Transfeindlichkeit in Brasilien
Niklas Franzen
Erika Hilton ist die erste trans Frau im Stadtrat von São Paulo – und wurde zum Popstar. Mit dem Erfolg kamen auch die Angriffe gegen sie.
Plötzlich ist die Angst wieder da. Ende Januar sitzt Erika Hilton in ihrem Stadtratsbüro in São Paulo, als sie laute Stimmen von draußen hört. Ein Mann will sich Zugang zum Büro verschaffen. Er trägt einen Rucksack, auf seine Maske ist ein Kreuz und der Spruch „Gott ist Liebe“ gedruckt. Der Mann wirkt nervös, bleibt eine Weile vor dem Büro. Schließlich gelingt es Mitarbeiter*innen der Politikerin, ihn wegzuschicken, doch er lässt einen Brief da. Darin stellt er sich als „reaktionärer Kellner“ vor und schreibt, Hilton im Netz bedroht zu haben. So erzählt Hilton es der taz. „Es war ein Schreck. Und ein Signal, dass wir nicht sicher sind“.
Zwei Monate zuvor. Am 17. November 2020 steht Erika Hilton im grünen Blümchenkleid auf dem geräumigen Balkon eines Kulturzentrums, im Hintergrund funkeln die Lichter der Megametropole São Paulo. In der Hand hält sie eine Sektflasche, Mitarbeiter*innen liegen sich in den Armen. Das verwackelte Handyvideo, auf dem die Szene zu sehen ist, wurde aufgezeichnet, wenige Minuten nachdem bekannt geworden war, dass Hilton als erste trans Frau in den Stadtrat von São Paulo einziehen wird. 50.508 Stimmen holte sie, so viele wie keine brasilianische Stadträtin jemals vor ihr. TV-Auftritte, InterviewMarathons, Vogue-Coverfoto: Das Leben der 28-Jährigen stellte sich auf den Kopf. Auf einmal war Hilton ein Popstar der brasilianischen Linken.
Doch es gibt eine andere Seite des Ruhms. Die Sozialistin geht nur noch mit Bodyguards auf die Straße, kann nicht mehr in Restaurants sitzen, verbringt viel Zeit in Autos mit getönten Scheiben. Mehr als 50 Morddrohungen brachte sie allein im ersten Monat ihrer Amtszeit zur Anzeige. Ende Januar feuerte ein Unbekannter Schüsse auf das Haus einer Kollegin, vor dem Haus einer weiteren Politikerin schoss ein Motorradfahrer in die Luft. Wie Hilton sind die beiden Schwarz, trans und Mitglied der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL). Ob es einen Zusammenhang zwischen den Taten gibt, ist bisher nicht geklärt. Doch klar ist: Linke Politiker*innen leben gefährlich in Brasilien. Woher kommt dieser Hass?
„Wenn wir die Plätze verlassen, die uns gesellschaftlich zugewiesen sind und Machtpositionen einnehmen, werden wir automatisch Ziel von Angriffen“, sagt Hilton. Rassismus und Transfeindlichkeit seien tief verankert in den Köpfen vieler Menschen. Das mache das Leben „grausam“ für all jene, die am Rand stehen. Schwarze, LGBTI, Vorstadtbewohner*innen. Hilton weiß, wovon sie spricht.
Nicht sicher im Land
Ihre Geschichte ist die Geschichte einer Frau, die am armen Stadtrand von São Paulo aufwuchs. Die auf der Straße schlief, nachdem sie von ihrer streng religiösen Familie rausgeworfen wurde. Die sich als Sexarbeiterin in der Großstadt durchschlug. Die ihre freien Tage im Gefängnis verbrachte, wo ihr Ex-Partner einsaß. Ihre Vergangenheit verstecken? Kommt für Hilton nicht in Frage. „Es ist nicht falsch, was ich gemacht und erlebt habe“, meint sie selbstbewusst. Doch ihr Weg habe viel Kraft gefordert. Irgendwann kehrte sie zu ihrer Familie zurück, nahm ein Studium auf, begann, sich als Aktivistin einzumischen.
Der kometenhafte Aufstieg zur linken Hoffnungsträgerin ähnelt dem Weg einer anderen Frau: Marielle Franco. Die Schwarze, lesbische Menschenrechtsaktivistin aus der Favela Maré mischte als Outsiderin den verkrusteten Politbetrieb von Rio de Janeiro auf. Die linke Stadträtin kritisierte Polizeieinsätze, kämpfte für das Recht auf Abtreibung, legte sich mit paramilitärischen Banden an. Nicht wenige sagten Franco eine große politische Karriere voraus. Doch dann kam der 14. März 2018. An jenem Tag wurde sie zusammen mit ihrem Fahrer ermordet. Der Fall löste Schockwellen aus, auch außerhalb Brasiliens. Heute ist Francos Konterfei auf vielen Wänden zu sehen, Straßen wurden nach ihr benannt. Doch die Auftraggeber der Tat sind bis heute nicht gefasst, die Ermittlungen laufen schleppend – auch weil Polizist*innen die Ermittlungen manipuliert haben sollen. „Was mit Marielle passiert ist, hat ein Warnlicht in uns allen eingeschaltet“, sagt Hilton.
Mitte November schrieb die Schwarze Bundesabgeordnete und Feministin Talíria Petrone: „Wenn man in einem Land keine Politik machen kann, ohne Opfer von Gewalt zu werden, ist die Demokratie in Gefahr.“ Kurz zuvor hatte die enge Freundin der ermordeten Franco bekannt gegeben, vorerst unterzutauchen. Zu konkret waren die Anschlagspläne gegen sie, zu groß die Gefahr für sie und ihre Tochter. Jean Wyllys verließ Brasilien Anfang 2019, kurz nach der Wahl des Rechtsradikalen Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Im Netz hatten Unbekannte den offen schwulen Abgeordneten bedroht und die Adressen von seinen Verwandten veröffentlicht. Wyllys ist bis heute nicht nach Brasilien zurückgekehrt und wohnt jetzt in Barcelona.
Transfeindlichkeit nimmt zu
Was diese Politiker*innen eint: Sie sind Mitglied der PSOL. Die Linksabspaltung der Arbeiterpartei PT erzielte auf lokaler Ebene einige Achtungserfolge, ist im politischen System angekommen. Doch die Partei ist anders geblieben. Sie ist divers aufgestellt und eng mit sozialen Bewegungen verbunden. Die für Brasilien typische Bündnispolitik lehnt sie ab, eckt als Oppositionspartei an. „Wir legen den Finger in die Wunde“, meint Hilton.
Die meisten Politiker*innen Brasiliens sind männlich, weiß und wohlhabend, kurz: die Elite der Gesellschaft. Dass mit Hilton nun eine Schwarze trans Politikerin in das Parlament der größten Stadt Lateinamerikas eingezogen ist, kommt einer kleinen Revolution gleich, zeugt aber auch von der inneren Zerrissenheit Brasiliens. Es ist ein Land, in dem sich Marginalisierte hart ihren Platz erkämpft haben, in dem trans Personen so sichtbar sind wie fast nirgendwo in der Welt. Neben Hilton zogen 30 weitere trans Politiker*innen im ganzen Land in die Lokalparlamente. Es ist aber auch das Land, in dem die Lebenserwartung von trans Frauen bei 35 Jahren liegt, nur die wenigsten dem Kreislauf aus Armut, Sexarbeit und Gefängnis entfliehen können. Und es ist auch das Land, das trauriger Spitzenreiter transfeindlicher Gewalt ist. 175 trans Frauen wurden 2020 ermordet – ein Anstieg um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch Regierungsvertreter*innen heizen die Gewalt an, unter dem rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro nehmen Fundamentalist*innen immer mehr Einfluss.
Dennoch: Im Stadtrat sei sie bisher freundlich aufgenommen worden, erzählt Hilton. Mit einer Ausnahme. Eine rechte Politikerin schwadronierte in einer Rede, eine „globalistische Agenda“ würde „Männer verweiblichen und Frauen vermännlichen“. An wen sich die Worte richteten, war klar. Doch Hilton will sich von solchen Angriffen nicht lähmen lassen. Nicht nur als Opfer gesehen werden. Dem Stadtrat auch mit anderen Themen ihren Stempel aufdrücken. Priorität habe für sie die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit. Während sich die Mittel- und Oberschicht São Paulos in gut bewachten Wohntürmen abschottet, leben Millionen Menschen in der sozial benachteiligten Peripherie, die die Stadt wie ein dichter Wald aus Wellblech und Backstein umgibt. Seit Corona ist kaum noch eine Straßenecke zu sehen, die nicht von Obdachlosencamps bevölkert ist. Selten waren Elend und Verzweiflung größer.
Antworten gegen Bolsonaro
Hilton hat sich viel vorgenommen und denkt bereits darüber nach, auf Bundesebene zu kandidieren. Doch die Realität brasilianischer Politik ist hart, kleinste Verbesserungen müssen mühsam erkämpft werden, die Widerstände des Systems sind brutal. Hinzu kommt: Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, ist die Linke schwach, orientierungslos und zerstritten. Präsident Bolsonaro sitzt trotz zahlreicher Skandale und seines katastrophalen Krisenmanagements fest im Sattel. Ein von vielen Linken gefordertes Amtsenthebungsverfahren ist derzeit chancenlos. Wirkliche Antworten auf das „Krebsgeschwür Bolsonaro“, wie Hilton sagt, gibt es kaum.
So ist es schon fast zu einer Phrase verkommen, wenn Linke beschwören, die „Basisarbeit“ wieder aufzunehmen. Konkret heißt das: den Kontakt mit armen Brasilianer*innen wiederherstellen. Nicht wenige unterstützen Bolsonaro, beten inbrünstig in ultrakonservativen Pfingstkirchen oder haben sich ganz von der Politik abgewendet. Auch Hilton will hier ansetzen. Was sie anders machen wird? „Ich weiß, was es heißt, ausgegrenzt zu sein.“ Und sie will ein Beispiel für andere Marginalisierte setzen. „Wir können nur etwas ändern, wenn wir Einzug in die Politik erhalten.“ Es sind kleine Schritte, die Erika Hilton geht. Höchstens ein Anfang. Aber im derzeitigen Brasilien ist das schon ziemlich viel.
Niklas Franzen, Journalist, schreibt unter anderem für die taz, wo dieser Text als erstes erschien.
Ausgabe 163/2021