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„Wir wollen keine Linke, die ihre Prinzipien aufgibt.“ Interview mit Guilherme Boulos

Guilherme Boulos ist Mitbegründer der Wohnungslosenbewegung MTST und war 2018 Präsidentschaftskandidat der linken PSOL-Partei (Partei des Sozialismus und der Freiheit – Partido Socialismo e Liberdade). Diese hat sich 2004 von der Arbeiterpartei abgespaltet. Nicht wenige sehen in ihm einen Hoffnungsträger für die Zukunft Brasiliens.Das Interview für die BrasilienNachrichten führte BN-Redakteur Günther Schulz, Monika Ottermann besorgte die Übersetzung. Es fand Anfang November in São Paulo statt.


BN: Könntest Du kurz auf die Gründe der Entstehung der PSOL-Partei eingehen? Was waren die Ursachen?


Guilherme: Die Regierungszeit der Arbeiterpartei hat das Leben des armen Volkes verbessert, aber gleichzeitig hatten diese Regierungen auch ihre Grenzen. Zum Beispiel sind sie das brasilianische politische System nicht angegangen, das sehr veraltet ist. Es gab keine politische Reform in Brasilien. Sie haben keine Demokratisierung der brasilianischen Kommunikationsmittel begonnen – und dieses System wird von ein paar wenigen Familien beherrscht. Es ist ein wahrhaftes Oligopol. Sie sind die Ausplünderung seitens der Banken nicht angegangen – die brasilianischen Zinssätze sind die höchsten der Welt bei Kreditkarten, und die Zinsen auf die öffentliche Verschuldung sind exorbitant. Also wurde eine ganze Reihe struktureller Fragen, die ein Modell großer Ungleichheit in unserem Land reproduziert, nicht angegangen. Die PSOL ist aus der Kritik an diesen Grenzen der PT-Regierung entstanden. Und diese Debatte ist in der heutigen brasilianischen Linken sehr lebendig. Ich meine, dass die brasilianische Linke sich erneuern muss. Die brasilianische Linke muss fähig sein, die Verdienste der Erfahrung mit den PT-Regierungen anzuerkennen, aber auch die Grenzen dieser Erfahrung überwinden und sich selbst herausfordern, für die Zukunft ein alternatives Projekt vorzustellen. Heute, mit Bolsonaro als Präsident Brasiliens, brauchen wir eine große Einheit. Es ist wichtig, Einheit zu haben im Kampf, im Widerstand, aber Einheit bedeutet nicht, dass alle in derselben Partei sein müssen.
Es kann eine Einheit gegenüber einem größeren Feind geben, das ist sehr notwendig. Und ich meine, wer diese Notwendigkeit nicht versteht, versteht nicht, wie ernst die Situation ist, die Brasilien gerade durchlebt. Aber gleichzeitig kann man die Verschiedenheit bewahren, die Unterschiede, und das ist übrigens einer der großen Unterschiede zwischen der Linken und der Rechten. Die Rechte legt großen Wert auf ein einförmiges Denken – also die extreme Rechte. In der Linken ist es möglich, mit der Verschiedenheit zu leben: Es gibt politische Einheit innerhalb der Verschiedenheit.


BN:     Nächstes Jahr sind zum Beispiel Kommunalwahlen. Glaubst Du, dass es möglich wäre, eine Einheit der Linken zu schaffen?


Guilherme: Ich glaube, an vielen Orten wird das möglich sein. Wir arbeiten am Aufbau von Fronten, damit die Kandidaten der Linken sich in verschiedenen brasilianischen Städten auf eine einheitliche Weise präsentieren, gegen den Bolsonarismus. Die Wahl nächstes Jahr wird eine Wahl mit dem Charakter einer Volksabstimmung sein. Das heißt, die nationale Frage wird bei den Kommunalwahlen eine große Rolle spielen. Ich glaube, dass das eine große Chance ist, das Projekt von Bolsonaro zu besiegen.  


BN: Siehst Du im Moment die Gefahr einer Diktatur?


Guilherme: Wenn diese Frage vor zwei oder drei Jahren gestellt worden wäre, hätte sie für Brasilien sehr eigenartig geklungen. Das wäre die Sache eines Verrückten gewesen, einer Verschwörungstheorie. Aber leider kann man angesichts der Entwicklung, die Brasilien in den letzten Jahren genommen hat, diese Frage tatsächlich stellen, vor allem jetzt mit der Bolsonaro-Regierung. Bolsonaro rechtfertigt die Diktatur, hat die größten Folterer der Diktatur „nationale Helden“ genannt, hat das Gedenken an Menschen beleidigt, die von der Diktatur ermordet worden sind. Sein Sohn hat grade einen neuen „AI 5“ befürwortet, also den institutionellen Akt, der den Nationalkongress geschlossen, Richter des Verfassungsgerichtes absetzt und Zensur, Folter und politische Verfolgung auf ganz umfassende Weise eingeführt hat. Ich habe also nicht den geringsten Zweifel, dass es der Wunsch von Jair Bolsonaro ist in Richtung des Autoritarismus zu gehen. Der Wunsch Bolsonaros, seiner Söhne, seiner politischen Gruppe ist es, Brasilien eine Diktatur aufzuzwingen. Heute haben sie keine Kraft dazu, deshalb haben sie das bis jetzt noch nicht gemacht, aber sie arbeiten daran, dies zu versuchen. Es ist extrem wichtig, dass die brasilianische Gesellschaft Widerstand leistet, um dieses Programm zu stoppen.


BN: Wie siehst Du den Einfluss der Militärs auf die Regierung Bolsonaro? Mein Eindruck ist, dass jedes Mal, wenn Bolsonaro auf Reisen ist, Vizepräsident Mourão wächst.


Guilherme: Er redet viel und mischt sich in die Politik ein. Wir haben heute mehr Minister, die Militärs sind, als in der Militärdiktatur. Vor allem Militärs der Reserve haben im brasilianischen Staat wichtige Posten übernommen. Für mich ist das sehr besorgniserregend, denn es tut einer Demokratie gut, die Regierung und das Militär getrennt voneinander zu halten. Die zivile Macht regiert, und die bewaffneten Kräfte haben die Rolle, für die nationale Verteidigung zu sorgen, die nationale Souveränität zu garantieren, und nicht die Rolle, die politische Macht auszuüben. Der Grad des Einflusses der Militärs in der heutigen Regierung ist also besorgniserregend. Aber es ist ebenso besorgniserregend zu sehen, dass es Militärs gibt, die viel vernünftiger sind als der Präsident der Republik. Bolsonaro und die Gruppe der Verrücktesten in der Regierung – der Außenminister, die Menschenrechtsministerin, der Erziehungsminister – diese Clique glaubt daran, dass die Erde eine Scheibe ist, wortwörtlich. Diese Clique bezweifelt die Erderwärmung, sie lebt auf einem Niveau von Verrücktheit, das Prä-Aufklärung ist. Das ist die Rückständigkeit dieser Leute, diese Leute lassen viele Generäle in der Regierung wie englische Lords erscheinen.


BN: Brasilien hat mehr als 30 Parteien im Kongress. Wäre da nicht eine politische Reform notwendig?


Guilherme: Ich denke ja, wir brauchen in Brasilien eine politische Reform. Nicht nur, um den „Mietparteien“ Front zu machen, den Parteien, die von „physiologischen“ Praktiken leben, also die öffentliche Gelder anzapfen. Wir brauchen in Brasilien eine politische Reform, die jene Art von promiskuitiven Beziehungen verbietet, die zwischen der öffentlichen Macht und der privaten Macht besteht, zwischen dem Staat und dem Kapital. Geschichtlich gesehen hat sich die Korruption in Brasilien durch die Finanzierung von Wahlkampagnen verfestigt. Die großen Unternehmen finanzieren Wahlkampagnen, und danach erhalten sie Gefälligkeiten, Verträge bei Gesetzesverabschiedungen, Zuschacherung von Posten, die ihren Interessen dienen. Darüber hinaus gibt es in den strategischen Sektoren des brasilianischen Staates Vertreter des Kapitals. Das ist wie der Fuchs, der den Hühnerstall hütet. Heute haben wir einen Gesundheitsminister, der von den privaten Krankenversicherungen empfohlen wurde. Unser Wirtschaftsminister ist ein Banker. Es ist doch klar, dass der zugunsten der Banken arbeitet und nicht zugunsten einer Wirtschaft für die unteren Volksgruppen. Es ist doch klar, dass der Gesundheitsminister den privaten Krankenversicherungen Vorteile verschaffen will und nicht für die öffentliche Gesundheitsversorgung arbeitet, für das brasilianische Gesundheitssystem. Und so geht das auf allen Gebieten. Wir nennen das die „Drehtür“: Ein Knilch, der auf der Unternehmerseite stand, steht plötzlich auf der Seite der öffentlichen Hand, um seinen eigenen Bereich zu regulieren.


BN: Aber wie kann man das ändern?


Guilherme: Durch eine politische Reform. Eine politische Reform muss das durchsetzen. Im Wahlkampf voriges Jahr haben wir das zum Beispiel in unserem Regierungsprogramm vorgeschlagen: eine „Quarantäne“, die es verbietet, dass jemand aus einem Bereich der Privatwirtschaft im selben Bereich der öffentlichen Hand tätig wird. Und jegliche Form von privater Wahlkampffinanzierung abschaffen, stattdessen einen öffentlichen Fond einrichten, aber kleiner, als er heute ist. Die Kampagnen heute haben pharaonische Ausmaße, solche Wahlkampfausgaben in einem Land mit so viel Armut wie in Brasilien sind durch nichts zu rechtfertigen. Also muss die Finanzierung öffentlich sein und man muss eine ganze Reihe von Transparenzmechanismen schaffen, d.h. gesellschaftliche Kontrolle im brasilianischen Staat, um die politischen Entscheidungen zu demokratisieren und den Einfluss der wirtschaftlichen Macht auszuschließen.


BN: Du bist eine der führenden Persönlichkeiten in der Wohnungslosenbewegung MTST. Wie sieht deren Unterstützung von außen aus?


Guilherme: Also, zuerst zu den Beziehungen der MTST mit dem Ausland. Die MTST ist die größte urbane Volksbewegung Brasiliens. Seine gesellschaftliche Basis umfasst mehr als 50.000 Familien, und ihr Fokus ist der Kampf um menschenwürdiges Wohnen und um das Recht auf die Stadt. Die MTST erhält Unterstützung von einigen internationalen Organisationen, die sich mit der Sache der Bewegung solidarisieren, also mit dem Kampf um Wohnraum, dem Kampf gegen die Kriminalisierung der Sozialbewegungen, sowie mit der Arbeit im Bereich der politischen Bildung, mit den kulturellen Arbeiten, die die Bewegung in den Grundstücksbesetzungen und den Peripherien durchführt. Es gibt also ein paar Organisationen, die die Bewegung finanziell unterstützen, sowohl in Brasilien als auch im Ausland. Die MTST hat nämlich die politische Option, bei ihrer gesellschaftlichen Basis nicht zu kassieren. Das sind Menschen, die im Prekariat leben, die nichts haben, und von denen kann man nicht verlangen, dass sie die Bewegung finanzieren. Die MTST sucht also Verbündete, die die Bedeutung dieses Projektes verstehen, und die sicherstellen, dass diese Aktivitäten weitergehen.


BN: Wie steht es gegenwärtig um das Programm Minha Casa, minha Vida (Mein Haus, mein Leben)?


Guilherme: Dieses Programm wurde 2009 von der Regierung Lula geschaffen, um das Wohnungsproblem Brasiliens anzugehen. Insgesamt muss man sagen, dass das Wohnungsproblem in Brasilien extrem groß ist. Wir haben 7,7 Millionen Familien ohne Wohnung. Das sind mehr als 30 Millionen Menschen, die vom Wohnungsproblem direkt betroffen sind. Es ist natürlich klar, dass die nicht alle auf der Straße leben. Es sind Menschen, die am Monatsende ihre Miete nicht bezahlen können, die kurz vor der Räumung stehen, die mehr als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete ausgeben; Menschen, die in Favelas und Risikozonen leben, die mit mehreren Familien im gleichen Haus wohnen. Das ist das Profil der „Wohnungslosen“ in Brasilien. „Mein Haus, mein Leben“ war ein Programm mit vielen Grenzen. Wir standen ihm sehr kritisch gegenüber, weil es keine andere Logik von urbaner Entwicklung vorschlug, sondern im Endeffekt die Logik reproduzierte, die die Ärmsten in die Peripherien treibt, in die abgelegensten Gebiete einer Stadt. Aber es war ein Programm, das in ganz Brasilien fünf Millionen Häuschen bzw. Wohnungen geschaffen hat, und das war sehr notwendig. Nach dem Putsch gegen Dilma 2016 hat Temer, als er das Amt übernahm, das Programm sofort praktisch stillgelegt, und jetzt ist Bolsonaro dabei, es abzuschaffen. Wir haben jetzt also hinsichtlich des Wohnraums eine Situation, die ich explosiv nennen möchte. Auf der einen Seite stehen in Brasilien 7,7 Millionen Familien ohne Wohnung da, mit hoher Arbeitslosenrate und geringem Einkommen, die kaum überleben können und sich entscheiden müssen, ob sie die Miete bezahlen oder Brot kaufen. Auf der anderen Seite steht ein Programm, das versucht hat, diesen Familien irgendeine Form von Unterkunft zu geben, und das läuft jetzt aus. Das wird in der nächsten Zeit zweifellos zu neuen Besetzungen in Brasilien führen, zu Aufruhr in den Städten.


BN: Du bist also sehr optimistisch. Ich habe aber ein bisschen den Eindruck, dass das brasilianische Volk ziemlich friedlich ist. Wenn ich an Chile denke, an das, was in Chile passiert ist, scheint es mir schwierig. Glaubst Du, dass hier in Brasilien dasselbe passieren könnte?


Guilherme: Es besteht kein Zweifel, das brasilianische Volk ist nicht friedlich. In Brasiliens Geschichte haben sich schon Dutzende von Volksrebellionen angesammelt, zum Beispiel Canudos, Quilombo von Palmares, der Chibata-Aufstand, der Alfaiates-Aufstand, die Cabanagem, die Balaiada, die Sabinada. Es gibt zahllose Rebellionen. Aber es ist doch so: Brasilien ist ein Land mit 210 Millionen Einwohnern. Chile hat nicht mehr Einwohner als São Paulo. In Brasilien bewegen sich die Dinge also langsamer. Damit sich die Unzufriedenheit in Mobilisierung verwandelt, ist der Prozess langsamer. Das ist ein unterirdischer Prozess, ein stiller Prozess, aber er ist im Gange. Er ist nicht so schnell wie in anderen Ländern Lateinamerikas, die kleiner sind. In Brasilien bewegen sich die Dinge langsamer. Aber die Geschichte des brasilianischen Volkes, seiner Kämpfe, erlaubt uns aber dennoch zu glauben, dass kein Unterdrückungsprojekt auf Dauer ohne irgendeine Widerstandsreaktion bestehen wird. Welches das Ausmaß dieser Reaktion sein wird, wieviel Gewalt dabei sein wird, welche Form sie haben wird, das können wir nicht voraussehen. Aber ich glaube fest: Ein Projekt der nationalen Zerstörung, wie es derzeit in Brasilien läuft, wird eine Reaktion auslösen. Eine Mobilisierung besteht aus einzelnen Tropfen. Das Glas wird voll, und irgendeine Kleinigkeit kann als Auslöser für eine Mobilisierung funktionieren. In Chile war dieser Auslöser die Fahrpreiserhöhung, wie das in Brasilien schon 2013 der Fall war. In Ecuador war es die Benzinpreiserhöhung, und im Libanon war es jetzt die Einführung einer Steuer auf WhatsApp. Wenn das Glas schon voll ist, kann alles zum Auslöser werden. In Brasilien war das Glas noch nicht voll, aber es füllt sich jetzt ziemlich rasch. Ich glaube also, dass Mobilisierungen kommen werden.


BN: Was könnte die Linke in Brasilien tun, um das Vertrauen der Mittelschicht wiederzugewinnen?


Guilherme: Lass mich Dir Folgendes sagen: Einen Teil dieser Arbeit macht Bolsonaro schon selber, zugunsten der Linken, denn seine Regierung ist derart katastrophal, derart peinlich. Es gibt Leute aus der urbanen Mittelschicht, die Bolsonaro unterstützt haben, weil sie dachten, dass er mit der Korruption aufräumen würde. Aber jetzt haben wir eine Regierung, die mit Milizen paktiert, die im Verdacht steht, mit den Mördern von Marielle verbunden zu sein. Eine Regierung, die im Wahlkampf einen ganzen Wald von Strohmännern hatte. Eine Regierung, die öffentliche Gelder für Gesetzesänderungen benutzt hat, um Stimmen für die Verabschiedung der Rentenreform zu kaufen. Also viele Leute, die gedacht haben, dass diese Clique mit der Korruption aufräumen würde, haben schon gemerkt, dass das nicht passiert. Die Leute haben gedacht, Bolsonaro könnte eine Regierung Brasiliens mit einem Mindestmaß von Anstand repräsentieren. Aber er hat Minister, die so verrückt sind, dass sie glauben, die Erde sei eine Scheibe. Und jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, gerät dies zu einer nationalen Schande und Brasilien verliert im Ausland an Ansehen. Diese Rolle, die Bolsonaro schon spielt, diese komplette Unqualifiziertheit, diese zerstörerische Regierung, diese Mittelalterregierung, die Bolsonaro betreibt, hat schon dazu geführt, dass ein Teil der Mittelschicht sich schämt ihn unterstützt zu haben, ihn gewählt zu haben. Aber andererseits hat auch die Linke eine gewisse Verantwortung. Ich meine, dass die brasilianische Linke die Demut haben muss, ihre Fehler anzuerkennen, anzuerkennen, was sie falsch gemacht hat. Falsch war zum Beispiel, keine politische Reform durchgeführt zu haben, und dadurch hat sie Politik genauso gemacht wie alle anderen. Und dazu gehört auch Korruption. Das brasilianische politische System wird von der Korruption angetrieben. Wenn Du die Spielregeln nicht änderst, dann spielst Du genauso wie alle anderen auch. Das war ein Fehler, und die Linke muss die Demut, die Fähigkeit haben, dies anzuerkennen. Sie muss in der Lage sein, Dialog aufzubauen, ein erneuertes Projekt anzubieten, ein Projekt für die Zukunft Brasiliens. Aber ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass der Dialog der Linken mit der Mittelschicht gemacht werden muss, indem man Ziele zurücksteckt, Aktionslinien reduziert und zahm wird. Wir wollen in Brasilien keine Linke im Stil von Tony Blair. Wir wollen keine Linke, die ihre Prinzipien aufgibt. Brasilien ist das Land mit der größten Ungleichheit in der Welt. Übrigens, wenn man heute ins Ausland schaut – um wieder ein Beispiel aus England zu gebrauchen: Wir wollen in Brasilien eine Linke im Stil von Jeremy Corbyn. Die Linke, die wir aufbauen möchten, ist eine, die bei keinem ihrer Prinzipien und Ziele zurücksteckt, die die Ungleichheit ganz fundamental bekämpft. Es gibt keine Lösung, ohne den Verteilungskonflikt anzugehen. Es gibt in Brasilien keine Lösung, ohne die Reichen zur Kasse zu bitten. Es gibt in Brasilien keine Lösung, ohne die Macht der Banken anzugehen. Es gibt in Brasilien keine Lösung, ohne die politischen Oligarchien anzugehen. Ein verwässertes, ausgedünntes, zahmes Projekt der Linken wäre also nicht in der Lage, das zu erreichen. Und deshalb muss die Linke fähig sein, ihre Radikalität zu bewahren, ihre Prinzipien. Sie muss die Demut haben, ihre Fehler anzuerkennen, und muss versuchen, so breit wie möglich den Dialog mit der brasilianischen Gesellschaft zu suchen.


BN: Es wäre gut, wenn das passieren würde. Noch zu Lula, zuerst zu seiner Gefangenschaft: Was meinst Du, wie steht die Chance, dass er aus dem Gefängnis kommt? Und die andere Frage: die Chance, dass er wieder in die Politik zurückkehrt?


Guilherme: Lula ist die beliebteste, die am meisten dem Volk zugewandte Führungspersönlichkeit Brasiliens. Er wurde unrechtmäßig gefangengesetzt, aus politischen Gründen, um ihn von der Präsidentenwahl auszuschließen. Ich war Präsidentschaftskandidat, war also Gegner des PT-Kandidaten, der von Lula empfohlen worden war. Aber das hat mich nicht daran gehindert, bei jeder Gelegenheit die politische Gefangenschaft Lulas anzuprangern und an seiner Seite zu sein, als es darum ging zu versuchen, seine Gefangennahme zu verhindern. Worum es in jenem Moment für Brasilien ging, war eine demokratische Verteidigung. Es darf bei uns keinen politischen Gefangenen geben. Die Gerichtsbarkeit darf nicht einer Partei dazu dienen, einer anderen Partei bei den Wahlen eine Niederlage zu verpassen. Und genau das ist hier passiert.


BN: Teile der Richterschaft kann man ja wohl ebenfalls als korrupt bezeichnen.


Guilherme: Und wie! Schau dir nur Einige der Lava-Jato-Richter an. Die Nachrichten, die Intercept veröffentlicht hat, haben gut gezeigt, welches Ausmaß von Absprachen, von Kollusion diese Richter getroffen haben, nicht nur bezüglich Lula, sondern auch bezüglich des politischen Projekts als solchem. Die Tatsache, dass Sérgio Moro Bolsonaros Justizminister geworden ist, ist der deutlichste Ausdruck davon. Zuerst nimmt er Lula gefangen, nimmt ihn aus dem Spiel, und dann erhält er den Preis dafür und wird Justizminister von demjenigen, der den größten Vorteil von Lulas Ausscheiden hatte. Ich meine, dass Lula freigelassen werden muss. Er muss freigelassen werden, denn nach der Veröffentlichung dieser Nachrichten ist es unhaltbar geworden, das Fortbestehen seiner Gefangenschaft zu verteidigen. Diese Lava-Jato-Gruppe wird jetzt demaskiert, demoralisiert, und aufgrund dieser gesellschaftlichen Strömung, die entstanden ist, muss oder sollte das Oberste Verfassungsgericht Lula freilassen. Darauf hat Lula ein Recht. Er hat ein Recht, dass seine Unschuld anerkannt wird. Er hat das Recht auf einen gerechten Prozess, den er nicht hatte. Wir hoffen also, dass Lula rauskommt. Wir werden ihn auch mit Mobilisierungen im ganzen Land empfangen, und wir hoffen, dass er auf der Straße hilft, die harte und starke Opposition aufzubauen, die gegen Bolsonaro nötig ist.


BN: Ich habe gelesen, dass Du viele Reisen durch Brasilien machst. Du hast eine Karawane durch viele Bundesstaaten gemacht, viele Vorträge gehalten. Kannst Du uns sagen, was Du mit diesen Reisen erreichen möchtest? Was erhoffst Du von diesen Reisen?


Guilherme: Ich widme mich dieses Jahr dem Ziel, beim Aufbau einer Straßen-Bewegung gegen Bolsonaro zu helfen. Das habe ich schon in 24 brasilianischen Bundesstaaten getan. Ich habe mit der Jugend geredet, mit Studenten, mit sozialen Bewegungen, mit den Menschen in den Peripherien – nicht nur mit den Leuten der MTST, sondern mit Leuten aus den verschiedensten Bewegungen. Das Ziel ist, eine Bewegung zu organisieren, von unten nach oben, ausgehend von den Straßen Brasiliens, die fähig ist, das autoritäre Projekt von Bolsonaro zu besiegen. Derzeit bauen wir eine Kampagne auf, breit aufgestellt, mit verschiedenen sozialen Bewegungen, die dieses Ziel hat. Die das Ziel hat, in Brasilien eine gesellschaftliche Strömung gegen die Regierung zu stärken. Denn die Opposition im Kongress ist sehr klein, ist minoritär, obwohl es wichtige, machtvolle Stimmen und Leute sind, aber im Kongress wird das Spiel nicht umgedreht werden.  


BN: Also gibt es wohl kein Amtsenthebungsverfahren?


Zum jetzigen Zeitpunkt nicht, es sei denn, es taucht etwas Neues auf. Aber ich glaube, der beste Weg, Bolsonaro zu besiegen, ist nicht so sehr eine Amtsenthebung. Nach unserer Analyse ist die beste Weise, Bolsonaro zu besiegen, die Forderung, dass das Oberste Wahlgericht die Wahlkampfkriminalität untersucht, die er begangen hat, und die zur Annullierung seiner Wahlliste führen kann, also von ihm und seinem Vizepräsidenten, und zur Einberufung neuer Wahlen innerhalb von 40 Tagen gemäß der brasilianischen Verfassung. Es gibt sehr starke Indizien für Straftaten im Wahlkampf. Dass er Gelder von Unternehmen benutzt hat, um WhatsApp-Nachrichten mit Lügen und Fake News zu versenden – das ist Wahlkampfkriminalität. Dass er dieses empfangene Geld nicht öffentlich gemacht hat, also eine schwarze Kasse hatte – auch das ist Wahlkampfkriminalität. Dass er während des Wahlkampfes eine wahre Digital-Miliz fabriziert hat, um Lügen zu verbreiten und Gegner anzugreifen – das ist ebenfalls Wahlkampfkriminalität. All diese Straftaten haben die Annullierung der Liste zur Folge. Bisher hat sich das Oberste Wahlgericht noch nicht dazu geäußert, hat diese Untersuchung noch nicht vorangebracht. Was wir auf den Straßen fordern werden, ist diese Untersuchung, ist der Mandatsentzug, nicht nur von Bolsonaro, sondern von Bolsonaro und Mourão – beiden muss das Mandat entzogen werden, denn sie sind in einer Wahl voller Betrug und Rechtswidrigkeiten an die Macht gekommen.


BN: Ich danke Dir sehr und wünsche Dir viel Glück, alles Gute für diese Arbeit.


Guilherme: Wir brauchen wirklich viel Glück. Wie gut, dass wir dieses Interview gemacht haben! Es ist sehr wichtig, im Ausland mehr Informationen über die Lage Brasiliens zu verbreiten. Ich war Ende letzten Jahres in Berlin, bei Der Linken. Das war wichtig, war ein großer Vortrag, auch bei den Grünen, im Europäischen Parlament und im Bundestag.
Kurz nach dem Interview, am 7.11. entschied der Oberste Gerichtshof Brasiliens mit 6:5 Stimmen, dass ein Angeklagter nach der 2. Instanz freizulassen ist, er das Recht hat, vor Gefangennahme sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen zu können. Lula kam daraufhin am 8.11. aus dem Gefängnis.

Ausgabe 160/2019