„Wer in den Regen rausgeht, weiß, dass er nass wird“
Pe. Júlio Lancellotti ist seit fast 30 Jahren der Leiter der Obdachlosenpastoral der katholischen Kirche in São Paulo. „Padre“ (also Pater, abgekürzt Pe.) bedeutet allerdings nicht, dass er einem Orden angehört, sondern ist eine einfache Anrede – er wurde Diözesanpriester, nach einigen Umwegen und anderen Ausbildungen, darunter auch Krankenpflege. Obwohl er natürlich mit einem großen Team und vielen Unterstützer*innen arbeitet, ist er das „Gesicht“ dieser Pastoral geworden – Obdachlose selber haben ja selten ein Gesicht.
Vor allem aber wird er immer wieder zur Zielscheibe von persönlichen Angriffen. In einem Land, in dem oft genug auf der Straße schlafende Menschen überfallen, ermordet oder auch „nur“ angekokelt werden, ist das auch kaum anders zu erwarten. Seine Tätigkeit ist vor allem Geschäftsleuten der entsprechenden Stadtviertel ein Dorn im Auge, die solche Menschen und deren Lebensumstände für geschäftsschädigend halten.
„Pastoral“ darf hier nämlich nicht als Seelsorge im Sinne einer rein geistlichen Tätigkeit missverstanden werden. Sie beinhaltet vielmehr das, was typisch ist für Sozialarbeiter, Streetworker oder Hilfsorganisationen wie die „Tafel“: Essen, Trinken, Waschen, Schlafen, medizinische Behandlung, Möglichkeiten zur Rückkehr in ein besseres Leben. Ohne Ansehen der Person, ohne die Frage nach Religion, ohne Bedingungen zu stellen.
Bei dem Interview fällt auf, was auch bei anderen Sozialpastoralen zu beobachten ist: der häufige Rückgriff auf offizielle theologische Aussagen. Auch wenn Papst Franziskus neulich aus heiterem Himmel bei Pe. Júlio anrief und ihn zum Durchhalten ermunterte, so sind solche ganz praktischen Erscheinungsarten der Befreiungstheologie vielen immer noch kommunismusverdächtig. Befreiung, Gerechtigkeit und alternative Gesellschaftsmodelle in Hörsälen zu referieren oder in Büchern zu verbreiten ist schon schlimm genug, aber sie unter Armen, Indigenen, Landlosen, Strafgefangenen oder Obdachlosen in der Praxis umzusetzen, scheint nahezu gottlos. Vor allem, wenn es nicht in diskreten Almosen geschieht, sondern auch die systemischen Probleme anprangert und versucht, ihnen entgegenzuwirken. So hat Pe. Júlio sich in der Pandemie z. B. nicht darauf beschränkt, verstärkt Spenden zu erbitten und zu verteilen (darunter auch Spenden, die über die Brasilieninitiative und die Wohnungslosenbewegung MTST gesammelt wurden). Er hatte auch zusammen mit linken Politiker*innen (Guilherme Boulos und Luisa Erundina) die Stadtverwaltung durch einen Gerichtsentscheid verpflichtet, leerstehende Pensionen und Hotels für Obdachlose zu öffnen. Aber das hatte nur beschränkten Erfolg: Das Gericht entschied zwar positiv, aber die Umsetzung der Maßnahmen geschah, wie so oft, nur schleppend und teilweise.
Nachfolgendes Interview für die BrasilienNachrichten führte Monika Ottermann, São Paulo
: Über die materielle Hilfe und die geistliche Betreuung hinaus, was halten Sie für das Unterwegssein, für das Leben mit Obdachlosen am wichtigsten?
JL: Was ich für das Wichtigste halte, ist genau dieses Miteinander-Leben. Es reicht nicht aus, etwas zu „geben“, man muss miteinander leben: beim anderen sein, zuhören können, sich aber auch Gehör verschaffen, lernen und lehren, Situationen von Konfrontation, Konflikt und Suche akzeptieren. Es ist keine Beziehung von oben nach unten, sondern auf Augenhöhe. Miteinander leben („con-viver“) heißt, wie das Wort schon sagt, zusammen-leben. Und das ist eine Herausforderung, sowohl in der Familiengruppe als auch in allen anderen Situationen. Mit den Geschwistern der Straße zusammen leben bedeutet also, von ihnen zu lernen und mit ihnen unterwegs zu sein. Die Dinge nicht für sie zu tun, sondern mit ihnen. Das bedeutet für mich „miteinander leben“.
BN: Obwohl Sie ein ganz typisches „Werk der Barmherzigkeit“ tun, das auf Jesus von Nazaret und entsprechenden christlichen Tradition basiert, wird Ihnen oft vorgeworfen, sich in Dinge einzumischen, die einen Priester nichts angehen, und Politik zu betreiben statt Nächstenliebe. Wie verstehen Sie in dieser Hinsicht den christlichen Glauben?
JL: Das Leben im Glauben ist das ganzheitliche Leben des Menschen. Geistliche und körperliche Bedürfnisse können nicht getrennt werden. Wer Hunger und Durst hat, das ist der ganze Mensch. Wer atmen muss, das ist der lebende Mensch. Man kann keinen Toten evangelisieren. Der Mensch muss am Leben sein. Der heilige Irenäus sagt: „Die Ehre Gottes ist es, dass der Mensch lebe“. Wir können also das eine nicht vom anderen trennen. Dieser Dualismus ist nicht semitisch. Er ist griechisch und erst später in die christliche Konzeption hineingeraten, während Jesus selbst gesagt hat: „Ich bin gekommen, damit alle Leben haben, und es in Fülle haben“.
BN: Noch in diesem Zusammenhang mit der Politik: Wie kommt es, dass Sie in Predigten oft gewisse Zustände anprangern, vor dem Faschismus warnen, vor dem Anwachsen von Rechtsextremismus, rechter Gewalt und ähnlichen Phänomenen, die auch in anderen Ländern grassieren, aber seit dem Regierungsantritt von Jair Bolsonaro (Januar 2019) vor allem in Brasilien?
JL: Das Christentum setzt die Humanisierung des Lebens voraus. Und die geschieht nicht durch Autoritarismus, Unterordnung oder Unterwerfung. Jesus befreit uns, damit wir in Freiheit leben, wie das Johannesevangelium sagt. In der Freiheit der Gemeinschaft, eines Volkes, einer Kultur, in Vielfalt, in Pluralismus, und nicht in einer faschistischen Haltung, die das Leben und die Würde der Menschen zerstört, den Mund verbietet, Zensur, Folter und Misshandlung begeht. Deshalb ist es wichtig, dass das Leben in Fülle und in all seinen Dimensionen gelebt wird. Papst Paul VI. sagt: „Das ganze Leben und alles Leben”. Man kann das eine nicht vom anderen trennen.
BN: Die katholische Kirche Lateinamerikas ist für ihre „Befreiungstheologie“ bekannt geworden. Was ist „Befreiung“ und „Heil“ für Sie und die Menschen, die auf der Straße leben, und was hat das mit „Theologie“ zu tun?
JL: Theologie ist die Reflexion über Gott vom Leben des Volkes her. Es ist keine Reflexion über Gott, die dem Leben der Menschen aufgezwungen wird, sondern eine Reflexion vom Leben der Menschen her, in dem Gott sich zeigt. Die Geschichtstheologie nimmt genau die Zeichen der Liebe Gottes im Leben der Menschen wahr. Wie diese Liebe aus der Offenbarung Jesu von Nazaret heraus gelebt wird. Jesus ist das endgültige Wort des Vaters, das Wort Gottes. Er sagt und zeigt uns das Wort und das Antlitz Gottes, der barmherzig ist, und das ist mehr als nur gerecht: Er ist barmherzig. Er will Gleichheit, um das Unrecht der Ungleichheit zu überwinden. Die Gleichheit gibt jedem Menschen das, was er oder sie braucht, und nicht das, was er oder sie verdient. Die Gleichheit überwindet die Meritokratie, also das Verdienstprinzip.
BN: Die Coronapandemie, die von der Bolsonaro-Regierung leider kriminell vernachlässigt wird, hat Obdachlose und diejenigen, die sie unterstützen, vor noch nie dagewesene Herausforderungen gestellt. Wie haben Sie das in den letzten Monaten erfahren?
JL: Die letzten sieben Monate waren wirklich herausfordernd, weil wir noch nie Ähnliches erlebt haben. Es ist also ein kontinuierliches, solidarisches, empathisches Lernen. Da alle Masken tragen müssen, lernen wir, die Augen zu lesen. Das ist es, was wir brauchen: lesen, was in den Augen der Menschen geschrieben steht. Ihnen das Wort sagen, das sie hören möchten, ein Wort von Wohlwollen und Achtung, und nicht von Demütigung und Unterdrückung. Wir lernen auch, neue Möglichkeiten und Seinsweisen zu entwickeln, indem wir den Glauben leben, das Teilen leben, uns umeinander kümmern. Dazu gehören vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen, Temperatur gemessen, immer Masken getragen, Handdesinfektionsmittel verwenden, Zugang zu Trinkwasser und sauberer Kleidung ermöglichen, würdige Lebensbedingungen. Papst Franziskus sagt: In einer Zeit des Leidens und des Individualismus müssen Gemeinden Feldlazarette sein, Inseln der Barmherzigkeit.
BN: Am 15. November sind Kommunalwahlen. Celso Russomano, Abgeordneter und Bürgermeisterkandidat, sagte neulich vor Geschäftsleuten: „Obdachlose sind gegenüber Covid-19 widerstandsfähiger als wir, weil sie weniger duschen.“ Das zeigt nicht nur seinen Zynismus, sondern ist auch falsch. Untersuchungen belegen, dass die Infektions- und Todesrate bei Menschen, die in prekären Wohn- und/oder Hygienebedingungen leben, im Vergleich zu den Zahlen der Mittel- und Oberschicht viel höher ist. Zudem gibt es in São Paulo schätzungsweise 24.000 Obdachlose. Nachrichten zufolge starben 30 an oder mit Corona. Da die Quote in der Allgemeinbevölkerung 70 Tote pro 100.000 beträgt, ergibt das eine Quote von 120, also fast das Doppelte. Ein anderer Kandidat, Guilherme Boulos, zeigt seit vielen Jahren als Koordinator der Wohnungslosenbewegung MTST in Wort und Tat seinen Einsatz für die ärmsten Bevölkerungsschichten, einschließlich der Obdachlosen, und unterstützt Sie und Ihre Arbeit. Falls er Bürgermeister von São Paulo wird, was würden Sie von seiner Regierung erwarten? Was muss eine Regierung tun, wenn sie wirklich für die bedürftigsten Menschen da sein und eine Stadt mit menschenwürdigem Leben für alle schaffen will?
JL: Wir dürfen kein Wahlprogramm verabsolutieren, obwohl wir wissen, dass einige dem Volk zugewandter sind als andere. Wir müssen den Menschen helfen, kritisch zu beobachten und dann eine Wahl zu treffen. Wir dürfen ihnen nicht unsere eigene Wahl aufzwingen, sondern müssen Kriterien aufzeigen. Und unser Hauptkriterium ist das Leben der Armen, Schwachen und Verlassenen, also die Humanisierung, das solidarische Leben. Die große Zahl von Obdachlosen in einer Stadt wie São Paulo ist ein Zeichen, dass diese Stadt die Armen vergessen und aufgehört hat, sich zu humanisieren. São Paulo hat viele Kirchen, wundervolle große Gotteshäuser, aber das bedeutet nicht, dass es eine Stadt wäre, die besonders religiös und gottestreu ist. Der Kampf hört also nie auf.
BN: Noch im Zusammenhang mit den Wahlen: Mitte September hat einer der Kandidaten für den Stadtrat Sie in einem Video als „Zuhälter des Elends“ beschimpft. Er beschuldigte Sie, Betrug und Schwindel zu betreiben, den Drogenhandel zu unterstützen und anderes mehr. Danach haben Sie vermehrt Drohungen erhalten und sind gerichtlich gegen ihn vorgegangen. In einem Video haben Sie gesagt: „Wenn mir etwas passiert, dann wisst Ihr, woran das liegt.“ Es gab eine Welle von Solidaritätsbezeugungen wie Unterschriftenaktionen, Stellungnahmen aus Kirchen und sozialen Bewegungen, eine Botschaft von Expräsident Lula, ein Anruf von Papst Franziskus usw. Aber das genügt nicht immer, um eine bedrohte Person zu schützen. Wie gehen Sie mit solchen Verleumdungen und Bedrohungen um? Haben Sie Angst, umgebracht zu werden?
JL: Wir wissen, dass die Drohungen, die Angriffe nie aufhören. Besonders in einer Gesellschaft, die so konfliktreich ist wie unsere, deren Ungleichheit die Pandemie lediglich deutlicher gezeigt hat. Wer auf der Seite der Kleinen steht, wird so behandelt wie sie: mit Vernachlässigung, Gewalt, Bosheit. Wir müssen also wissen, was das bekannte Sprichwort bedeutet: Wer in den Regen rausgeht, wird nass. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen, und Papst Franziskus sagt in der Enzyklika „Fratelli tutti“ zu Recht: Der Konflikt ist ständig präsent. Und wir müssen wissen, dass den Tyrannen lieben bedeutet, ihm die Tyrannei aus der Hand zu nehmen. Unser Weg ist ein ständiger Kampf. Und wir kämpfen nicht, um zu siegen, sondern um treu zu bleiben bis ans Ende. Mir ist sehr bewusst, dass wir verlieren werden, oft und viel verlieren werden. Aber ich stehe nicht in diesem Kampf, um zu siegen, sondern um treu zu sein.
Die letzten beiden Fragen, zur internationalen Solidarität beantwortete Pe. Julio auf ganz typische Weise. Statt irgendeinen Rat zu geben, sprach er von seiner großen Verehrung für Edith Stein (jüdische Philosophin und Karmeliterschwester, im KZ Birkenau ermordet) und von einer Weise, die „internationale“ Solidarität in Deutschland selbst zu leben:
„Ein großes Zeichen der Solidarität besteht darin, Einwanderer und Flüchtlinge willkommen zu heißen. Ich glaube, dass in Berlin und anderen Großstädten auch Menschen auf der Straße leben, Ausländer, Einwanderer, Flüchtlinge, Menschen aus Deutschland selbst. Es ist wichtig, diese Menschen mit Wohlwollen, Aufmerksamkeit und Achtung zu behandeln, und Antworten für sie zu haben.“
Kurz nach diesem Interview machte Pe. Julio schon wieder Schlagzeilen: Bei einer Grundstücksräumung, wie so oft im Morgengrauen, hatte die Stadtverwaltung 80 Familien mit ein paar ihrer Klamotten auf Lastwagen gepackt und bei ihm abgeladen, damit sie Frühstück bekämen, bis die zuständigen „Stellen“ wach würden und über das weitere Vorgehen beraten könnten.
Wie sagt doch Pe. Julio? Der Konflikt, der Kampf hört nie auf.
Monika Ottermann
Ausgabe 162/2020