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BR 319 – eine Straße in Amazonien

Brasilien will eine seit Jahrzehnten verfallene Straße durch den Dschungel reaktivieren. Der wirtschaftliche Nutzen ist fraglich, die Ökologen fürchten großflächige Abholzung in einem der größten noch intakten Waldgebiete des Amazonasbeckens.

 

Hinter dem Haus knattert der Generator, das Fernsehbild in der Kneipe von Joelsons Vaters ist blass und verrauscht, und in der Küche flattert ab und zu kreischend ein papageiengrüner Papagei herum. „Wir alle hier hoffen auf ein besseres Leben“, sagt Joelson, und für ihn und seine Familie beginnt sich die Hoffnung schon zu erfüllen. Denn seit sich hier, am Rio Tupana, der Fortschritt eingestellt hat, ist der Umsatz ihres Gasthauses um 80 Prozent gestiegen.
Die Holzveranda, auf der die Billardtische stehen, bietet einen schönen Panoramablick auf den Fortschritt: Die hohen Pfeiler einer Betonbrücke, die  bald drei-, vierhundert Meter weit das Tal des Rio Tupana überspannen wird. Jetzt, in der Trockenzeit, ist der träge, dunkle Fluss so schmal wie die wenigen Lastwagen lang sind, die sich vorsichtig über den vertäuten Schwimmponton tasten und dann wie erleichtert die kaum befestigte Uferböschung hochkeuchen.
350 Kilometer weiter südlich hat sich der Dschungel den Fortschritt von gestern einverleibt. An der von Asphaltresten gesprenkelten Lehmstraße liegt, vom dichten Urwald fast verschluckt, eine verfallene Tankstelle. Die Bleche und die Zähler der Zapfsäulen sind demontiert, ölgeschwärzte Rohre verschwinden im Betonboden, in dessen Rissen hüfthohes Unkraut wurzelt. Darüber ein halb herabgestürztes Dach, von dem leere Glühbirnenfassungen baumeln. „Posto Piquiá, BR 319, km 500“ steht grün auf gelb auf einem runden Zylinder für Dieselöl. {mospagebreak}
In den Siebzigern ließ die Militärregierung die Bundesstraße BR 319 durch den Busch schlagen. Von der früheren Kautschuk-Metropole Manaus aus führt sie knapp 900 Kilometer südwestlich bis nach Porto Velho, fast an der bolivianischen Grenze. Sie zu bauen war damals eine strategische Entscheidung. Das kaum besiedelte Amazonasbecken sollte erschlossen, mit dem Rest Brasiliens verbunden und dadurch gegen Annexion von außen geschützt werden; dass das passieren könnte, ist eine bis heute weit verbreitete Obsession. Wirtschaftlich freilich war die Straße überflüssig. Bis Ende der Achtziger verfiel sie nach und nach.
Dass sie nicht wieder völlig zugewachsen ist, verdankt sie dem Internet. Denn das Glasfaserkabel, das Manaus mit dem südlichen Brasilien verbindet, folgt der Trasse der BR 319, die deshalb notdürftig von der Betreibergesellschaft instand gehalten wird. Die hat, lange bevor das Kabel gelegt wurde, alle 40 Kilometer Metallgitter-Türme für Radioübertragung errichtet, die Vorgänger-Technologie zur Glasfaser, die jedoch als Reservesystem erhalten wird, weil das Kabel immer wieder  von Buschbränden versengt wird.
Im Zaun an der Basis der Türme klaffen Löcher, die, so sagen Ortsansässige, die Fußgänger geöffnet haben, die nachts Schutz vor dem Jaguar suchen. Man kann hindurchschlüpfen und die rotweiß gestrichenen Metallleitern hinaufklettern, fünfzig, siebzig, neunzig Meter hoch. Oben eröffnet sich ein Panorama  friedlicher Monotonie: Bis zum Horizont nichts als intaktes, dichtes Grün, das vom rötlichen Schnitt der Straße halbiert wird. {mospagebreak}
Nun will die Regierung die BR 319 wieder herstellen und ausbauen - ein populäres Projekt, das nirgends populärer ist als an der BR 319, vor allem an ihrem verlassenen, verfallenen Mittelstück. „Dann wird es endlich Arbeit geben - Mann, ich würde jeden Job annehmen“, sagt Marco Alves de Carmo, 25, der, das Gewehr geschultert, mit seiner erst 12jährigen Gefährtin Ingrides auf der staubigen Erdstraße unterwegs ist. Im Busch haben sie ein Feld, zusätzlich leben sie von der Jagd auf Tapir, Waldschwein und Jaguar. Marco sieht nur Vorteile: „Heute kommst du bloß zum Arzt, wenn du ein Auto anhältst, aber wann fährt hier schon mal eins“.
„Weil es eben die Wirklichkeit ist“, antwortet der Ladenbesitzer auf die Frage, wie diese unwirkliche Ansiedlung im Busch zu ihrem Namen Realidade gekommen ist. Als stünde die Zeit still: Das Sägewerk hat zugemacht, ein paar Dutzend früher angesiedelte Familien sind hängen geblieben, die Älteren trauern den alten Zeiten nach. „Früher haben wir fünf, sechs Schweine die Woche geschlachtet“, erinnert sich eine ältere Frau, „da kamen täglich acht Linienbusse und jede Menge Lastwagen durch, was meinen Sie, wie gut das damals lief mit dem Essensverkauf!“
Mit der wiederhergestellten Straße, da sind sie sich alle im Dorfladen einig, könnte man mehr Mais, mehr Reis, mehr Fleisch produzieren, weil man besseren Marktzugang hätte. Aber würden dann nicht neue Siedler herbeiströmen, würde dann nicht mehr Wald gerodet? „Die Armen müssen arbeiten, um zu essen, aber ihr Ausländer wollt es ihnen verbieten“, erregt sich einer, „und unsere Regierung macht da auch noch mit!“  
Der Ausbau der BR 319 ist Teil des 200- Milliarden-Euro-Programms, mit dem die Regierung in Brasília das Land modernisieren will.  Transportminister Alfredo Nascimento, ein früherer Bürgermeister von Manaus, möchte mit dem Projekt die Wahl zum Gouverneur des Bundesstaates Manaus gewinnen. Aber auch jenseits der paar hundert versprengten Siedler am weltabgeschiedenen Mittelstück der Straße - auf den ersten Blick ist nichts logischer als der Ausbau. Denn Manaus, eine florierende Zwei-Millionen-Stadt mit einer gewaltigen industriellen Produktion, hat zwar eine Straßenverbindung nach Venezuela, aber keine nach Süd-Brasilien.
Ein halbes Jahrhundert lang hatte Manaus nach dem jähen Ende des Kautschukbooms  dahingedämmert, bis 1967 eine Freihandelszone gegründet wurde und dann begonnen wurde, mit massiven Steuererleichterungen die Industrialisierung an diesem entlegenen Standort anzukurbeln. Ein spektakulärer Erfolg: Heute fertigen über 500 Firmen  Massenkonsumgüter für den expandierenden Binnenmarkt Brasiliens. Die Apartmentblocks und Shopping-Paläste wachsen in den Himmel, nur Rio und São Paulo haben ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Manaus durchlebt goldene Jahre, gegen die der Glanz des Kautschuk-Booms verblasst.{mospagebreak}
Aber Computer, Handys, Fernseher, Motorräder – praktisch die gesamte Jahresproduktion, die 2007 den Wert von 24,5 Milliarden Dollar hatte, verlässt die Stadt per Schiff: Den ganzen Amazonas hinunter nach Belém, und von dort fahren  Lastwagen 3000 Kilometer weit zu den Märkten in Süd-Brasilien. „Eine schwere Benachteiligung von Manaus“, wettert Handelskammer-Präsident Gaitano Pereira, ein glühender Verfechter des Ausbaus. Aber die Industrieproduktion lief schon auf Hochtouren, als es die Straße noch gab, und dennoch verfiel sie. So nötig kann sie für Manaus also nicht sein.
Im Gegenteil: Ihre Nicht-Existenz ist ein riesiger Vorteil. Im Bundesstaat Amazonas steht der Urwald noch zu 98 Prozent, weil sich Besiedlung und Beschäftigung auf Manaus konzentrieren. Außerhalb der Hauptstadt leben nur gut eine Million Menschen auf einer Fläche dreimal so groß wie Frankreich, und das halbwegs in Einklang mit der Natur. Ganz anders im erschlossenen Pará, dem östlichen Nachbarstaat: Hier kreischen die Motorsägen, hier qualmen die Holzkohlemeiler. In Pará eignen sich die so genannten Grileiros mit Bestechung und gefälschten Besitzurkunden das Staatsland  an, in Pará vertreiben ihre Pistoleiros die kleinen Siedler – und immer sind es die Straßen, von denen aus das berüchtigte Fischgräten-Muster der Zerstörung in den Urwald gezeichnet wird.
Marli Schroeder wäre vor achtzehn Jahren am liebsten sofort wieder umgekehrt, als sie,  mit ihrer ersten Tochter schwanger, hier hochkam und das Land sah, auf dem sie und ihr Mann heute leben. „Der Verkäufer sagte damals, die BR wird nächstes Jahr ausgebaut“, erinnert sich Wirson Schroeder, „und ob sie jetzt wirklich kommt? Das glaub’ ich erst, wenn sie die gelben Striche auf den Asphalt malen“. Die Schroeders verließen Süd-Brasilien, weil es dort kein Land mehr gab, heute bewirtschaften sie zusammen mit zwei verwandten Familien eine tausend Hektar große Farm mit 450 Rindern – eine Kolonie blonder, blauäugiger Brasilianer, von denen nur die Älteren noch das kehlige Deutsch der Vorväter sprechen.
Die Schroeders sind, von Süden aus gesehen, der letzte Posten der Zivilisation; nördlich von ihnen wohnt 250 Kilometer lang praktisch niemand mehr an der Straße. Auch sie hoffen inständig auf den Ausbau. „Die Hälfte des Jahres können wir die Rinder nicht vermarkten“, sagen sie und zeigen Fotos von Traktoren und Lastwagen vor, die in der Regenzeit im Schlamm stecken. Wäre die Straße asphaltiert, kämen sie in zweieinhalb Stunden zum Schlachthof nach Humaitá.
„Wir können den Nachteil unserer entlegenen Lage in der Kalkulation kaum noch ausgleichen“, sagt Wirson Schroeder und rechnet vor, was allein der Diesel für den Generator kostet. Sie denken deshalb immer wieder über Alternativen nach – Käse machen, Säfte herstellen, Touristen herumführen -, aber solange die Straße nur aus Schlamm und Schlaglöchern besteht, geht das alles nicht. Allerdings sehen sie auch die Nachteile: „Vor den Grileiros habe ich Angst“, sagt Marli Schroeder offen. Sie wären nicht die ersten, die mit Gewalt vertrieben würden, weil durch eine Straße der Wert des Landes steigt.{mospagebreak}
„Heute herrscht ein Bevölkerungsdruck, den es in den Achtzigern nicht gab“, warnt der US-Biologe Philip Fearnside vom renommierten Inpa-Forschungsinstitut in Manaus, „und denken Sie an die 21 000 Menschen, die bei Porto Velho zurzeit die beiden riesigen Wasserkraftwerke bauen – was passiert wohl, wenn die fertig sind?“ Er schätzt, dass links und rechts des besonders gefährdeten Mittelstücks, das anders als die Abschnitte näher bei Manaus und Porto Velho noch intakt ist, über fünf Millionen Hektar an artenreichem Primärwald verschwinden würden. Andere Wissenschaftler setzen den Waldverlust sogar sechsmal höher an.
Brasiliens Naturschutzbehörde Ibama hat deshalb, dem politischen Druck zum Trotz, die Umweltgenehmigung für den Ausbau des Mittelstücks noch nicht erteilt. Sie beharrt darauf, dass entlang der Straße nicht nur Naturschutzgebiete ausgewiesen, sondern  auch die Voraussetzung für deren wirksame Überwachung geschaffen werden – und zwar vor der Lizenzerteilung. Politisch ist das akzeptiert; Präsident Lula bezeichnet die BR 319 schon als „Park-Straße“. Aber wie die Überwachung aussehen soll und ob sie wirklich klappt, was dafür zusätzlich zu den Baukosten von 280 Millionen Euro zu veranschlagen wäre und ob das durch den ohnehin fraglichen Nutzen der Straße gerechtfertigt wäre, das ist unklar.
Bisher jedenfalls ist in Brasilien noch nie eine Straße durch den Dschungel gebaut worden, ohne dass sie Rodung, Verwüstung und Gewalt mit sich gebracht hätte.
Wolfgang Kunath ist Korrespodent für die
Stuttgarter Zeitung.