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Wandel und Kontinuität in der brasilianischen Politik

Alle bestätigen dass sich die Republik in der Krise befindet. … dass sie schließlich den Interessen der herrschenden Klassen im Land unterlag, und starb.“ Manifesto dos Economistas por uma Nova Política Econômica, Rio de Janeiro 25.7.2005

„Wenn der Präsident Lula sagt, dass er die Wirtschaftspolitik führt, hat er keine Idee davon, was für einen Blödsinn er redet. Dies ist nicht seine Politik, sondern die Politik der G 7, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation.“ João Pedro Stedile, Vorsitzender des MST, Assembléia Popular 27.10.2005
„Gegenüber dem Volk ist die Krise durch das Programm Bolsa Familia verschleiert.“ João Pedro Stédile, O Estado de São Paulo 13.6.2007.
Gibt es eine Krise des politischen Systems in Brasilien? Die Zitate sprechen dafür. Vielleicht sind sie auch nur der Ausdruck einer Aufgeregtheit in der politischen Diskussion. So sei nach der Wiederwahl Lulas im Oktober 2006 die Frage gestellt, wodurch sich heute die brasilianische Politik auszeichnet, welche Veränderungen gegenüber vorigen Regierungen festzustellen sind, wo sich in der politischen Willensbildung eine Kontinuität entwickelt hat, und wie das politische System einzuschätzen ist.

Wandel durch Kontinuität

Ein wichtiges Element des Wandels in der brasilianischen Politik ist ein dialektischer qualitativer Sprung: Es ist die Kontinuität in der Form, in der Politik seit der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso (FHC) gemacht wird. Seitdem hat sich eine Form der Politik herausgebildet, in der nicht mehr Programme, die von der Vorgängerregierung begonnen worden waren, verworfen und neue Programme mit anderen Schwerpunkten initiiert wurden. Eine solche Kontinuität lässt sich in der Ausgestaltung des Programms Fome Zero und speziell Bolsa Familia feststellen: Programmelemente, die bereits unter FHC begonnen wurden, erhielten in dem weiter gefassten Programm ihren Platz und wurden weitergeführt. Diese schließen Maßnahmen nicht nur im sozialen, sondern auch im Gesundheits- und Erziehungsbereich ein.
Hierbei ist festzustellen, dass sich insofern eine parlamentarische, repräsentative Demokratie in Brasilien herausgebildet hat, die mit allen Defizienzen eine Routine des demokratischen Prozederes entwickelt hat. Hierfür war das Impeachment des Präsidenten Color im Jahre 1992 bereits ein erstes Indiz, das durch ein rechtsstaatliches und verfassungskonformes Vorgehen in diesem Prozess charakterisiert war. Dies unterscheidet Brasilien von einigen anderen südamerikanischen Ländern, wo der politische Prozess durch ausgesprochen populistische Züge charakterisiert ist, die eine Rückkehr zu autoritären Regierungsformen mit sich bringen könnten.

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Wirtschaftspolitik

Eine Kontinuität hat sich entwickelt in der Fortführung einer weitgehend neoliberalen Wirtschaftspolitik, besonders in der Exportförderung, dem Schuldenabbau, und Beibehaltung der Währungsstabilität (zur Zeit 3,5% Inflation, im Schnitt der Jahre 2003-2006 6,4%) und damit verknüpft der Aufrechterhaltung einer Hochzinspolitik, auch wenn in der Zwischenzeit der Basiszinssatz auf 12% im Mai 2007 heruntergesetzt wurde.  In diesem Zusammenhang wurden die Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds sogar übererfüllt. Die Landverteilung erfolgt in einem sehr viel langsameren Rhythmus als vorgesehen und an eine Agrarreform ist unter dieser Regierung nicht zu denken. Diese Wirtschaftspolitik wurde als orthodox, rezessiv und zu wenig wachstumsfördernd kritisiert. Es ist trotz allem anzumerken, dass sie zu einer Wachstumsrate von durchschnittlich 3,2% zwischen 2003 und 2006 (vgl. revidierte Daten des IBGE) führte, die im Vergleich zu den Wachstumsraten von China, Indien oder auch Argentinien und Venezuela niedrig, aber gleich hoch wie Mexiko ist und lediglich 0,7 % niedriger als der Schnitt aller lateinamerikanischen Länder – und wesentlich besser als die Wachstumsrate von 1,1% im Schnitt der 80iger Jahre.
Unter  Lula wurde die Privatisierungspolitik der Regierung FHC nicht weitergeführt. Dies ist ein wichtiger Bereich, wo er sich neoliberalen Interessen nicht gebeugt hat.
Es zeigt sich auch bei seiner  2. Amtsperiode, wie schwierig es ist, eine gemeinsame und in sich konsistente Politik in einer Koalition mit 11 Parteien zu formulieren. Im Rahmen einer repräsentativen Demokratie existiert der Zwang zu Koalitionen im Inneren, wenn die eigene Partei oder ein Parteienbündnis nicht die Mehrheit im Parlament per Wahlen erhalten hat. Dazu kommt, dass in der aktuellen Phase der Globalisierung jedes Land den neoliberalen vorherrschenden Tendenzen ausgesetzt ist. Es ist nicht möglich, sich aus dem Weltmarkt auszuklinken,  Für ein Schwellenland wie Brasilien stellt sich die Frage, ob es nicht selbst auch die Chancen des offenen Weltmarktes nutzen, und  zumindest in Teilbereichen den technischen Fortschritt mit prägen kann (Beispiel Ethanol – Produktion /  Bio – Benzin), und ob es andererseits nicht durch dessen Geschwindigkeit und die internationale Konkurrenz  auf die Verliererseite gedrängt wird. Lulas Taktik war es hier, auf die Ethanolproduktion zu setzen, ihre Verbreitung sogar Anfang März 2007 vertraglich mit den USA abzustimmen, und Ethanol als klimafreundliche Alternative zu propagieren, was sehr wohl bei Umweltschützern umstritten ist, und auf der anderen Seite Allianzen mit anderen aufstrebenden Schwellenländern und Entwicklungsländern zu bilden, gemeinsam Interessen auf der internationalen Ebene (Welthandelsorganisation, G 20 und G5 Treffen etc.) zu bündeln und so international Einfluss nehmen zu können.

Außenpolitik

In der Außenpolitik steht die Regierung Lula in der Tradition der Vorgängerregierungen. Unter Fernando Henrique Cardoso (FHC) sollte Brasilien eine führende Rolle in Lateinamerika entsprechend seiner wirtschaftlichen Rolle spielen, und dies in Absprache mit anderen lateinamerikanischen Nationen wie Argentinien. Neu ist, dass Lula diese Rolle nicht auf Lateinamerika beschränkte. Er legte ein stärkeres Gewicht auf eine multipolare Politik: auf eine stärkere Eigenständigkeit gegenüber den USA durch die Vergrößerung des MERCOSUL und die Isolierung der von den USA geförderten ALCA, auf  die Bildung eines Blocks der Entwicklungsländer G20, und auch der neuen aufstrebenden Schwellenländer mit China, Indien, Südafrika und Mexiko (G5), sowie auf den Versuch der Bildung einer gemeinsamen Front der Entwicklungsländer zum Abbau der Zollschranken im Rahmen der Welthandelsorganisation. Neu im Vergleich zur vorigen Regierung ist eine kritische Haltung der Regierung Lula gegenüber der Globalisierung und Öffnung der Zollgrenzen der Entwicklungsländer, und auf der anderen Seite die Forderung nach Abbau von Subventionen für Agrarprodukte in den USA und Europa und der Öffnung der Märkte der Industrieländer für Produkte aus den Entwicklungsländern. Gleichzeitig wurde der klare Wunsch nach einem permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ausgedrückt. Die Regierung Lula legt einen stärkeren rhetorischen Wert auf die Gleichheit und Souveränität der Länder, als dies FHC getan hat und verfolgt die Strategie, Allianzen mit Mittelmächten und auch den aufstrebenden Ländern einzugehen.
Die Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds (IWF) sind vergleichbar denen unter FHC: Neben der Währungsstabilität wurde die Aufrechterhaltung eines hohen fiskalischen Überschusses zum Zweck des Schuldenabbaus vereinbart, solange dies für notwendig erachtet wird. Die Schulden an den IWF wurden bis Ende 2005 zurückgezahlt. Die orthodoxe Wirtschaftspolitik wurde bis heute weitergeführt.{mospagebreak}

Sozialpolitik

Im Zentrum der Sozialpolitik steht das Null Hunger Programm mit der Bolsa Familia, dem umfassendsten Einkommenstransferprogramm in ganz Lateinamerika, das inzwischen etwa 11 Millionen Familien erreicht. In dieses Programm können sich Familien mit einem Pro-Kopf- Einkommen von weniger als 120 Reais (heute knapp 46 €) einschreiben und eine monatliche Einkommensaufbesserung von 15 Reais  (knapp 6 €) pro Kind für maximal drei Kinder erhalten. Familien mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen unter 60 Reais (23 €) können einen fixen Betrag von 50 Reais (19 €) im Monat erhalten. Voraussetzung für diesen Einkommenstransfer sind allerdings, dass schwangere Mütter die Vorsorgeuntersuchungen machen, Kinder bis sechs Jahren regelmäßig die Gesundheitsstationen aufsuchen und die vorgesehenen Schutzimpfungen erhalten, und dass die schulpflichtigen Kinder ihre Anwesenheit von mindestens 85% in der Schule nachweisen können.
Zunächst einmal führte dies dazu, dass der Prozentsatz der armen Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als 120 Reais von 28% im Jahre 2003 auf 23 % gesunken ist.
Der Gini Index, der Standardmaßstab für die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Einkommensverteilung ist – 1 ist völlige Ungleichheit, 0 völlige Gleichheit, der in den Jahren 1977 bis 1998 im Wesentlichen bei 0,60 lag, ist bis 2003 auf 0,58 und seither auf 0.53 gesunken. (vgl. Daten des IBGE/PNAD).  Dies bedeutet, dass einmal die in den 90iger Jahren stagnierende Ungleichheit abgebaut wird, und zweitens die Armutsbekämpfungsmaßnahmen zu greifen beginnen. Neben dem Transferprogramm spielten hierbei die beträchtliche Erhöhung des Mindestlohnes (von 200 Reais - 76 € -2002 auf 380 Reais - 145 € - 2007), die niedere Inflation und auch das Wachstum der Beschäftigung die wesentliche Rolle. Kritikern, die die Transferleistungen als assistenzialistisch und als kontraproduktiv charakterisieren, um aus der Armut herauszukommen,  möchte ich lediglich zu bedenken geben, dass wir hier in Europa ein soziales Netz haben, in dem Einkommenstransfers in sehr viel größerem Umfang erfolgen. Mit der Würde des Menschen ist Elend nicht zu vereinbaren. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit zu einer Grundbedürfnisbefriedigung haben. Und durch die Verbindung der Zahlungen an Gesundheits- und Bildungsmaßnahmen ergeben sich wichtige erste Perspektiven aus Armut und Not. Dass dieser Prozess nicht unmittelbar einhergeht mit der Verringerung der Kriminalität, ist ein trauriges Faktum. In den letzten Jahren ist eine Besorgnis erregende Zunahme festzustellen, die in São Paulo und Rio seit 2006 geradezu explodierte: Den Drogenbossen und Gangs gelang es, das öffentliche Leben für Tage zum Stillstand zu bringen.
Parteienspektrum
Auch in der Parteienlandschaft hat sich eine Kontinuität herausgebildet. Es haben sich insgesamt seit dem Ende der 80iger Jahre 4 große Parteien etabliert, die in den Wahlen von 2006 insgesamt 299 (d.h. knapp 60 %) der Abgeordneten stellten: Zunächst gibt es die PT (Partido dos Trabalhadores, 1990 gegründet) als eine sozialistisch- sozialdemokratische Partei links der Mitte und die PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira, seit 1988) als Sozialdemokratische Partei rechts der Mitte. Die PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), ist 1979 als Nachfolgepartei der MDB entstanden, dem alten Sammelbecken in dem sich die demokratischen Kräfte zur Zeit der Militärdiktatur gegen die von dieser offizialisierten Partei, der ARENA gesammelt hatten, und die heute im Wesentlichen rechts der Mitte angesiedelt ist, und ist seit 2003 mit der PT eine Koalition eingegangen ist. Und schließlich existiert seit 1985 die PFL (Partido da Frente Liberal) heute DEMOCRATAS genannt, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums angesiedelt ist und mit der PSDB zur Zeit der Präsidentschaft Fernando Henrique Cardosos eine Koalition eingegangen war. Die übrigen 214 (d.h. gut 40% der) Abgeordneten teilen sich in 16 Parteien auf. Die Regierungskoalition, die Lula Ende März 2007 bildete, wird neben der PT und dem PMDB von weiteren 9 Parteien unterstützt.
Hier ist der Physiologismus eine weiterhin verbreitete Erscheinung. Er bedeutet, dass eine Reihe von Parteien selbst sich insofern im Zeitablauf wandeln als sie möglichen Zugang zur Macht suchen. Sie wandern hinter den Parteien her, die an die Macht gekommen sind. Und es gibt jeweils einen gewissen Prozentsatz der Abgeordneten, die je nach dem Erfolg oder Misserfolg nach den Wahlen ihre Partei wechseln.
Auch der Klientelismus / Nepotismus / Vetternwirtschaft ist ein Phänomen, das seine Wurzeln in der traditionellen Form der brasilianischen Politik hat. Wer einen politischen Status auf welcher Ebene auch immer erreicht hat – dies kann auf der kommunalen, der bundesstaatlichen oder föderalen Ebene sein – verwendet ihn, um Familienangehörige und Freunde bzw. Menschen, denen sie eine Gefälligkeit schulden, auf Posten zu setzen, über die sie aufgrund ihrer Stellung verfügen können. Hier wird das Kriterium der Eignung für eine Tätigkeit völlig ausgesetzt. {mospagebreak}

Korruption

Korruption ist kein neues Phänomen, weder in Brasilien, noch anderswo. Ich erinnere nur an die Korruptionsaffaire in Sachsen, die seit Mai diesen Jahres bekannt wurde: Es handelt sich um ein Netzwerk organisierter Kriminalität unter Einschluss von Polizei, Justiz (Richtern und Staatsanwälten) und Politik. Neu in Brasilien ist, dass Korruption seit 2005 zum zentralen Thema der politischen Auseinandersetzungen wurde, da auch die PT involviert war, deren Markenzeichen bisher gewesen war, nicht korrupt zu sein. In Korruptionsfälle sind und waren Mitglieder der Elite verstrickt: Es handelt sich zum einen um Leute aus der Wirtschaft (oft Baufirmen)  und Politik. Impliziert sind Senatoren, Abgeordnete, der Senatspräsident, auch ein Minister. Um die Regierung zu schonen, trat im Mai 2007 der Bergbauminister vom PMDB zurück, als er in einen Korruptionsskandal verwickelt wurde – dies ist neu in Brasiliens Politik.  Auf der anderen Seite des Spektrums befinden sich die Mitglieder des illegalen Glücksspiel und der Drogenmafia, aber auch die Polizei und Justiz. Im April diesen Jahres wurde sogar ein Richter des Obersten Gerichtshofes angeklagt, von einem illegalen Spielring bestochen worden zu sein. Auf dem internationalen Korruptionsindex von Transparency International, in dem 163 Länder aufgenommen sind, liegt Brasilien 2006 an 70. Stelle.
Dass Mitglieder der PT sich genau wie die anderer Parteien an der Korruption beteiligten, wirkte wie ein Schock. Aber genau dieses Postulat der Ethik, von dem die PT ursprünglich ausging, wird jetzt auch von ihr eingefordert. Korruption wird hier nicht nur aus der Perspektive eines Diebstahls von Eigentum beurteilt sondern ausgehend von der Idee, dass das öffentliche Gut (bem comum) nicht respektiert und daher herabgesetzt, entwürdigt wird, und dass dies einen Mangel an Ethik beinhaltet. Daher werden diejenigen, die dagegen verstoßen haben, von der politischen Bühne gejagt. Es hat sich ein Bewusstsein entwickelt, wie negativ dies ist, und dass Korruption zu ächten ist.
Folge ist auch, dass es eine stärkere Kontrolle gibt: Das Weiß-Waschen von Geld wird verfolgt, gleichzeitig werden die ONG’s stärker unter die Lupe genommen. Dies haben wir bei dem von uns geförderten Ausbildungsprojekt in Salvador im November 2006 insofern gespürt, als die Gelder erst 6 Wochen später ausgezahlt wurden, weil die Zentralbank das Original eines Aufstockungsbescheides des Projekts sehen wollte.
Justiz und Presse
Zu dem Faktum, dass jetzt auch Richter und Staatsanwälte in Korruptionsprozessen angezeigt werden spricht ein weiterer Punkt für eine größere Unabhängigkeit der Justiz. Im Mai 2007 wurde der Landbesitzer Vitalmiro de Moura aus dem Amazonasstaat Pará zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, da er den Mord an der Missionarin Dorothee Stange in Auftrag gegeben hatte. Dies ist ein Meilenstein in der brasilianischen Justiz: Bisher wurden - falls überhaupt -  die anygeheuerten Mörder verurteilt. Die Auftraggeber blieben unbehelligt. Auch dieses Urteil scheint mir ein weiteres Indiz dafür zu sein, dass sich Brasilien in die Richtung einer repräsentativen Demokratie entwickelt.
Ein weiterer Punkt einer solchen Entwicklung ist die Rolle der Presse. Unabhängig davon, wer an der Macht ist, spielt die Presse neben der Legislative eine Kontrollfunktion. In Brasilien ist z.B. heute die größte Tageszeitung, die Folha de São Paulo, eine permanente Kritikerin der Regierung Lula. Auch dies ist Bestandteil einer Normalisierung des politischen Alltags in Brasilien.

Ausblick

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich in Brasilien  in den letzten 14 Jahren eine repräsentative Demokratie eingespielt hat. Ich bin der Meinung, dass gerade  nach den Erfahrungen der zwei Jahrzehnte dauernden Diktatur  die Qualität einer rechtsstaatlichen Demokratie als eine hart erkämpfte Errungenschaft nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die Verfassung von 1988 wurde unter umfassender Einbeziehung der Zivilgesellschaft ausgearbeitet. Es hat sich ein Parteienspektrum entwickelt, dessen größte Parteien sich inzwischen fest etabliert haben. Unter Lula wurde die orthodoxe Geld- und Fiskalpolitik der Vorgängerregierung fortgesetzt, die Privatisierungspolitik jedoch eingestellt. Umfassende Reformmaßnahmen, etwa eine Agrarreform sind in seiner zweiten Regierungszeit nicht zu erwarten. Er setzt auf verstärkte Wachstumspolitik unter Einschluss von Großprojekten (Staudamm am Rio Madeira und Umleitung des Rio São Francisco), weniger auf umweltpolitisch relevante Maßnahmen. In seiner Regierungszeit wurden die Mindestlöhne wesentlich gesteigert und die Sozialprogramme für die Ärmsten stark ausgeweitet, so dass sich die ungleiche Einkommensverteilung verbessert hat. Außenpolitisch wird der Kurs früherer Regierungen fortgesetzt und verstärkt auf gemeinsame Allianzen mit anderen Entwicklungs- und Schwellenländern auch außerhalb von Lateinamerika gesetzt, um den Industrieländern stärkere Zugeständnisse abhandeln zu können. Auch unter einer PT Regierung gibt es Korruption, aber man beginnt, anders mit ihr umzugehen. Die Kriminalität wird gesteigerte Aufmerksamkeit erfordern. Justiz und Presse sind zunehmend unabhängigere Pfeiler des heutigen brasilianischen politischen Systems. Daraus folgt, dass dieses in meinen Augen keineswegs in der Krise ist.

von Peter von Wogau

Nr. 138-2008