Skip to main content

Wie der Hunger zurückkehrt

Eindrücke bei einer Reise nach Brasilien

Gaby Küppers

„Fome Zero “ – Null Hunger in Brasilien. Das Ziel gab es einmal. Festgeschrieben und mit konkreten Maßnahmen auf den Weg gebracht wurde es ab 2003 unter der Präsidentschaft Lulas. Zunächst erfolgreich. Doch was für die einen das Ende der leeren Mägen bedeutet, heißt für andere Schmälerung von Gewinn. Seit einigen Jahren arbeiten die Agroindustrie und deren Steigbügelhalter*innen daran, das Rad wieder zurückzudrehen. Seitdem Michel Temer auf dem Präsidentensessel sitzt, gibt es, so scheint es, kein Halten mehr. Wie brutal es dabei zugeht und wie dabei rücksichtslos Existenzen  zerstört werden, zeigt sich bei einer Begegnung während einer Delegationsreise in den Süden Brasiliens, nach Paraná.

In der örtlichen Mehrzweckhalle des Städtchens Rebouças findet ein Mittagessen mit örtlichen Heilerinnen und sie unterstützenden Gemeinderäten statt. Plötzlich tauchen drei sichtlich deprimierte Männer auf. Sie stellen sich vor: João Antonio de Paula, Gelson Luiz de Paula und Roberto Carlos Martins.
Zwei gehören zu den insgesamt elf Personen, die meisten Bauernführer sowie einige städtische Angestellte im Bundesstaat Paraná, die rund zwei Monate im Gefängnis saßen, weil, wie wir hören, ihre ökologische Produktion und deren gesicherte Vermarktung dem Agrobusiness ein Dorn im Auge war. Der dritte ist ein Bruder. Er weiß zu berichten, was so ein Gefängnisaufenthalt für die Familie bedeutet.
Wir stutzen und lassen uns die ganze Geschichte erzählen. Sie ist haarsträubend. Um das Jahr 2000 herum hatten Kleinbauern in der Gegend begonnen, Nahrungsmittel ökologisch anzubauen und zu verkaufen. Nach und nach organisierten sie sich in Kooperativen. Immer mehr Bauernfamilien traten bei, weil der Ökoanbau „ohne Gift“, wie die Bauern sagen, sie überzeugte. Das Null-Hunger-Programm mit seinem Eckpfeiler, dem staatlichen Beschaffungsprogramms PAA (Programa de Adquisicão de Alimentos), des damaligen Präsidenten Lula ab 2003 war ihre große Chance. Denn das Programm besagte, dass mindestens 30 Prozent der Aufkäufe für Kantinen in Schulen und öffentlichen Einrichtungen von Kleinbauern stammen sollten.
Das war wichtig für Kleinbauern, aber es war auch außerordentlich bedeutsam im Kampf gegen die Armut im Land. Das Null-Hunger-Programm senkte die extreme Armut im Land tatsächlich in sechs Jahren von 12 auf 4,8 Prozent. Bis 2016 entkamen laut Weltbank 28 Millionen Brasilianer*innen der extremen Armut. Seit Präsident Temer die Regierung führt, sind bereits 3 Millionen Menschen wieder in die extreme Armut zurückgefallen, so die Weltbank weiter. Zwischen 2016 und 2017 betrug der Anstieg der Ärmsten in Brasilien 11,2 Prozent.
Der Verband von Roberto Carlos Martins war der erste, der dem PAA in Paraná 100 Prozent ökologisch produzierte Nahrungsmittel anbieten konnte. Das war für beide Seiten gut. Kantinen hatten gesundes Essen auf ihrem Speisezettel, Kleinbauern konnten sich auf eine gesicherte Abnahme ihrer Produkte verlassen und damit auf ein festes Einkommen setzen. Bis 2013. In einer Nacht- und Nebelaktion, genannt Operacão Agro-Fantasma, brachte Staatsanwalt Sérgio Moro die elf Bauernführer und städtischen Angestellten in Paraná hinter Gitter. Derselbe Staatsanwalt übrigens, der selbstgerecht und kameraverliebt den sogenannten Lava-Jato-Skandal gegen Dilma Rousseff ins Rollen brachte. Der Vorwurf: Betrug und Veruntreuung von Staatsgeldern. Die Anschuldigungen waren eigentlich nicht haltbar, ergaben sie sich doch aus dem normalen Ablauf von Saat, Reifung und Ernte: es seien nicht die gleichen Produkte abgeliefert worden, die im Vertrag vorgesehen gewesen seien. Die Empfangsbescheinigungen seien bisweilen für nie angekommene Produkte ausgestellt worden. Stattdessen seien Gemüse oder Obst gebracht worden, die nicht zuvor autorisiert worden waren. Zudem seien die Erzeugnisse nicht immer vom gleichen Bauern abgeliefert worden und die Kooperativen hätten, aus welchen Gründen auch immer, manchmal einen Bauern zur Überbringung geschickt, der nicht zuvor vertraglich genannt worden war. Also sei bewusst gefälscht worden, und zwar von einer kriminellen Bande: den Ökobauern und ihren Helfer*innen in der Verwaltung.
Das voraussehbare und eingetretene Ergebnis: Die Agrarkooperativen brachen ohne ihre Köpfe zusammen, in Paraná gab es einen Mitgliederschwund von 60 Prozent. Das Programm wurde landesweit diskreditiert, ökologische Landwirtschaft gleich mit, und die erschreckten Bauern kehrten zu ihrem vormaligen Anbau von Tabak mit seiner heftigen Pestizidbelastung zurück.
Heute steht das Fome-Zero-Programm vor seinem Aus. Für 2018 wurden die Mittel für das PAA von 340 Millionen auf 750. 000 Reais gekürzt, also um 99,8 Prozent. Die Beantragung von CPRs (Cédula de Produtos Rurais), die die Kooperativen als Erzeuger ländlicher Produkte ausweisen, ist wesentlich verkompliziert worden. Kantinen müssen sich die Zutaten für ihre Essen oder die Essen zunehmend selbst auf dem Markt und über Ausschreibung besorgen. Für Schulen gibt es zwar weiterhin das Schulspeisungsprogramm PNAE (Programa Nacional de Alimentação Escolar), aber das PNAE hat so hohe bürokratische Hürden, dass die Kleinbauernkooperativen an ihnen scheitern oder erst gar nicht versuchen, daran teilzunehmen. Für alle öffentlichen Essensangebote ist das Kriterium selbstverständlich nicht mehr die Unterstützung von Kleinbauern, geschweige denn die ökologischer Produktion, sondern die Kostengünstigkeit.
Zweifellos reibt sich das brasilianische Agrobusiness die Hände. Im Parlament haben die Großagrarier mit ihrem Umfeld inzwischen 235 von 513 Abgeordneten, im Senat 27 von insgesamt 81. Auf sie kann Temer aufgrund von Aktionen wie der Operacão Agro-Fantasma setzen, die beispielhaft alles vernichtet, was sich der Logik des Agrobusinesses widersetzt.
Aber auch die europäische Lebensmittelindustrie dürfte sich heftig freuen. Sie ist heute einer der vielversprechendsten Akteure des europäischen Exportgeschäfts. Das EU-Mercosul-Abkommen wird deren Chancen im Brasiliengeschäft noch erhöhen.
Das Agroökologiemodell in Paraná ist indessen zerschlagen. Die Bauern sind psychisch wie existenziell am Ende. Die direkt vor den Festnahmen noch gelieferten Ernten wurden vom PAA nicht mehr bezahlt. Viele Bauern haben Schulden.
Bleibt nachzutragen, dass alle elf Beschuldigten inzwischen entlassen sind. Allerdings weigerte sich das Gericht zunächst in erster und zweiter Instanz, dem Antrag auf Freilassung nachzukommen. Erst ein Habeas Corpus des Obersten Gerichtshofs öffnete die Gefängnistüren. Sieben von acht Anklagepunkten wurden dann im Oktober fallengelassen. Einer steht weiterhin aus, dürfte aber bald ebenfalls ad acta gelegt werden.
Die gesamte Operacão Agro-Fantasma war fraglos inszeniert, um die Biobauern zu diffamieren und langfristig auszuschalten. Doch auch wenn das Konstrukt am Ende in sich zusammenfällt: „Es bleibt immer etwas hängen“, weiß Gelson. Roberto, Gelson und João machen auf ihren Höfen weiter, aber sie sind sehr geknickt, fühlen immer wieder Zweifel in den Augen ihrer Gegenüber. Wichtig ist jetzt nicht zuletzt moralische Unterstützung. Erste Gemeinden der Region haben die elf eingeladen, bei Festakten moralische Wiedergutmachung geleistet. Aber es würde den Elfen auch sehr gut tun, aus dem Ausland, von Kleinbauerninitiativen, -verbänden oder auch einfach interessierten Menschen solidarische Briefe zu bekommen.

 

Ausgabe 157/2018

Hier der Kontakt:

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
oder
gelp1404@gmailcom