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Brasiliens Tschernobyl 1987

Viele Opfer des brasilianischen “Supergaus” sind noch immer ohne Entschädigung

Brasiliens verschleppter Nuklearunfall

Vor 23 Jahren, am 13. September 1987, ereignete sich in der zentralbrasilianischen Stadt Goiânia einer der schwersten Atomunfälle in der Geschichte der Nutzung der Nukleartechnik. Bis heute streiten Hunderte von Opfern um Entschädigung. Der brasilianische “Supergau” begann mit einer auf den ersten Blick harmlosen und in Brasilien alltäglichen Situation: Zwei jugendliche Müllsammler, Roberto Alves und Wagner Mota, entdeckten ein veraltetes Tonnen schweres Bestrahlungsgerät zur Behandlung von Krebskranken in einem seit zwei Jahren leerstehenden und unbewachten radiologischen Institut. Sie holten einen schweren Bleizylinder aus der medizinischen Strahlenkanone heraus, um ihn später zu Geld zu machen. Blei ist wiederverwertbares Material, das in Brasilien leicht Abnehmer findet. Was die beiden Jugendlichen nicht wussten, war, dass der Zylinder nicht nur radioaktiv belastet war, sondern auch in sich einen hochradioaktiven Kern enthielt. Roberto Alves und Wagner Mota wurden stark verstrahlt und litten wenig später an Fieber, Durchfall und Erbrechen. Sie beschlossen, den Zylinder an den Schrotthändler Devair Alves Ferreira zu verkaufen. Mit dem Verdienst wollten sie sich Medikamente zur Linderung der Beschwerden besorgen. Der Schrotthändler schließlich brach - gleichfalls aus simpler Unwissenheit heraus - den Bleimantel auf und entdeckte darin eine herrlich bläulich schimmernde kristallene Substanz: 19 Gramm des hochradioaktiven Gammastrahlers Cäsium 137. Devair Alves Ferreira holte die radioaktiven Kristalle heraus, um sie der Familie, Freunden und Bekannten zu zeigen und später irgendwie zu verwerten.Die radioaktive “Kettenreaktion” nahm ihren Lauf.
Radioaktivität schmeckt nicht, riecht nicht, ist unsichtbar und tut erst später weh. Der Gammastrahler wurde über mehrere Wohnbezirke verschleppt. Ganze Straßenzüge und Plätze wurden mit radioaktivem Caesium kontaminiert, Tausende von Menschen den tückischen Strahlen ausgesetzt. An den direkten Folgen der harten Gammastrahlen des Cäsium 137 starben kurz nach dem Freisetzen des Materials vier Menschen. Darunter befand sich die sechs Jahre alte Leide Alves Ferreira, deren hochgradig radioaktiver Leichnam in einem bleiernen Sarg mit Zementmantel begraben wurde. Bis heute sind die meisten der Opfer des brasilianischen „Tschernobyl“ weder von den Behörden anerkannt noch entschädigt worden.
Norbert Suchanek und Marcia Gomes de Oliveira sprachen für die BrasilienNachrichten mit Odesson Alves Ferreira, Präsident der Vereinigung der Cäsium 137-Opfer (AVCésio).{mospagebreak}

Verstrahlt, doch nicht entschädigt

BN: Vergangenen August bekamen die Cäsium 137-Opfer erstmals eine Audienz beim Präsidenten des Gerichtshofes des Bundesstaates Goiás, Paulo Teles. Wie viele Opfer nahmen daran teil, und was ist ihr Anliegen?
Odesson:  Es waren über 400 Betroffene anwesend. Was wir wollen, ist, dass wir offiziell als Opfer des radioaktiven Unfalls anerkannt werden und damit Renten und entsprechende medizinische Versorgung erhalten können.
BN: War das Treffen mit Paulo Teles zufriedenstellend?
Odesson: Die überwiegende Mehrheit der Anträge auf Anerkennung steckt in den Verwaltungsmühlen von Landes- und Bundesregierung. Das Gericht konnte bislang nichts daran ändern. Präsident Paulo Teles mahnte allerdings nun eine zügigere Bearbeitung an. Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden, wenn man bedenkt, dass sich die Justiz nun 23 Jahre nach dem Unfall zum ersten Mal um uns „Verstrahlte“ besorgt zeigte.
BN: Wie viele Menschen wurden 1987 insgesamt in Goiânia verstrahlt oder kamen direkt mit dem Cäsium 137 in Kontakt?
Odesson: Es ist sehr schwer, eine genaue Anzahl der Kontaminierten zu nennen. Die Nationale Kommission für Atomenergie (CNEN) hatte nach dem Unfall 12.800 Menschen untersucht, und 6.500 davon zeigten einen Grad an Verstrahlung. Doch nur 249 von ihnen bekamen zunächst eine angemessene Beachtung und Behandlung. Bis heute erfuhren insgesamt 468 Strahlenopfer staatliche Anerkennung und Hilfe. Wir von der AVCésio und die Bundesanwaltschaft von Goiás schätzen aber, dass insgesamt etwa 1.600 Personen in Kontakt mit Cäsium 137 oder damit stark radioaktiv verseuchten Gegenständen und Personen kamen. Derzeit befinden sich noch etwa 860 Opfer-Anträge in den Mühlen von Justiz und Bürokratie.
BN:Was waren und sind die gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Verseuchung? Welche Krankheiten entwickelten die Opfer?
Odesson: Es gibt keine bestimmte Strahlenkrankheit. Die Cäsium 137-Opfer entwickelten die verschiedensten Krankheiten wie Gastritis, Magengeschwüre, Depressionen und verschiedene Formen von Krebs. Auch traten - als Folge der Strahlung - so genannte Alterskrankheiten wie Osteoporose, Bluthochdruck, Sehstörungen, Vergesslichkeit und andere psychische oder Gehirnerkrankungen verfrüht auf. Vom Strahlenunfall betroffene Jugendliche entwickelten ab dem Alter von 18 bis 20 Jahren besorgniserregende Verhaltensweisen wie Drogenkonsum, Selbstmordversuche, Abbrechen der Ausbildung. Besonders schmerzlich für uns Cäsium 137-Opfer ist die Unsicherheit, der Mangel an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit. Die Mediziner geben uns keine Antwort auf die verschiedenen Symptome, unter denen wir leiden. Es fehlt die Zuversicht in die Zukunft der Kinder. Einige wurden mit Behinderungen geboren, und niemand gibt uns Klarheit über die Ursache. Sie sagen nur, das habe nichts mit der radioaktiven Kontaminierung zu tun.
BN: An den direkten Folgen der harten Gammastrahlen des Caesium 137 sind kurz nach dem Freisetzen des Materials vier Menschen gestorben. Darunter war die sechs Jahre alte Leide Alves Ferreira, deren hochgradig radioaktiver Leichnam in einem bleiernen Sarg mit Zementmantel begraben wurde. Wie viele Menschen sind bis heute in Folge des Strahlenunfalls gestorben?
Odesson: Wir kennen die genau Zahl der Todesfälle nicht. Ich weiß aber, dass 84 der kontaminierten Personen bereits gestorben sind. 20 davon hatten direkt mit dem Caesium 137 Kontakt. Doch die Behörden bringen die Todesfälle nicht mit dem Strahlenunfall in Verbindung.
BN: Wie viele Cäsium 137-Opfer haben die brasilianische Regierung und die Landesregierung von Goiás bisher anerkannt und entschädigt?
Odesson: Bisher wurde nur in zwei Fällen den Angehörigen der Verstorbenen eine Entschädigung gezahlt. Die offiziell anerkannten 468 Cäsium 137-Opfer bekommen inzwischen eine lebenslange Rente in Höhe von 1.020 bis 1.322 Reais, umgerechnet rund 400 bis 550 Euro.
BN: Bei dem Unfall waren nicht nur Zivilpersonen, sondern auch eine große Anzahl von öffentlichen Hilfskräften wie Polizisten, Sanitätern, Ärzten und Feuerwehrleuten, die sich um die Opfer und Aufräumarbeiten kümmerten, den radioaktiven Strahlen ausgesetzt. Zählen sie auch zu den anerkannten Cäsium-Opfern und wurden entschädigt?
Odesson: Es ist leider nicht möglich zu sagen, wie viele von dieser Personengruppe tatsächlich kontaminiert wurden, da die Atombehörde (CNEN) sie nicht untersuchte. Doch mehr durch politischen Druck als durch freien Willen der Behörden bekommen heute 182 von ihnen eine lebenslange Rente in Höhe von 510 Reais - rund 210 Euro.
BN: An der Säuberung der kontaminierten Straßen und Plätze sowie am Einreißen und Abtragen von mehreren extrem radioaktiv verseuchten Häusern, was über 13 Tonnen „Atomabfall“ produzierte, waren auch Hunderte von Bauarbeitern beteiligt. Wurden auch sie Opfer von Cäsium 137 wegen des Mangels an Information und entsprechender Schutzausrüstung?
Odesson: Man riss die verseuchten Gebäude genauso ab wie jedes andere Haus, ohne entsprechende Schutzvorkehrungen gegen Radioaktivität. Gleiches gilt für den Abtransport des kontaminierten Materials und des verstrahlten Bodens der Parks. Einige der betroffenen Arbeiter sind Mitglieder unserer Vereinigung AVCésio und kämpfen für Entschädigung.
BN: Vergangenen August fand in der Schweiz ein internationaler Kongress über die Folgen von Uranbergbau und Atomindustrie der Internationalen Ärzte IPPNW statt. Opfer der Nuklearbranche und Vertreter von Anti-Atomgruppen aus aller Welt wurden dazu geladen. War auch Ihre Vereinigung eingeladen, um über die Folgen des - nach Tschernobyl - schlimmsten nuklearen Unfalls zu berichten?
Odesson: Leider waren wir nicht dazu eingeladen. Für uns ist es generell sehr schwer, an diesen internationalen Veranstaltungen teilzunehmen, weil wir kein Geld für die Reisekosten haben. Aber wir hoffen, dass der Kongress in der Schweiz gute Ergebnisse gebracht hat.
BN: Vielen Dank für das Interview!

Norbert Suchanek, Rio de Janeiro