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Praktikum bei Casa Taiguara

Pina Uhse

Der große Wunsch nach einem ganz normalen Leben und der lange beschwerliche Weg dahin.
Schon über Jahre schlummerten in mir Wunsch und Idee, in einem Projekt mit Straßenkindern zu arbeiten. Aus verschiedenen Gründen immer wieder vertragt, hab ich mir irgendwann selbst den ersten Fuß in die Türe gestellt: Beim Lesen der BrasilienNachrichen wurde ich durch einen Info-Flyer aufmerksam auf das Projekt „Casa Taiguara“. Die Art und Weise, wie die Arbeit der Institution beschrieben wurde, haben mich direkt berührt.

Also versuchte ich einfach mein „Glück“ und schrieb Günther Schulz eine formlose E-Mail – kurze Zeit später bekam ich eine Rückmeldung von Valeria Passaro, der Projektkoordinatorin von Casa Taiguara, in Form einer herzlichen Einladung, einen Monat lang mit den Kindern in São Paulo zu verbringen! Manchmal muss man eben einfach etwas machen.
Das Team von Casa Taiguara möchte den Kindern ihrer Einrichtungen „Erfahrungswelten“ bieten, ihnen die Welt, das Leben erlebbar machen. Zeigen, was es alles gibt in der Welt, und den Kindern so Impulse und Anregungen geben, sich zu finden. Dinge zu entdecken, für die es sich lohnt zu leben, die es wert sind, für sie zu lernen, zu arbeiten, sich anzustrengen, um etwas zu erreichen – und so Perspektiven zu bieten, die herausführen können aus dem oftmals so verdammt schwierigen Dasein mit zerrütteten Familien, Gewalt, Drogen (Kriminalität) etc. Das Ziel bei all den Bemühungen ist ganz einfach: Die Kinder sollen soweit gestärkt werden, dass sie ein „ganz normales“ Leben führen können. Sicher, zufrieden, mit Familie, Beruf, Kindern, Hobbies – alles was so dazugehört. Ganz normal eben. Aber einfach?

 

Ankunft in São Paulo...

Empfangen wurde ich von Deborah, die als Psychologin bei Casa Taiguara arbeitet und angeboten hatte, mich für die Zeit meines Aufenthalts aufzunehmen. Deborah zeigte mir in den ersten Tagen, wie man in dem Dschungel von Buslinien und stadtteilgroßen Regionalbahnhöfen den Weg zur Casa das Expedicões findet. Und obwohl man sich dabei auf dem Stadtplan von São Paulo nur „ums Eck“ zu bewegen scheint, braucht man für einen Weg, morgens und abends, ca. 1,5 Stunden pro Strecke!

... und in der Casa das Expedicões

Montagmorgen beginnt also meine „Arbeitswoche“ als Praktikantin in der Casa das Expedicões. Erster Eindruck bei Ankunft: ein massives Metalltor an einem Haus mit vergitterten Fenstern. Nicht unbedingt einladend. Das Gebäude hat auf den ersten Blick ungefähr den Charme einer Anstalt oder eines Gefängnisses – nur der knallrosafarbene Putz, der will nicht so recht ins Bild passen. Trotzdem die Frage in meinem Kopf: „Sperrt“ man diese Kinder ein? Warum? Der erste, sicherlich auch von Unsicherheit geprägte Eindruck änderte sich schlagartig, als die Türe geöffnet wird – und im Laufe der vier Wochen ändert sich meine Wahrnehmung auch in weiteren Hinsichten. Denn je mehr ich von dem Alltag erlebe, desto mehr Verständnis für die Realitäten der Bewohner dieses knallpinken Hauses, zu dem das massive Metalltor und die vergitterten Fenster gehören, entwickle ich. Das Metalltor wird nach einiger Wartezeit von innen geöffnet. Und wieder ein überwältigend herzlicher Empfang – Ankunft in der Casa das Expedicões: Seja bemvinda!
Im Norden von São Paulo im Stadtteil Limão gelegen, bietet die Casa das Expedicões Kindern und Jugendlichen (während meines Aufenthalts 16) ein ständiges Zuhause. Dies sozusagen mit „allem was dazu gehört“ – gleichaltrigen, großen und kleinen Brüdern und Schwestern, Tanten, Onkeln, Omas (wie Jo, der Köchin) und Opas (wie Soró, dem Supervisor des Personals in der Casa), diversen Müttern und Vätern. Die Rollen und Personen wechseln je nach Situation: Mal sind die Erzieher wie große Brüder, mal wie Väter, mal übernimmt eine Schwester den Part der fehlenden Mutter oder eine Freundin den Part einer Schwester. Es wird gekocht, gelacht, geflucht, gegessen, gestritten und geschimpft bei dem Versuch, den Kindern so viel Zuhause und Normalität wie möglich zu bieten. Alle gehören dazu, zu dieser großen Familie, bestehend aus einem Team rotierender Erzieher in Tages- und Nachtschichten, Nachtwächter, Fahrer, die Koch-Crew, das Putzpersonal, dazu ein großes Team von Psychologen – und natürlich, im „inneren Zirkel“, die Hauptpersonen: die sechzehn Kinder zwischen 10 und 18 Jahren. Sie sollen in dieser „Ersatzfamilie“ lernen, mit dem Verlust ihrer Familien zu leben sowie das Erlebte, das die Kinder spürbar beeinträchtigt und in den allermeisten Fällen daran hindert, junge, gefestigte Menschen mit Träumen und Visionen zu sein, zu verarbeiten. Auch als vierwöchige Praktikantin mit begrenzten Portugiesisch-Kenntnissen wird man mit Betreten des Inneren der Casa sofort als gleichwertiger Teil in den bestehenden Familienkreis aufgenommen. Über die ganze Zeit jeden Tag aufs Neue – für mich jeden Tag ein berührendes Erlebnis.

Leben in der Casa das Expedicões

Der Alltag der Kinder besteht aus einem (recht komplizierten) Schulalltag in drei Schichten: Da nicht für alle Kinder in verschiedenen Altersstufen gleichzeitig Unterricht angeboten werden kann (zu wenige Lehrer, zu wenige Schulen), werden die Kleinsten darum morgens gegen 6 Uhr(!) zur Schule gebracht, die um 11.30 Uhr endet, während die ältesten Jugendlichen abends bis 22.30 Uhr h die Schulbank drücken müssen. Die Tatsache, dass im Rahmen der WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 riesige Demonstrationen stattfanden, die mehr Ausgaben für den Bildungssektor forderten: Beim Erleben des Schulalltags entfalten diese Forderungen plötzlich eine ganz andere Dringlichkeit! Die älteren Jugendlichen arbeiten zusätzlich (d.h. wenn sie in der Lage sind, sich einen Nebenjob zu suchen und diesem regelmäßig nachzugehen) und/oder besuchen berufsbildende Kurse. Die Zeit, sich zum Erwachsenen zu entwickeln, der auf eigenen (finanziellen) Füßen stehen muss, ist kurz: Mit der Volljährigkeit (18 Jahre) endet das Aufenthaltsrecht in den Einrichtungen der Casa Taiguara. Beim Anblick einiger schmerzt dieses Wissen: Wie soll der zerrissene, labile Jugendliche in 6, 8 oder 12 Monaten alleine durch diese Welt finden? Bis es soweit ist, werden die Kinder so intensiv wie möglich im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit- und Personal-Ressourcen betreut und begleitet.
Da ist z.B. Ketlen, 17 Jahre alt. Ketlen trifft sich morgens mit der Psychologin Deborah am Bahnhofsausgang des nächstgelegenen Regionalbahnhofs, zu dem sie alleine gelangen muss. Sie bekommt diese Unterstützung bei ihrem Gang in den Berufsalltag. Die große Nervosität vor einem Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz, gegebenenfalls Begleitung durch die Mutter oder eine Freundin etc. – soweit alles normal. Nur: dass Ketlen einen schweren Weg hinter sich hat und wohl noch für ein Jahr diese Unterstützung in Anspruch nehmen darf, bevor sie, mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Schutzraum der Casa wird verlassen müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Eine weitere Besonderheit an und für Ketlen ist, dass sie in schwierigen Situationen oft die Kontrolle über ihre Angst, ihre Nervosität – und auch ihren Körper verliert: Wenn es unbequem wird, reagiert Ketlens Körper mit epileptischen Anfällen. Ob ihr Körper sich das zum Schutz ihrer Seele ausgedacht hat? Und wie viel Kraft ist für so eine junge Frau wohl nötig, um das in den Griff zu bekommen und ein „normales“ Leben zu führen?
Oder Jennifer, 12 Jahre alt, die immer wieder aus der Casa abhaut und dann unauffindbar ist. Ihre Geschichte, durchzogen von Gewalt, Vertrauensbrüchen und Missbrauch, hat sie dazu veranlasst, ihre ganz eigenen Grenzen - und die ihres Körpers - aufzustellen. Sie ist eine starke, impulsive, wilde Persönlichkeit – und gleichzeitig ungreifbar, weil etwas mit ihrer Seele passiert ist, auf das von außen nur sehr schwer Zugriff zu bekommen ist. Die vergitterten Fenster und das große verschlossene Tor, zu dem nur die diensthabenden Erzieherinnen und Erzieher einen Schlüssel haben – sie bekommen auf einmal eine ganz andere Facette: nämlich etwas Beschützendes. Die Kinder davor zu schützen, sich in dieser Welt da draußen „zu frei“ zu bewegen. Oder um zu vermeiden, dass von draußen etwas oder jemand hineinkommt, vor dem man sie auf diese – vergitterte, abgeschlossene – Weise zu schützen versucht.

Die große Aufregung: das Wochenende

Einer der grundlegenden Ansätze der Casa Taiguara-Projekte ist es, die Kinder nicht nur weg von Straße, Drogen und unerträglichen Lebensumständen an einen sicheren Ort zu bringen. Von Beginn an wird an dem Ziel gearbeitet, auch die Eltern in den Prozess der gesellschaftlichen Wiedereingliederung mit einzubinden. Und auch deren Vergangenheit und Probleme: es ist der Versuch, die Spirale zu stoppen. Wie wichtig das ist, zeigt die Aufregung, die sich in der Casa in den Tagen vor und nach dem Wochenende ausbreitet, an dem viele Kinder „nach Hause zu Eltern oder Verwandten fahren dürfen. Vorausgesetzt, es gibt jemanden, der sie sehen möchte – denn das ist leider nicht bei allen der Fall:
Von Donnerstag mittags bis Montag oder auch Dienstag ist spürbar, wie sehr die Kinder mit dem Herzen an die Eltern (oder andere Verwandte, wenn die Eltern nicht „können“ gebunden sind. Der Wunsch nach Geborgenheit, Schutz und Angenommen sein wird dann so spürbar und lebendig und endet doch so oft in Traurigkeit, Schmerz, Abschied oder Enttäuschung bei Absagen. Der Weg in die Familien zurück ist lang und beschwerlich – aber er ist machbar! Vor kurzem sind die beiden Schwestern Larissa (17) und Paula (14) nach regelmäßigen Besuchen bei ihrer Mutter nun wieder ganz bei ihr eingezogen.

Und dann waren da noch ...

Impulse, Impulse, Impulse – und jede Menge Spaß! Ich versuchte nach meiner Rückkehr aus Brasilien einen Erfahrungsbericht über meine Erlebnisse in der Casa das Expedicões zu schreiben und merkte beim (Be-)schreiben des Erlebten, wie viel ich die Menschen in der Casa das Expedicões tatsächlich er-LEBT habe. Wie mich der Aufenthalt in all seinen Facetten berührt hat und mit Achtung und Bewunderung füllt, für all die Menschen, die Teil der Casa Taiguara sind. Die Idee, die Vision, die Hingabe, mit der für die Kinder gekämpft wird. Da gibt es sehr viel Ernstes und Nachdenkliches zu erzählen –
und darüber ist in den Hintergrund getreten, wie viel lustige, schöne und witzige Momente wir zusammen erlebt haben.
Drachensteigen ist ein großer Sport in Brasilien. Der „pädagogische Auftrag“, den wir uns für die Aktion auferlegt hatten –
jeder schreibt einen Traum auf seinen Drachen, bevor er ihn in den Himmel aufsteigen lässt – passierte nicht ganz freiwillig: „Erst einen Traum draufschreiben, vorher gibt‘s keine Schnur!“ Aber er wurde in die Tat umgesetzt. Auch wenn zwischendurch das Gefühl aufkam, dass dieses pädagogische Aufladen ein bisschen erzwungen war - am Ende war es doch berührend, was an Wünschen so in den Himmel geschickt wurde: „Cachorro (Hund) war dabei, „amor“ (Liebe), ganz konkret und wunderschön „uma casa na praia. Uma loja de pipas“ („Ein Haus am Strand. Ein Geschäft für Drachenzubehör“). Und dann noch „mãe e pai“ (Mutter und Vater). Das ist einer der Momente, wo man dann kurz gehörig aufpassen muss, dass man keine feuchten Augen vor den Kindern bekommt. Und dann ab damit in den Himmel, lasst sie fliegen, eure Träume, das können Träume nämlich lernen: fliegen.
Vielleicht ist es mir während meines kurzen Aufenthalts in der Casa das Expedicões gelungen, ein Fünkchen, einen Samenkorn oder eine schöne Erinnerung zu hinterlassen. Das wäre schön. Und falls doch nicht, dann habe ich eine Menge Funken und Erinnerungen für meine Lebensschatzkiste dort geschenkt bekommen!
An dieser Stelle möchte ich gerne allen, die vor, während und nach meinem Aufenthalt in São Paulo in der Casa Taiguara beteiligt waren, von Herzen für dieses Erlebnis danken. Und wünsche allen viel Mut, Kraft und Ausdauer für die Fortführung der „Casa Taiguara“ und Glück, Zuversicht und Vision für die Wege, die alle, die daran beteiligt sind, gehen werden.
Ich wünsche ihnen dazu auch: Geld – und das geht an Sie und Euch, die Leser dieses Textes! Da die öffentlich bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, das Projekt am Laufen zu halten, sind alle Beteiligten dringend auf finanzielle Mittel von außerhalb angewiesen. Jeder Euro hilft, das Zuhause, den Schutzraum, diesen „Nährboden fürs Leben“, den das Projekt Casa Taiguara erschaffen hat, zu erhalten. Ich bedanke mich dafür bereits im Voraus im Namen all der wunderbaren, großen und kleinen Menschen des Projekts Casa Taiguara, die ich kennenlernen durfte.

Zur Autorin: Pina Uhse (40) ist Grafikerin aus Köln. 2016 erfüllte sie sich einen lang gehegten Traum, kündigte ihren Job und reiste für drei Monate durch Brasilien. Erste Station der Reise war ein vierwöchiges Praktikum in der Casa das Expedicões.

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brasilieninitiative f r e i b u r g  e.V.
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Ausgabe 155/2017