Dilma Rousseff ging als Siegerin aus den Wahlen hervor, trotz vieler Rufe nach Wandel und trotz einer schwächelnden Konjunktur. Ihr Herausforderer Aécio Neves war Kandidat der Mitte-Rechts-Partei PSDB, die ebenfalls in den letzten 20 Jahren entweder die Regierung stellte oder die führende Oppositionspartei war. Insoweit ist eines der herausragenden Ergebnisse der Wahlen die Kontinuität im politischen Prozess – genau dies war es, wofür sich die Brasilianer entschieden haben.
Wahlen in Brasilien – Kontinuität versus Wandel Dilma Rousseff gewinnt als Garantin für die Kontinuität der Sozialprogramme
Im Jahr 2013 trieben neben den Skandalen - vor allem dem Mensalão-Skandal - der Kauf von Stimmen von Abgeordneten anderer Parteien durch die PT (vgl. BN 146), die für die Weltmeisterschaft eingesetzten Milliardensummen und die im Bildungs-, Gesundheits- und öffentlichen Verkehrssystem fehlenden Mittel die Brasilianer zu Tausenden mit dem Ruf nach Wandel auf die Straße. Es ist allerdings nur eine Warnung geblieben. Massendemonstrationen vergleichbaren Ausmaßes fanden vor und nach der Weltmeisterschaft in diesem Jahr nicht mehr statt.
Trotz Unkenrufen hatte die 7:1 Niederlage gegen Deutschland im Juni bei der Weltmeisterschaft keinen negativen Folgen für die Regierung. Die Reaktion war oft schwarzer Humor: Die Zeitung „Meia Hora“ aus Rio de Janeiro druckte am Tag danach eine schwarze erste Seite, auf der in weißen Buchstaben stand: „Keine Titelseite“, und darunter „Während Sie das lesen, wird Deutschland noch ein weiteres Tor gemacht haben.“
Der erste Wahlgang
Die Zeit der Wahlkampagne war in der ersten Phase durch die Tatsache geprägt, dass Lulas ehemalige Umweltministerin, die inzwischen über die Grüne Partei (Partido Verde) und die Gründung einer eigenen Partei (Rede Sustentabilidade), die sie jedoch zu spät für die Wahlen angemeldet hatte, in der PSB (Partido Socialista Brasileiro) als Vizepräsidentschaftskandidatin hinter dem Kandidaten Eduardo Campos gelandet war. Als dieser bei einem Flugzeugabsturz umkam, trat Marina Silva als seine Nachfolgerin gegen Dilma Rousseff an. Vor dem Tode von Eduardo Campos lag die PSB (Partido Socialista Brasileiro) hinter der Mitte-Links-Partei PT (Arbeiterpartei) von Dilma Rousseff und dem PSDB (Partido Social Demócrata Brasileiro) von Aécio Neves, dem Enkel des ersten gewählten brasilianischen Präsidenten nach Ende der Militärdiktatur, der jedoch starb, bevor er die Präsidentschaft antreten konnte. Nachdem Marina Silva Präsidentschaftskandidatin geworden war, erschien sie als die Kandidatin des Wandels. In den Meinungsumfragen überholte sie Aécio Neves, und es sah ganz so aus, als ob sie in einem zweiten Wahlgang gegen Dilma Rousseff Siegchancen haben könnte.
Wofür standen die drei Bewerber? Dilma Rousseff vertrat im Wesentlichen eine Politik der Kontinuität der bisherigen Politik, mit der Fortführung der Sozialprogramme und einer Wirtschaftspolitik, die charakterisiert wird durch Konjunkturförderung über Infrastrukturprogramme und generell durch Großprojekte, wobei die Umweltpolitik eine eher untergeordnete Bedeutung hatte. Dem Staat wird weiter eine wichtige Leitungsrolle zugesprochen. Aécio Neves versprach ebenfalls die Fortführung der Sozialleistungen, die unter der Arbeiterpartei (PT) von Lula da Silva und Dilma Rousseff eingeführt wurden. Aécio war aber trotzdem der Kandidat der Wirtschaft. Der Staatseinfluss sollte vermindert werden, Staatsbetriebe sollten privatisiert werden. Diese beiden Kandidaten sind Vertreter von Parteien, die mehr als 25 Jahre das politische Leben Brasiliens wesentlich mitbestimmten. Marina Silva kam als Vertreterin des PSB (Partido Socialista Brasileiro), einer Partei aus dem linken Parteienspektrum, die sich keineswegs mit ihren eigenen Vorstellungen deckten. Sie ist eine aus einfachen Verhältnissen in Amazonien stammende Umweltaktivistin, die sich speziell in diesem Bereich ausgezeichnet hat, auch als Umweltministerin unter Lula. Aus Protest gegen die Großprojekte in Amazonien und im Nordosten war sie zurückgetreten und vertrat Gegenpositionen zu Dilma Rousseff, die zu dieser Zeit Kabinettsministerin bei Lula war. Sie kämpfte gegen Korruption und für eine Verbesserung des öffentlichen Dienstleistungswesens. Hiermit sprach sie als Kandidatin des Wandels für die Brasilianer, die letztes Jahr demonstriert hatten. Gleichzeitig ist sie Mitglied einer evangelikalen Kirche und konnte so auf Stimmen aus diesem Lager rechnen, zu dem etwa ein Viertel der Brasilianer zu rechnen ist.
Als sie in den Umfragen den beiden Konkurrenten gefährlich wurde, bekam sie starken Gegenwind zu spüren. In der öffentlichen Debatte wurde sie sozusagen zerfetzt. Inhaltliche und persönliche Schwachpunkte traten deutlich zutage: Sie hat häufig die Partei gewechselt und mit der PSB steht ihr nur eine unzureichende Anzahl von Abgeordneten im Kongress zur Seite. Ihre Vorstellung, mit wechselnden Abgeordneten anderer Parteien ihre Gesetze im Kongress durchzubringen, ist widersprüchlich, da dies wiederum der Korruption, wie gehabt, Tür und Tor öffnen würde. Sie versprach, die Sozialprogramme weiterzuführen, hohe Investitionen in das Gesundheits- und Bildungssystem zu tätigen - und gleichzeitig den Staatshaushalt ausgeglichen zu halten. An der Durchführbarkeit dieses Programms konnte durchaus gezweifelt werden Viele befürchteten, dass dann an den Sozialprogrammen gespart würde.
Noch in der Woche vor dem ersten Wahlgang am 5. Oktober 2014 lag Marina Silva hinter Dilma Rousseff, aber vor Aécio Neves. Doch in der ersten Wahlrunde erzielte sie lediglich 21%, hinter Aécio Neves mit 33,6% und Dilma mit 41,6%.
Der zweite Wahlgang
Im zweiten Wahlgang am 26. Oktober 2014 standen sich Dilma und Aécio gegenüber. Das Ergebnis war der knappste Sieg bei brasilianischen Präsidentschaftswahlen seit 1894: Dilma erreichte 51,64%, Aécio 48,36%. Gleichzeitig zeigt sich eine Teilung des Landes. Im Norden und Nordosten Brasiliens, den weniger entwickelten Landesteilen, gewann Dilma Rousseff, im Süden, Südosten und im Zentrum-Westen gewann Aécio Neves. Ein erstaunliches Wahlergebnis gab es in Minas Gerais. Dilma gewann, obwohl (oder weil) dort Aécio zwei Amtszeiten als Gouverneur regiert hatte. Außerdem verfehlte er den Wahlsieg in Rio de Janeiro. Die Niederlage in diesen beiden Bundesstaaten kostete ihn die Präsidentschaft. Seine Kampagne war wohl zu sehr auf Anti–PT-Gefühle ausgerichtet, gleichzeitig aber versprach er, die erfolgreichen Sozialprogramme der Regierung weiterzuführen. Die PSDB hat im Vergleich mit der PT ein eher elitäres Image.
Im zweiten Wahlgang spiegelt die oben erwähnte regionale Zweiteilung des Landes auch im gesamten Land eine soziale Zweiteilung wider. Die Ärmeren wählten Dilma, und die Wohlhabenderen Aécio. Die PT gewann in den 9 Staaten des Nordostens (Alagoas, Bahia, Ceará, Maranhão, Paraíba, Piauí, Pernambuco, Rio Grande do Norte und Sergipe) mit durchschnittlich mehr als 70%, in den Staaten des Nordens (Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima und Tocantins) mit 56%. Im Zentrum–Westen (Distrito Federal, Goiás, Mato Grosso e Mato Grosso do Sul) gewann Aécio mit 57%, im Südosten mit 56% (São Paulo, Minas Gerais, Rio de Janeiro und Espirito Santo), wobei er in São Paulo 64,4% erhielt und im Süden (Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná) 59% der Stimmen.
2002 trat die PT bei den Wahlen als eine Partei an, die überzeugend gegen die Korruption kämpfte, da sie bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in größere Korruptionsskandale verwickelt war. Hierdurch war sie für Mittelschicht und Intellektuelle der großen Städte des Südostens und Südens attraktiv. Seit 2005 der Mensalão-Skandal, der Kauf von Stimmen von Abgeordneten anderer Parteien durch die PT (vgl. BN 146) an die Öffentlichkeit kam und die PT hierdurch ihres Images als nicht korrupte Partei verlustig ging, verlor die PT zunehmend diese Wählerschichten. Gleichzeitig gewann sie durch die Sozialprogramme Wähler im Nordosten, die vorher nicht für sie gestimmt hatten.
Durch diese Wahl konsolidiert sich ein Prozess, der seit den ersten von der PT gewonnenen Wahlen 2002 begann: Die PT erweiterte ihr Wahlvolk im Nordosten insoweit, dass seit 2002 ihr dortiger Wählerstamm kontinuierlich und beträchtlich von damals 25% aller Stimmen auf 37% im Jahre 2014 stieg. Demgegenüber fiel der Wähleranteil im Südosten (São Paulo, Minas Gerais, Rio de Janeiro und Espírito Santo) von 47% im Jahre 2002 auf 36% 2014 und lag somit zum ersten Mal unter dem Wähleranteil im Nordosten. Im selben Zeitraum verlor die PT im Süden ebenfalls Anteile, aber weniger dramatisch von 15% auf 12%. Bei der PSDB war die Situation genau umgekehrt: Sie erhöhte ihren Wählerstamm im Südosten von 44% (2002) auf 50% im Jahre 2014 und im Süden von 17% auf 19%.. Andererseits sank er im Nordosten von 25% auf 16%.
Insgesamt errangen bei den Wahlen neun Parteien mindestens einen Gouverneursposten, 2010 waren es lediglich sechs Parteien. In 27 Bundesstaaten gewann die PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), der im rechten Spektrum angesiedelte wichtigste Koalitionspartner der PT, sieben Gouverneursposten, gegen jeweils fünf der PT und der PSDB und drei der PSB.
Im Abgeordnetenhaus errang die PT 70 Stimmen, gefolgt vom PMDB mit 66 und der PSDB mit 54 Stimmen. Die PT schloss mit der zum rechten Parteienspektrum gehörenden PMDB und weiteren acht, großenteils dem linken Spektrum zuzurechnenden Parteien eine Koalition ab, mit der sie 304 Abgeordnete und somit 59% der Mitglieder des Abgeordnetenhaus auf ihrer Seite hat.
Im Senat gewann die PMDB 18, die PT 12 und die PSDB 10 Stimmen. Auch hier wird Dilma mit, neben der PMDB, weiteren acht Parteien koalieren, mit denen sie eine Mehrheit von 65 % der Stimmen des Senats hat. Es bleibt die Frage, ob diese Koalitionen halten. Dilma hatte im Jahre 2010 ein Bündnis, in dem nicht neun, sondern elf Parteien teilnahmen, die aber nicht alle heute dabei sind.
Auch bei Dilma Rouseff war das Schlagwort „weitere Veränderungen“ der beherrschende Slogan der politischen Debatten. Hierzu sind politische Reformen unabdingbar. Sie sind aber nur bei einer Mehrheit im Kongress möglich. Dass sie schwer durchzusetzen sind, wurde bereits deutlich, als letztes Jahr Versuche scheiterten, eine Reform der Parteienfinanzierung, einer der Hauptquellen für Korruption in Brasilien, durchzuführen. Bei den Wahlen verlor Dilmas Arbeiterpartei 18 Sitze und ihr wichtigster Verbündeter, die PMDB verlor fünf Sitze, gegenüber der PSDB, die 10 Sitze gewann. Der Kongress ist heute noch zersplitterter: Aus den Wahlen von 2010 waren 22 Parteien hervorgegangen, jetzt sind es 28 Parteien. Mehrheiten im Kongress zu beschaffen, wird also noch schwieriger. Unter diesen Bedingungen eine politische Reform durchzuführen, zu der auch eine Verminderung der Parteien im Parlament gehören würde, wird einiges Kopfzerbrechen bereiten. In jedem Falle würde eine solche politische Reform nur mittel- und langfristig Wirkungen zeitigen.
Es kann allerdings sein, dass der Skandal bei der staatlich kontrollierten Ölfirma Petrobras, den die Opposition in Anlehnung an den Mensalão-Skandal (vgl. BN 146) mittlerweile Petrolão nennt, Bewegung in den politischen Reformprozess von neuem auf der Ebene der Parteienfinanzierung bringt. Hier wurden überhöhte Preise von Firmen verlangt, die sich um Kontrakte mit Petrobras bemühten. Der dadurch erzielte Gewinn in Höhe von bis zu 3 Mrd. Reais, der immerhin 3% des Wertes aller Verträge ausmachte, floss in die Hände der PT und der mit ihr verbündeten Parteien. Der ehemalige Direktor von Petrobras, Paulo Roberto Costa, und Alberto Yousseff, der Mittelsmann des Korruptionsnetzes, machten dementsprechende Geständnisse und erhoffen sich davon Straferleichterungen, Neben einem Untersuchungsausschuss des Kongresses, der bis Dezember 2014 die Praktiken bei Petrobras prüft, hat auch die US Securities and Exchange Commision (SEC) eine Untersuchung eingeleitet, ob Petrobras, dessen Aktien an der New Yorker Börse (NYSE) gehandelt werden, gegen den US- amerikanischen Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) verstoßen hat. Es dies ein US-Antikorruptionsgesetz, das die Bestechung ausländischer staatliche Amtsträger zum Zwecke des Abschlusses eines Geschäfts verbietet.
Wirtschaftliche Lage
Seit einigen Monaten brennt es auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Inflation liegt bei 6,75% und damit oberhalb des Zielkorridors von 4,5% plus/minus 2%. Die Lohnerhöhungen werden von der Inflation weitgehend gefressen: Für 2015 ist eine Mindestlohnsteigerung um 8,8% vorgesehen, die Inflation liegt augenblicklich bei 6,7%. 2013 war die Mindestlohnsteigerung 6,78%, die Inflation lag bei 5,9%. Der Konsumentenboom, der die Wirtschaftskonjunktur bisher trug, ist inzwischen verpufft, die Rohstoffpreise sind gefallen (vgl. BN 147). Das Wirtschaftswachstum war in den ersten zwei Quartalen 2014 unter null Prozent, 0,2% im ersten und 0,6% im zweiten Quartal. Für das ganze Jahr 2014 wird von der Brasilianischen Zentralbank Mitte November 2014 noch ein Wachstum von 0,2% erwartet, und für 2015 ein Wachstum von 0,8%. 2013 hatte es noch 2,3%, und 2% im Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2013 betragen. Die Staatsverschuldung steigt und der Real steht ebenfalls unter Druck. Das Leistungsbilanzdefizit wächst wegen der sinkenden Einnahmen für Soja und Erz. Positiv ist die niedere Arbeitslosigkeit, die im September 2014 4,9% betrug. Mit der konjunkturellen Eintrübung ist allerdings auch hier in Zukunft mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu rechnen. Die wirtschaftliche Abschwächung schlägt sich neben dem bereits genannten sinkenden Binnenkonsum in der fallenden Wirtschaftsleistung des Industriesektors um 0,8% und sinkenden Investitionen um 2,1% nieder. Hierfür spielt die anhaltende Wirtschaftskrise in der Euro-Zone, die Wachstumsverlangsamung in China und die auf dem Weltmarkt sinkenden Rohstoffpreise eine Rolle. Durch die Normalisierung der US-Währungspolitik und das Ankurbeln der US-Konjunktur werden die USA wieder attraktiv für Investoren, die sich daher aus Brasilien zurückziehen.
Kern der Wirtschaftspolitik von Dilma Rousseff ist weiterhin das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsprogramm (PAC: Programa de Aceleração do Crescimento), das massive Investitionen in die soziale, städtische, logistische und energetische Infrastruktur vorsieht. Sie sollen die Konjunktur beleben. Das Problem besteht allerdings darin, wie sie finanziert werden sollen. Steuererhöhungen könnten die Konjunktur gleich wieder abwürgen, eine Erhöhung der Staatsverschuldung würde gegen das brasilianische Haushaltsgesetz verstoßen.
Die Inflation soll gebremst werden: Ende Oktober erhöhte die Zentralbank die Zinsrate von 11% auf 11,25 %. Aber durch die angekündigte Erhöhung der Benzin- und Dieselpreise steht weiterer Druck auf die Währung an.
Zu den weiteren Schwerpunkten der Regierung gehört eine Steuerreform, aber auch hier gehört zu ihrer Realisierung eine Mehrheit im Kongress. Das wird kaum zu bewerkstelligen sein, denn die Wahlen von 2014 haben die konservativen Kräfte im Kongress verstärkt und dazu geführt, dass diese mit noch mehr Parteien in ihm vertreten sind. Brasilien geht deshalb einer schwierigen Zukunft entgegen.
Ausgabe 150/2014