massenweise kleinere und größere Dealer und Kriminelle, vor allem in den Slum „Complexo do Alemão“. Der stand damals ganz weit unten auf dem Aktionsplan. Damit Zeit ist, Erfahrungen zu gewinnen, hieß die offizielle Begründung. Als seit dem 21. November bei massiven Übergriffen auf bessere Stadtviertel ungezählte Granaten flogen und Pkws und Omnibusse in Flammen aufgingen, entschlossen sich Gouverneur Sérgio Cabral und Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame am Donnerstag, dem 25. November, zum vorzeitigen Eingreifen. Erfolgreich. Vom ersten großen Sieg im Drogenkrieg wird seitdem viel geredet. Er hat nur einen Makel: 200 besonders gefährlichen Kriminellen gelang schwer bewaffnet die Flucht durch einen Regenwassertunnel. Sie sollen sich in zehn verschiedenen Slums im ganzen Bundesland Rio de Janeiro verkrochen haben. Bislang ist nur eine Handvoll davon festgenommen worden: Die Schlacht ist gewonnen, aber der Krieg hat gerade erst begonnen.
Christine Wollowski arbeitet als freie Journalistin in Brasilien
Nr. 143-2011 Sommer